Der Sammelband „Algérie : L’Avenir en jeu - Essai sur les perspectives d’un pays en suspense“ beschäftigt sich mit den Geschehnissen der Protestbewegung Hirak im Jahr 2019 und deren Perspektiven für die Zukunft der algerischen Gesellschaft.
Der Hirak
Hirak bedeutet auf Deutsch übersetzt ganz einfach Bewegung. Auslöser dieser landesweiten Bewegung war die Ankündigung des Autokraten Abdelaziz Bouteflika am 16. Februar 2019, zum fünften Mal für das Präsidentenamt zu kandidieren. Die Bewegung wuchs schnell zu einer landesweiten Mobilisierung, die tiefgreifende politische Reformen und ein Ende der Herrschaft der alten politischen Eliten forderte. Angesichts der Proteste drängte das algerische Militär Bouteflika zum Rücktritt. Der Hirak setzte sich für Demokratie, mehr Transparenz und die Bekämpfung von Korruption ein. Trotz des Rücktritts von Bouteflika wurde die Bewegung fortgeführt, um tiefere strukturelle Reformen im politischen System zu verlangen. Die Proteste waren weitgehend friedlich, aber das Regime nahm mehr als 300 Menschen fest.
„Die Straßen wurden zum Schweigen gebracht, aber es gibt keine Krise, die Algerien nicht erlebt und überkommen hätte. Das Ergebnis ist, dass der Wille nach Wandel bestehen bleibt und die Resilienz zu einer Lebensart wurde.“ So beschreibt die Politikwissenschaftlerin Louisa Dris-Aït Hamadouche das vorherrschende Gefühl in der algerischen Gesellschaft nach der Niederschlagung der Protestbewegung Hirak durch das Militär im Jahr 2019. Der Sammelband „Algérie : L’Avenvir en jeu ‑ Essai sur les perspectives d’un pays en suspense“ (dt.: Algerien: Die Zukunft steht auf dem Spiel ‑ Essay über Perspektiven eines Landes im Schwebezustand) handelt von dieser Resilienz. „Unser Ziel ist es, algerische Perspektiven auf den post-Hirak zu analysieren“, fasst der Herausgeber Raouf Farrah die Absicht des Buches zusammen, das 2023 beim algerischen Koukou Verlag in französischer Sprache erschien. In vier Teilen widmen sich algerische Wissenschaftler:innen Verfassung und Demokratie, Extraktivismus und Rentenwirtschaft, gesellschaftlicher Vielfalt und Außenpolitik.
„Für einen demokratisch verfassten Staat kämpfen“
Im ersten Teil des Sammelbands, der sich mit der Verfassung Algeriens, der Rolle des Militärs und den Herausforderungen einer demokratischen Entwicklung auseinandersetzt, identifiziert Verfassungsrechtler Massensen Cherbi die politische Macht des Militärs als Haupthindernis für demokratische Reformen. Den Slogan des Hirak, „Einen zivilen Staat ohne Militär“, beschreibt er als Ausdruck eines Bewusstwerdungsprozess dieser Problematik in der algerischen Gesellschaft. Das folgende Kapitel von Adel Oubarah und Akram Kharief analysiert vergangene Versuche des Militärs, selbst seine internen Strukturen sowie seine Rolle im Staat zu reformieren. Die Autoren argumentieren, dass dem Militär ausschließlich eine sicherheitsbezogene Rolle zukommen sollte.
Das Militärregime seinerseits versuche die friedlichen Proteste des Hirak als Terrorismus zu diskreditieren, wie Mouloud Boumghar in seinem Kapitel beschreibt. Dazu vergleiche das Regime den Hirak mit der Welle islamischen Terrors in den 90er-Jahren, der 130.000 Menschen zum Opfer fielen. Der Autor appelliert vor diesem Hintergrund für eine Aufarbeitung der Vergangenheit, damit die Bevölkerung irreführende Narrative dekonstruieren und somit eine solide Basis für Demokratisierung schaffen kann. Das Regime nahm laut Boumghar auch über 300 Hirak-Aktivist:innen fest. Der Aktivist und Anwalt Zakaria Benlahrech erzählt im Interview mit Zouhour Oumara über seinen Einsatz für die Freilassung dieser politischen Gefangenen im Rahmen des Collectif pour la défense des détenus d’opinion (dt.: Kollektiv für die Freilassung Meinungsgefangener).
„Abwendung von den wirtschaftlichen Logiken des Extraktivismus und der Rentenwirtschaft“
Der zweite Teil von „Algérie : L’Avenir en jeu“ konzentriert sich auf das Wirtschaftssystem Algeriens. Von den Erdöl- und Gasvorkommen würden nur algerische Eliten und multinationale Unternehmen profitieren, nicht aber die Bevölkerung. Von diesem Umstand geht Hamza Hamouchenes Kritik an neo-kolonialen Wirtschaftsstrukturen aus, die sich an der Bereicherung seitens der Unternehmen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich an den algerischen Ressourcen äußert. Er stellt zudem heraus, dass diese neo-kolonialen Rohstoffausbeutungslogiken die Bevölkerung zunehmend
marginalisieren, während der algerische Staat die sozio-ökonomische und politische Unterdrückung verstärkt. Hicham Rouibah betont in seinem Beitrag: „[Die Wirtschaft] kann nicht prosperieren, ohne dass die staatlichen Institutionen das gemeinsame öffentliche Interesse verfolgen.“ Er fordert, dass die algerische Wirtschaft, die hauptsächlich auf Renten aus Rohstoffabbau basiere, mit demokratischen Prinzipien verzahnt werden müsse, um einen wirtschaftlichen Aufschwung zu erzielen.
Neben einem gerechten wirtschaftlichen Umgang mit dem algerischen Rohstoffreichtum ist auch die Frage nach alternativen Wirtschafts- und Energieversorgungsmodellen zentral. Den Stand der Energiewende in Algerien diskutiert Selma Kasmi mit Hamza Hamouchene und Tewfik Hasni. Sie stellen fest, dass Algerien mit der Konzeptionalisierung und Umsetzung einer nachhaltigen Energiewende in Verzug ist. Zudem kritisieren sie die Rolle Europas, das unter dem Vorwand des Klimaschutzes Solarparks in Algerien errichten will, um die eigene Energieversorgung zu sichern.
Die Energiewende ist ein Aspekt, den Karim Tejani diskutiert, insbesondere die Bedeutung von Nachhaltigkeit für und in Algerien. Er argumentiert, dass eine nachhaltige Entwicklung sehr wichtig für den nordafrikanischen Staat ist, der zu den vom Klimawandel am meisten betroffenen Regionen zählt. Allerdings stehe die Bevölkerung dem Konzept der Nachhaltigkeit kritisch gegenüber, da es als vom Globalen Norden aufoktroyiert wahrgenommen werde.
Aus dem zweiten Teil des Buches geht überdies hervor, dass ein wichtiger Aspekt eines nachhaltigen Wirtschaftssystems die Lebensmittelsicherheit ist. Mit diesem Thema und der Frage nach der Zukunft der algerischen Landschaft setzt sich Asma Machakra auseinander. Im Anbetracht der zunehmenden Versorgungsunsicherheit im Lebensmittelsektor aufgrund des Klimawandels plädiert die Autorin in ihrem Beitrag für ein neues Landwirtschaftsmodell, das sich statt an Techniken der intensiven Landwirtschaft an traditionellen, familienbasierten Herangehensweisen orientiert.
„Verteidigung von Pluralismus und Zusammenleben“
Der dritte Teil des Sammelbandes nimmt gesellschaftliche Fragen in den Fokus, wie die Rolle der Frau und den Umgang mit Migration.
Wiame Awres beleuchtet die Problematik von Femiziden in Algerien. 55 Fälle waren es allein in 2021 – die Dunkelziffer ist unbekannt. Die Autorin arbeitet Vorschläge für den besseren Schutz von Frauen in Algerien aus, unter anderem die Reform des Familiengesetzes, das für Frauen einen männlichen Vormund vorsieht. Es sei diese Unmündigkeit, die vor dem Gesetz der rechtlichen Selbstverteidigung der Frauen im Weg stehe. Auch Zohra Azaidé Zemirlis kritisiert die Familiengesetzgebung, die auf islamischen Prinzipien beruht, und argumentiert, dass das Grundproblem in der Erklärung des Islams als Staatsreligion liegt. Dies stehe auch der religiösen Vielfalt des Landes mit einer historischen Präsenz von z.B. Christ:innen und Jüdinnen und Juden entgegen. Im letzten Kapitel dieses Teils widmet sich Farida Souiah dem rechtlichen Status von Migrant:innen. Sie plädiert für eine Reform des Ausländerrechts, welches aktuell in Widerspruch zur algerischen Verfassung und internationalen Abkommen stehe, und fordert eine Reform unabhängig von den Interessen der europäischen Abschottungspolitik.
„Die Rolle Algeriens in Afrika neu denken“
Algerien ist das größte Land in Afrika und grenzt direkt an die Krisenregion Sahel an. Somit stellt sich im finalen Teil von „Algérie : L’Avenir en jeu“ die Frage, wie Algerien diese geographischen Gegebenheiten in seiner Außenpolitik berücksichtigt. Samia Chabouni stellt einen Aktionsplan für die Reform der algerischen Außenpolitik vor,
die sich stärker auf den afrikanischen Kontinent fokussieren sollte. Raouf Farrah und Djallil Lounnas schließen daran an und plädieren für eine Revision der Politik im Sahel, die bisher hauptsächlich auf Sicherheitsfragen fokussiert ist, weil viele Konflikte und terroristische Gruppen die Region prägen. Die Autoren sehen das Potenzial von wirtschaftlichen Strukturen, die allerdings mit den Interessen der örtlichen Bevölkerung in Einklang gebracht werden müssten. Auch Adel Oubarah beschäftigt sich mit der Sahel Region und fordert eine stärkere regionale Kooperation im Sicherheitssektor durch die Sicherheitsinitiative Cémoc. Durch die Neugestaltung der Initiative als Gemeinschaftsprojekt mit den Nachbarstaaten im Sahel könne mehr Stabilität und Sicherheit in der von Terrorismus erschütterten Region entstehen.
Letztendlich ist das Werk ein Mix, bunt wie das Buchcover selbst, der unterschiedliche Blickwinkel auf algerische gesellschaftliche Diskussionen nach dem Hirak zusammenbringt. Es mag für Interessierte, die bisher nur wenig Berührungspunkte mit Algerien hatten, eine Herausforderung sein, den Debatten des Sammelbandes zu folgen, denn die Autor:innen verlangen ein gewisses Maß an Vorwissen. Das Faszinierende an „Algérie : L’Avenir en jeu“ ist jedoch, dass es ein Ausflug in einen internen algerischen Ideenaustausch ist.
Damit stellt es keine Außenperspektive dar, die es so oft in wissenschaftlicher Literatur gibt. Es ist beeindruckend, die Inspiration der Autor:innen zu beim Lesen zu spüren, die nach dem desillusionierenden Ende des Hirak weiterhin die Kraft und die Motivation aufbringen, an Zukunftsmodellen im Geist dieser Sternstunde des algerischen Aufbruchs zu feilen. „Es ist von grundlegender Bedeutung, weiterhin über eine andere Zukunft nachzudenken und friedlich zu handeln, indem man neue Wege öffnet, um diese lange Suche zu verwirklichen“, resümiert der Herausgeber Raouf Farrah im Epilog.