13.11.2024
Eine Reise in die Erinnerungen – Algerien im Umbruch
Meer, Berge, Felder; Erinenrungen an die Kabylei. Bild: Claire DT/KI (Midjourney)
Meer, Berge, Felder; Erinenrungen an die Kabylei. Bild: Claire DT/KI (Midjourney)

Redouane Belakhdar wuchs während des algerischen Unabhängigkeitskrieges auf. Wir trafen den heute 73-jährigen Historiker auf ein Interview und er nahm uns mit in seine Erinnerungen an eine ungewisse Zeit. 

Dieser Artikel ist Teil unseres Algerien-Dossiers anlässlich des 70. Jahrestag seit Beginn des Unabhängigkeitskrieges in Algerien. Alle Artikel des Dossiers sind hier zu lesen.

Hallo Redouane, wie wird sich in deiner Familie an die koloniale Präsenz Frankreichs erinnert?

Mein Vater liebte die Landschaft rund um die Küstenstadt Annaba im Osten Algeriens. Er liebte die Berge, das Meer und die fruchtbaren Ebenen der Region, die unter anderem unsere Familie landwirtschaftlich nutzte. Sein Großvater besaß einige Hektar Ackerland in der Kabylei, welches die Franzosen später enteigneten. 

Als wir mit meiner Frau und meinem Cousin in den 2000-er Jahren durch diese Landschaften fuhren, kritisierte mein Cousin die im unabhängigen Algerien vernachlässigte Landwirtschaft und beschrieb die frühere Schönheit der französischen Bauernhöfe. Mein Vater reagierte darauf mit diesem Satz: „min sitta ila sitta (dt. Von sechs Uhr, bis sechs Uhr.)“. Denn bereits als Achtjähriger arbeitete er mit seinem Vater und Großvater auf dem Land. Dabei bewirtschafteten sie es nicht in ihrem Sinne, sondern für den kolonialen Export von Lebensmitteln, Gemüse und Obst nach Frankreich. Von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends arbeiteten sie für den Wohlstand der Kolonialherren. Das Paradies unserer Heimat war also nicht uns, sondern den Franzosen vorenthalten. Das spricht für die Brutalität des kolonialen Systems, das auf der Herrschaft der französischen Minderheit über die Mehrheit von uns Algrier:innen beruhte. Wo es den Kolonialismus gibt, gibt es immer Ungerechtigkeit.

Welche Berührungspunkte hattest du während deiner Kindheit mit dem kolonialen Herrschaftsapparat in Algerien?

Als ich 1957 in die Schule kam, war ich schockiert: Es war eine große Schule, die in zwei Hälften geteilt war. Die beiden Haupteingänge lagen nur 50 Meter voneinander entfernt, der eine Eingang war für die Araber und der andere für die französischen Schüler:innen. Im Gegensatz zu den französischen Klassen, in denen Mädchen und Jungen gemischt unterrichtet wurden, bestand meine Klasse aus 50 algerischen Jungen, die alle einen schwarzen Kittel tragen mussten. 

Meine Eltern machten mir schon früh klar, dass die Schule eine Chance ist, die weder sie noch ihre Eltern und Großeltern hatten. Ich sollte fleißig lernen und alles akzeptieren, was die Lehrer von mir verlangten. Mein Lehrer war ein monumentaler, großer Mann. Er war weiß, blond, blauäugig und nicht immer freundlich. Doch trotz meiner Angst vor ihm war ich gehorsam und fleißig. Denn wir algerischen Schüler mussten von Anfang an unter Beweis stellen, dass wir für eine weiterführende Schule geeignet sind. Ansonsten wurden wir vom Unterricht ausgeschlossen, um arbeiten zu gehen.

Wie hast du diese institutionalisierte Gewalt des kolonialen Systems erfahren?

Gewalt in einem Kolonialsystem, ist immer asymmetrisch. Sie bedeutet also permanente Ungerechtigkeit. Auch ich habe diese Gewalt als ungerecht empfunden: Wenn beispielsweise einer meiner Mitschüler eine schlechte Note bekam, wurde er damit bestraft ein Paar Eselsohren aus Papier aufzusetzen. Als ob das nicht genug wäre, hatte ich die schreckliche Pflicht, meinen Schulkameraden durch die Klassen zu führen, während ihn alle auslachten. Als ich meinen Eltern zu Hause davon erzählte, zu was wir in der Schule genötigt wurden, sagten sie mir: „ma tensach, had el-tfoul khouk“. (dt. Vergiss es nicht, dieser Junge ist dein Bruder.)“ Es war also wichtig, dem Lehrer zu gehorchen. Doch noch bedeutsamer war es, die Verbundenheit untereinander niemals zu vergessen. Das ist die innere Solidarität unter den Algerier:innen.

Welche Rolle spielten verschiedene Formen des Widerstands in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung?

Die algerische Zivilbevölkerung durfte zwar arbeiten, jedoch keine politische Betätigung ausüben, was Streiks nahezu unmöglich machte. In den Jahren nach den blutigen Ereignissen vom 8. Mai 1945 im Osten Algeriens setzten nationalistische Algerier:innen nun auf militärischen Widerstand und gründeten im Oktober 1954 die FLN, die algerische Befreiungsfront. 

Die FLN wollte aber auch international auf die Algerienfrage aufmerksam machen. Im Januar 1957, während der Schlacht von Algier, organisierten sie einen Generalstreik. Auch bei der ersten UN-Debatte zur algerischen Frage, die Frankreich als „innere Angelegenheit“ abzutun versuchte, setzten sich die Verbündeten der FLN für ein freies Algerien ein und verdeutlichten, dass das Land nicht zu Frankreich gehört. 

Inwiefern nahm dein Umfeld am Befreiungskampf teil? 

Mein Vater zum Beispiel war ein organisiertes und aktives Mitglied des politischen Flügels der FLN in Annaba. Er unterstützte die Stadtguerilla, indem er Waffen versteckte und Widerstandskämpfer:innen in seinem großen Café im Stadtzentrum von Annaba Unterschlupf bot, nachdem sie Anschläge auf französische Polizisten oder Geschäfte verübt hatten. In unserer Familie war das bekannt, mein Vater wollte aber nicht darüber sprechen, schließlich war es sehr gefährlich. Ein enger Cousin von mir ging mit 17 Jahren in die Berge, wo die meisten Kämpfe stattfanden. Wenige Monate später wurde er getötet. Sein Bild hängt bis heute über unserem Klavier, für uns ist er ein Märtyrer. Aber nicht alle Algerier:innen standen auf der Seite der Befreiungsbewegung. So zum Beispiel die Hilfstruppen Frankreichs, die sogenannten Harkis. Die Gründe dafür waren vielfältig: einige waren nur skeptisch, andere kollaborierten mit dem Kolonialsystem, auch in unserem Bekanntenkreis. 

Spielte mediale Kritik aus Frankreich in der algerischen Befreiungsbewegung eine Rolle?

Die französische Presse, wie Le Monde, L'Humanité und La Croix, versuchte objektiv über die Ereignisse zu berichten. Ich spreche hier bewusst von „Ereignissen“: der Befreiungskrieg wurde in Frankreich damals nie als Krieg, sondern immer nur als „Ereignisse in Nordafrika“ bezeichnet. So veröffentlichten beispielsweise 121 französische Intellektuelle 1960 einen offenen Brief gegen die Folterpraktiken der französischen Armee in Algerien, mit der Botschaft: „Nicht in unserem Namen". Es gab also Journalist:innen, Autor:innen  und Kulturschaffende in Frankreich, die durch ihre mediale Position im Algerienkrieg ihre Sympathie mit der algerischen Causa bekundeten. Ihre Stimmen bedeuteten für die politischen Verantwortlichen Algeriens die Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz zwischen Frankreich und einem souveränen algerischen Staat nach der Unabhängigkeit.

1962 kam es dann zu der Unabhängigkeit Algeriens. Dem voraus gingen diverse Verhandlungen. Bereits 1961 diskutierte die französische Regierung mit der FLN in der Schweiz über die Unabhängigkeit. Frankreich wollte die Sahara jedoch als Territorium behalten, weshalb der Krieg vorerst weiterging. 

Der internationale Druck wurde für Frankreich zunehmend untragbar und sie nahmen die Verhandlungen mit der FLN wieder auf. Am 19. März 1962 kam es im Schloss von Évian zu einem Waffenstillstand. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie mein Vater vor dem Radio saß und den hoffnungsvollen und optimistischen Berichten der arabischen Sender aus Tunis und Kairo lauschte. 

In dieser Zeit kam es zu brutalen Auseinandersetzungen mit der Gruppierung OAS (Organisation de l'armée secrète ). Die gründete sich aus französischen Generälen und Offizieren, die Algerien als Teil ihres französischen Mutterlandes erhalten wollten. Ihre Anschläge richteten sich sowohl gegen algerische als auch französische Bevölkerung und Institutionen. Wie hast du diese Monate vor der Unabhängigkeit erlebt? 

Die OAS verübte nahezu täglich Bombenanschläge sowohl in Frankreich als auch in Algerien. In meiner Familie kamen in diesen Angriffen ein Cousin und eine Tante um. Letztere war gerade mit ihrem Korb in der Hand und Schleier auf dem Kopf unterwegs, als sie willkürlich von einem Scharfschützen erschossen wurde. 

Ich erinnere mich auch sehr lebhaft an einen Tag im April 1962: Meine Geschwister und ich saßen um kurz vor 7:00 Uhr am Frühstückstisch, als wir unseren Vater von der Arbeit kommen sahen. Wir fanden es ungewöhnlich, normalerweise kam er erst gegen 12 Uhr für seine tägliche Mittagsruhe nach Hause. In der Eile hatte er es nicht einmal geschafft, seine Schürze auszuziehen, als er meiner Mutter mit bleichem Gesicht sagte: „Mein Café wurde gesprengt.“ Diese Gewaltaktionen der OAS blieben nicht unbeantwortet und wurden von der FLN mit Gegengewalt erwidert. In Algier kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, bei denen die OAS einerseits gegen die französische Armee und Polizei kämpfte und andererseits gegen die algerische FLN. Es kam zu Barrikadenkämpfen und Anschlägen. 

Redouane Belakhdars Vater in Annaba, 1953.

Am 3. Juli 1962 stimmte die algerische Bevölkerung in einem Referendum für die Unabhängigkeit, die Frankreich noch am selben Tag anerkannte. Die FLN ließ die Unabhängigkeit jedoch erst am symbolträchtigen Datum des 5. Juli 1962 auszurufen – genau 132 Jahre nach der Landung der Franzosen in Algier 1830. Wie hast du diesen Tag der algerischen Unabhängigkeit erlebt? 

Diesen Tag werde ich nie vergessen, ich war damals 11 Jahre alt. Eine meiner Schwestern war Schneiderin: sie nähte für uns kleine algerische Flaggen und kleine Kappen in den Farben Rot, Grün und Weiß. Ich und mein Bruder gingen damit stolz zu einer der vielen friedlichen Demonstrationen. Die Stimmung war freudig, die Menschen tanzten, sangen und die schrillen Schreie der algerischen Frauen und Männer erfüllten die Straßen. Und obwohl ich eigentlich ein ängstlicher Hase war, stand ich mit den anderen Kindern in der ersten Reihe und zeigte dem Demonstrationszug die Richtung an. Ich tat so, als wäre ich einer der Hauptorganisatoren des Marsches, denn in dieser Euphorie, die mit uns durch die Straßen zog, gab es keine Angst mehr. 

 

 

Dorian Jimch studiert Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität Leipzig und ist aktiv in der Gruppe „Kritische Inslamwissenschaftler*innen und Arabist*innen“ – kurz KIARA. Er beschäftigt sich insbesondere mit postkolonialen Ansätzen in der Islamwissenschaft und Themen wie Migration, Rassismus und Dekolonialismus.
Redigiert von Claire DT, Hannah Jagemast