Bis heute sind Uni-Absolvent:innen im Libanon und Jordanien mit ihren ehemaligen sowjetischen Studienkolleg:innen vernetzt. Humangeograph Ala Al-Hamarneh im Interview über diese besonderen Wissensbeziehungen vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs.
Wer produziert Wissen und wie? Was sind die sozialpolitischen Rahmenbedingungen für Wissensbildung? Welche Zugänge gibt es zu Wissen? Wie wird Wissen vielleicht sogar instrumentalisiert? In dem institutionenübergreifenden Projekt „Relations in the Ideoscape: Middle Eastern Students in the Eastern Bloc (1950's to 1991)“ stellt ein Team von Forscher:innen unter der Leitung von Prof. Birgit Schäbler, Direktorin des Orient Institut-Beirut (OIB), genau diese Fragen und ergründet dabei die unterschiedlichen Aspekte der Beziehung zwischen der ehemaligen Sowjetunion und der WANA-Region. Dr. Ala Al-Hamarneh koordiniert die Forschungen zu jordanischen und libanesischen Alumni-Netzwerken.
Dr. Ala Al-Hamarneh ist ein promovierter Humangeograph und Hochschullehrer. Er forscht und publiziert zu Themenfeldern Migration, Integration, Tourismus, Stadtentwicklung und Kulturproduktion vor allem in den arabischen Ländern, Deutschland und der Ukraine. Der gebürtige arabische Jordanier kam 1995 nach Deutschland. Zurzeit ist er ein assoziierter Mitarbeiter am Zentrum für Forschung zur Arabischen Welt in Mainz.
Hallo Herr Al-Hamarneh, können Sie kurz beschreiben, was die Intention dieses groß aufgestellten Projektes war?
Es gab zwei ausschlaggebende Punkte dieses Forschungsprojekt aufzustellen. Allem voran sollte es um die Bedeutung von Wissensbeziehungen gehen. Das Wissen dazu ist am Orient Institut Beirut situiert, unter der Direktion von Frau Prof. Dr. Birgit Schäbler, die mehrere Projekte zum Thema Beziehungen initiierte und heute noch leitet. Ausschlaggebend war außerdem die Tatsache, dass die Archive in Osteuropa zugänglich gemacht worden sind. So gab es endlich Zugang zu Material, das bis dato unter Verschluss stand. Frau Schäbler wollte die Wissensbeziehungen zwischen zwei Regionen erforschen. Namentlich die sozialistischen Länder, welche unter dem Warschauer Pakt zusammenkamen und die arabische Welt, bzw. die WANA-Region. Der wissenschaftliche Ansatz war ein sozial-historischer zu Beziehungen, konkreter zu Wissensbeziehungen. Wie wird Wissen im Kontext dieser beiden Regionen definiert? Wie wird Wissen durch Institute wie Universitäten, aber auch durch individuelle Lebenserfahrungen geformt? Welchen Einfluss haben hier persönliche Kontakte, wie Freundschaften, Liebe, Kultur oder Lebensweisen? Wie entwickelten und veränderten sich die Wissensbeziehungen? Wie sehen sie heute aus? Dies war das Projekt, Mobilitäten von Menschen zu charakterisieren, aber vor Allem die Mobilität von Wissen und alles, was daraus resultiert.
Welcher Forschungsfrage sind Sie in diesem Projekt nachgegangen?
Meine eigene Forschung hat dabei Alumni-Netzwerke zwischen Jordanien bzw. dem Libanon und der Sowjetunion behandelt, also genau genommen Alumnivereinigungen. Sie bestehen aus Absolvent:innen, welche in der Sowjetunion studiert haben und auch noch heute aktiv sind. Dabei habe ich mich auf die wirklich aktiven Mitglieder bzw. Vereinigungen konzentriert. In Jordanien beispielsweise wird von mehr als 16.000 Absolvent:innen ausgegangen, ähnlich im Libanon. In diesen Vereinigungen sind nur noch ein Bruchteil aktiv in der Aufrechterhaltung der Beziehungen zwischen Jordanien und Russland. Die Alumnivereinigung in Jordanien ist der Ibn-Sina Klub, bestehend aus Absolvent:innen der russischen und sowjetischen Hochschulen. Hier sind die Beziehungen unterschiedlich. Die ursprünglichen Beziehungen waren sicher Wissensbeziehungen, aber mit der Zeit entwickelten sich verschiedene andere Beziehungen. Kulturelle über die russische Sprache, aber auch Wirtschaftsbeziehungen — viele der Ingenieur:innen oder Mediziner:innen haben später Firmen in Jordanien oder in Russland etabliert. Darüber hinaus gibt es auch ethnische Beziehungen. In Jordanien gibt es ethnische Armenier:innen, Tscherkess:innen, Ingusch:innen und Tschetschen:innen, welche Beziehungen mit ihren Ursprungsländern haben. So waren Armenien, Inguschetien und Tschetschenien Teil der Region der ehemaligen Sowjetunion. Es gibt auch viele binationale Familien, in denen in den meisten Fällen die Frau aus der Sowjetunion stammt und die Kinder beide Pässe besitzen, den russischen und den jordanischen. Diese Beziehungen kommen häufig vor.
Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen? Welche Besonderheiten sind aufgefallen?
In meiner Forschung habe ich nun also näher betrachtet, wie sich diese Beziehungen entwickelt, etabliert oder auch verändert haben. Wer ist noch aktiv, welche Beziehungen sind noch aktiv und warum? Dabei habe ich festgestellt, dass es zwei Gruppen von Absolvent:innen in den Alumnivereinigungen gibt. Menschen die russophil sind, das heißt eine große Verbundenheit mit der russischen Sprache und Kultur empfinden. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass in der gesamten Sowjetunion von Taschkent bis Baku und Kiew, Odessa, Moskau, Leningrad, heute St. Petersburg, zu 95 Prozent Russisch die Hochschulsprache war. Das heißt, dass die russische Sprache eine zentrale Rolle spielt, genauso wie die russische Kultur. Die zweite Gruppe sind die politisch motivierten Absolvent:innen. Diese haben auch gute Beziehungen zur russischen Politik, bis heute noch. Dabei sind die Vereinigungen an sich nicht politisch. Sie laufen in Jordanien und im Libanon unter dem Gesetz für Nicht-Regierungsorganisationen und fördern eher kulturelle und soziale Aktivitäten. Das heißt, sie feiern bestimmte Tage wie das Ende des Zweiten Weltkrieges, den internationalen Tag der Frauen am 8. März und sie bieten verschiedene Kurse für Russisch oder kulturelle Programme mit Kinotagen oder Ähnlichem an. Die Vereine sind so organisiert, dass auch innerhalb der Organisation die gesamte ehemalige Sowjetunion Platz findet, also auch Absolvent:innen aus Yerevan, Kharkov oder Taschkent. Insgesamt gibt es jeweils in Jordanien und im Libanon nur eine Vereinigung, beide sind allerdings sehr aktiv in der Organisation von gemeinsamen Veranstaltungen, welche oft in Kooperation mit russischen Institutionen vor Ort durchgeführt werden.
Wenn wir über Wissen nachdenken und den Zugang dazu: Wer hatte die Möglichkeit in der ehemaligen Sowjetunion zu studieren?
Es gab verschiedene Möglichkeiten. Entweder durch linke politische Parteien, also marxistische Parteien, welche Stipendien an die Sowjetunion ausgegeben haben für Mitglieder oder Sympathisant:innen in Jordanien und dem Libanon oder durch die Regierungsebene. Es gab vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren binationale Beziehungen zwischen den Regierungen Jordaniens und der Sowjetunion, indem die Sowjetunion ein bestimmtes Kontingent an Stipendien an die jordanische Regierung für Interessierte vergeben hat. Im Libanon gab es keine Regierungsstipendien. Die PLO (Palestinian Liberation Organisation) bekam auch Stipendien für Palästinenser:innen und Sympathisant:innen in den beiden Ländern. Die dritte Möglichkeit war über Organisationen wie Gewerkschaften, Frauenvereinigungen oder früher weit verbreitete Freundschaftsassoziationen. Es gab aber auch sogenannte ethnische Stipendien. Vergeben wurden sie durch armenische Gemeinschaften in Jordanien und auch im Libanon, tscherkessische und tschetschenische Gemeinschaften, welche durch ihre Organisationen, Clubs oder Schulen als auch persönlichen Beziehungen Zugriff auf Stipendienkontingente hatten. Natürlich gab es auch Personen, die durch persönliche Kontakte Stipendien erhalten haben — diese sind aber eher in der Minderheit. Das waren die fünf Wege, wie es möglich war in der Sowjetunion zu studieren.
Wie ist die Beziehung der Menschen aus den zwei Regionen vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine?
Dieser Krieg brachte, wie überall, bestimmte Herausforderungen mit sich. Viele der Absolvent:innen haben unter anderem in der heutigen Ukraine studiert, also sind die Gegebenheiten vor Ort bekannt. Allerdings, wie gesagt, beschäftigen sich die Vereine nicht mit Politik. Obwohl viele der aktiven Mitglieder der Vereinigungen unterschiedlichen politischen Parteien angehören und unterschiedliche politische Ansichten haben, vor allem aus dem demokratischen und linken Spektrum, sind die Alumniorganisationen offensiv unpolitisch. Nichtsdestotrotz sympathisieren sie vor allem mit Russland, aufgrund der persönlichen Verbindungen. Die ukrainische Botschaft beispielsweise hat keinen Zugang zu diesem Freundschaftsverein in Jordanien. Dabei spielt die Sprache eine entscheidende Rolle. Die ukrainische Botschaft besteht auf eine Kommunikation auf Ukrainisch und die absolute Mehrheit der Absolvent:innen sprechen kein Ukrainisch, sondern Russisch. Hier ist auch zu sagen, dass es um Sympathie mit der russischen Kultur geht und nicht mit der Politik. Beispielsweise gibt es große Schriftsteller auch aus der Ukraine, welche auf Russisch geschrieben haben. Berühmte Filme ukrainischer Regisseur:innen waren auch auf Russisch. So ist dieser Sprachkonflikt ein zentrales Problem der Kommunikation. Aber auch der politische Konflikt ist ein Thema. In vielen demokratischen oder linken Organisationen im Libanon oder Jordanien gibt es eine vorsichtige Haltung gegenüber der NATO. Hintergrund ist der palästinensisch-israelische Konflikt, die militärische Einmischung in Libyen, die Invasion im Irak ohne UN-Mandat. Das heißt, viele dieser Organisationen sind sehr vorsichtig, wenn es um amerikanische Politik geht und neigen auch dazu, der anderen Seite zuzuhören, also in diesem Fall Russland. Diese Länder des globalen Südens misstrauen der NATO auch, weil die NATO sich in weitere Konflikte eingemischt hat, wie damals in Südafrika gegen die Apartheid, als der Westen intensiv mit dem Apartheidregime zusammenarbeitete, aber auch der Vietnamkrieg oder Kuba. Dieses Misstrauen spielt eine zentrale Rolle in der Positionierung der Vereine. Dennoch sind alle Vereinigungen apolitisch und äußern sich nicht zu politischen Konflikten.