Der Haftbefehl gegen Putin erinnert an all die Haftbefehle, die nicht ausgesprochen wurden: für Verbrechen im Irak, in Syrien, Ägypten oder Palästina. Ein Völkerrecht aber, das nicht für alle gilt, ist hinfällig, glaubt Hannah El-Hitami.
„Der ehemalige Präsident Bush und der russische Präsident Vladimir Putin sind die top Kriegsverbrecher des 21. Jahrhunderts“, schreibt der Journalist Jon Schwarz in einem Artikel anlässlich des 20. Jahrestags der US-Invasion im Irak. „In einer besseren Welt würden sie sich eine Zelle in Den Haag teilen.“
Mir würden noch einige weitere Kandidat:innen für diese Top-Kriegsverbrecher-Zelle einfallen. Aber grundsätzlich finde ich den Vergleich zwischen Putin und Bush sehr treffend. Beide sind, basierend auf völlig irrsinnigen Lügen, in ein Land einmarschiert und haben von einem Tag auf den anderen das Leben von Millionen Menschen zerstört oder aus den Angeln gehoben. Beide sind aktuell nicht vor Gericht oder im Gefängnis, sondern auf freiem Fuß.
Viel aussagekräftiger ist aber, was die beiden unterscheidet. Denn während ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Mitte März die Festnahme Putins zumindest juristisch greifbar gemacht hat, wird Bush wohl niemals für das, was er im Irak angerichtet hat, zur Rechenschaft gezogen werden. Das Gleiche gilt für zahlreiche weitere Kriegsverbrecher:innen aus dem Globalen Norden. Der Haftbefehl gegen Putin bekommt dadurch einen bitteren Beigeschmack: Er erinnert an all die Haftbefehle, die nicht ausgesprochen wurden. Und auch wenn jeder Schritt gegen Straflosigkeit ein Erfolg ist, so könnte die einseitige Anwendung des Völkerrechts im Interesse Europas und der USA langfristig mehr schaden als nützen.
Blinde Flecken in Westasien und Nordafrika
Am 17. März verkündete der IStGH den Haftbefehl gegen Putin und seine Kinderrechtsbeauftrage Maria Lwowa-Belowa. Sie sollen für die zwangsweise Umsiedlung ukrainischer Kinder nach Russland verantwortlich sein, ein Kriegsverbrechen. Das bedeutet, dass diese festgenommen werden müssten, wenn sie in eines der 123 Mitgliedsländer des IStGH reisen würden (Russland, die USA und die Ukraine sind übrigens keine Mitglieder).
Nur zwei Tage später jährte sich die völkerrechtswidrige Invasion der USA in den Irak zum zwanzigsten Mal. Am 20. März 2003 begannen die USA und Großbritannien einen Krieg, der sich auf gefälschte Beweise für angebliche Massenvernichtungswaffen stützte und etwa eine Million Iraker:innen das Leben kostete. Während der folgenden achtjährigen Besatzung zerstörten die USA sämtliche wirtschaftliche und politische Strukturen des Landes, sodass der Irak bis heute ein politisch instabiles Ödland ist.
Es ist meist nicht sinnvoll, Missstände in einem Teil der Welt mit denen in einem anderen zu vergleichen. Das nennt sich Whataboutism und bezeichnet den Versuch, ein Problem zu relativieren, indem man darauf hinweist, dass es anderswo auch schlimm ist. Doch wenn es um internationales Recht geht, müssen wir uns fragen: Warum werden die einen angeklagt und die anderen nicht? Ich glaube, dass diese Frage entscheidend ist. Denn wenn der Eindruck entsteht, dass das Völkerrecht nicht für alle gilt, sondern politischem Kalkül unterliegt, dann wird es mit der Zeit völlig irrelevant werden. Dann verlieren wir ein wichtiges Instrument im weltweiten Kampf gegen die Straflosigkeit.
Der Vergleich von Bush und Putin ist nur ein Beispiel dafür. Schon lange kritisieren afrikanische Staaten die unverhältnismäßige Fokussierung des IStGH auf die Verbrechen ihres Kontinents. Bisher waren alle Verurteilten des Gerichtshofs afrikanischer Herkunft. Und auch mit Blick auf Westasien und Nordafrika zeigen sich einige blinde Flecken in der Exekution des Völkerrechts: Warum wurde Putin nicht schon wegen Luftangriffen auf Krankenhäuser oder Schulen in Syrien angeklagt? Wann werden israelische Politiker:innen endlich wegen der völkerrechtswidrigen Besatzung in Palästina zur Rechenschaft gezogen? Und wann EU-Regierungen für die Pushbacks an ihren Außengrenzen? Warum wird nicht gegen den ägyptischen Präsident Abdel Fattah al-Sisi ermittelt, wegen des Massakers an den Anhänger:innen der Muslimbruderschaft vor zehn Jahren? Etwa weil er ein wichtiger Verbündeter der EU für den Austausch von Gas und Waffen ist? Wird Erdogans Angriff auf Kurdistan völkerrechtlich ignoriert, weil er als so wichtig für die Regulierung der Migration gilt?
Recht ohne Gerechtigkeit
Die Liste ist lang und es ist schwer zu ignorieren, dass das Völkerrecht vor allem in Fällen eingesetzt wird, die dem Globalen Norden nützen oder ihn zumindest diplomatisch nichts kosten. Ja, Deutschland hat als erster Staat die Verbrechen des Assad-Regimes und seiner Verbündeten vor Gericht gebracht, Ermittlungen angefangen und Prozesse abgeschlossen. Aber auch hier stand wenig auf dem Spiel. Vom Assad-Regime hat Deutschland politisch nichts zu befürchten und wirtschaftlich nichts zu gewinnen.
Viele haben kritisiert, dass „der Westen“ eine stärkere und glaubwürdigere Position in der Verfolgung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Genoziden in allen Teilen der Welt hätte, wenn er auch seine eigenen Verbrecher:innen zur Rechenschaft ziehen würde. Ich würde weiter gehen und sagen: solange er das Recht nicht bei sich selbst anwendet, sondern nur bei politischen Gegner:innen, hat das überhaupt nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Man stelle sich vor, in Deutschland würden nur Straftäter:innen verfolgt werden, die dem Staat nicht nützen oder der Gesellschaft nicht passen. Dann wäre das Recht kein Recht, sondern ein Instrument der Herrschenden zur Unterdrückung unliebsamer Opposition.
Natürlich darf man nicht vergessen, dass die Aufklärung einer Straftat für Opfer und Überlebende immer einen hohen Wert hat. Es ist wichtig, Verbrechen für die Geschichte zu dokumentieren, Überlebenden zuzuhören und ihren Schmerz anzuerkennen. Das macht nicht nur der IStGH. Mithilfe des Weltrechtsprinzips können Deutschland und andere Staaten Völkerrechtsverbrechen anklagen, auch wenn sie keinen Bezug zum eigenen Land haben. Und es zeichnet sich ab, dass dieses Prinzip in Zukunft immer öfter zum Einsatz kommen wird; dass Recht in der Aushandlung internationaler Konflikte eine immer größere Rolle spielen könnte. Das ist eine Chance für eine gerechtere Weltordnung. Doch sie darf nicht verspielt werden, indem eine tragende Säule des Rechts, nämlich die gleiche Gültigkeit für alle, von Anfang an ausgehöhlt wird.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.