07.06.2024
„Unsere Gefühle sind zu groß für Worte“
„Unsere Gefühle sind zu groß für Worte – nur Schreie würden ihnen gerecht". Grafik: Zaide Kutay.
„Unsere Gefühle sind zu groß für Worte – nur Schreie würden ihnen gerecht". Grafik: Zaide Kutay.

Issam hat einen Blog „Witness from Gaza“ , eine Art öffentliches Tagebuch, in dem er über den Alltag in Gaza berichtet. Dort und mit unserer Kolumnistin auf Whatsapp spricht er davon, wie sich sein Leben seit dem 7. Oktober 2023 verändert hat. 

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Anm. der Redaktion: Wenn wir über den Krieg in Gaza berichten, ist es aus journalistischer und menschlicher Sicht unverzichtbar, dass Menschen vor Ort zu Wort kommen. Doch angesichts der angespannten Debatte ist das eine Herausforderung: Viele Palästinenser:innen zögern, mit Journalist:innen zu sprechen, weil sie sich vom deutschen Diskurs nicht repräsentiert fühlen. Sie befürchten, dass ihre Geschichte und die aktuelle Situation einseitig dargestellt wird. Auf der anderen Seite haben viele Leser:innen in Deutschland und Westeuropa wenig Verständnis dafür, dass von Besatzung, Vertreibung und Krieg betroffene Menschen eine andere Perspektive auf Israel und die aktuellen Entwicklungen haben als Unbeteiligte hierzulande. Palästinensische Stimmen werden teilweise diskreditiert, weil sie ohne Rücksicht auf deutsche Sensibilitäten sprechen. Dieser Artikel ist ein Versuch, einen jungen Menschen aus Gaza vorzustellen – nicht nur als Opfer, sondern als Individuum. Mit Interessen, Gefühlen, Gedanken, einem Leben vor dem Krieg. Vielleicht können wir uns mit ihm identifizieren und verstehen, dass die Menschen dort nicht anders sind als wir hier. Der Unterschied ist, dass sie mit einer viel belastenderen Realität konfrontiert sind.

Das Erste, was Issam Hani Hajjaj tut, wenn er morgens aufwacht, ist, sich selbst gedanklich abzutasten: „Lebe ich noch? Ist mein Körper unversehrt?“ Dann steht er auf und macht sich auf den Weg zur Toilette, die fünf Minuten zu Fuß entfernt liegt. Von dort aus geht er ins Krankenhaus, um nach seinen Eltern zu sehen. Er weckt sie und bringt seinem Vater das Frühstück und die Medikamente. Wenn nötig, geht er zum Markt, um für wenig Geld möglichst viele Nahrungs­mittel für seine Familie zu besorgen. Bekommt er nicht alles, was sie brauchen, muss er ins etwa zehn Kilometer entfernte Rafah fahren, wo die Versorgung besser ist als in der kleinen Stadt Al-Fukhari.

Wo immer Issam unterwegs ist, spricht er mit Menschen, hört ihren Geschichten zu. Zum Beispiel diese: „Als ich gestern auf dem Rückweg von Rafah zum Europäischen Krankenhaus war, wollte der Busfahrer keine Nachrichten hören. Er beschloss, Musik anzumachen. Er war zu Scherzen aufgelegt, zündete sich eine Zigarette an und sagte, genau so wolle er sterben: ‚Mir ist alles egal, denn ich bin zufrieden mit dem Leben, das ich gelebt habe.’ Der Bus war wie eine Wunderlampe, die uns herausholte aus der Atmosphäre des Todes und zurückwarf in eine Zeit, als wir Kurztrips mit unseren Freund:innen unternahmen und darüber stritten, wer das erste Lied anmachen darf.“

Issam ist 27 Jahre alt und lebt mit seinen Eltern und fünf Geschwistern in Gaza. Er ist dort geboren und konnte den von Israel besetzten Streifen noch nie verlassen. Issam ist Poet und Autor. Auf seinem Blog „Witness from Gaza“ schreibt er eine Art öffentliches Tagebuch über den Alltag im Kriegsgebiet. Seit Beginn des Krieges sind die Nachrichten voll von militärischen Angriffen, politischen Verhandlungen und steigenden Todeszahlen. Doch was bedeutet es auf individueller Ebene, diesen Krieg zu durchleben? Wie fühlen sich die Ereignisse für einen jungen Menschen wie Issam an? Seit Anfang April schreiben Issam und ich uns via Whatsapp. Dort und auf seinem Blog erzählt er, wie sich sein Leben seit dem 7. Oktober 2023 verändert hat.

1. Beißende Kälte und Hunger

Am 7. Oktober 2023 durchbrach die Hamas an mehreren Stellen die israelische Mauer um den Gazastreifen. Sie nahm mehr als 200 überwiegend zivile Geiseln aus militärischen Außenposten und Dörfern entlang der Grenze. Rund 1200 Menschen wurden an diesem Tag getötet, davon etwa 700 Zivilist:innen. Seitdem schlägt Israel mit voller Härte in Gaza zurück. Mit dem offiziellen Ziel, die Hamas zu zerschlagen, hat das israelische Militär mehr als 35.000 Menschen getötet und über 70.000 verletzt. Die meisten sind Zivilist:innen, viele von ihnen Kinder. Die israelische Regierung hat die Einfuhr von Hilfsgütern zudem stark eingeschränkt. Im Gazastreifen, der seit 1967 von Israel besetzt ist, ist die Versorgungslage schon lange sehr schlecht. Doch jetzt leidet ein immer größerer Teil der Bevölkerung Hunger. Die medizinische Versorgung ist fast vollständig kollabiert. 85 Prozent der Menschen haben ihr Zuhause verloren.

Issam ist einer von ihnen. Seine Familie kommt aus Shuja’iya, einer Nachbarschaft im Osten von Gaza-Stadt. Aktuell lebt Issam jedoch in Al-Fukhari im Gouvernement Khan Younis. Die Häuser seiner Familie und der meisten Verwandten wurden durch israelische Luftangriffe Ende Oktober zerstört. Er und seine Geschwister sind in einer Schule untergekommen, wo sie gemeinsam mit anderen Personen in einem Klassen­zimmer übernachten – 14 Menschen in einem Raum. Am 8. November 2023 schreibt er auf seinem Blog:​

Ich fühle mich einigermaßen wohl, kein Kopfschmerz, keine blut­unterlaufenen Augen. Gestern lag zum ersten Mal mein ganzer Körper auf einer Matratze. An manchen Tagen hatte ich auf dem Boden geschlafen. An anderen lag mein halber Körper auf dem Boden, die andere Hälfte auf einer Matratze. Die Kälte ist beißend, als wolle sie sich an uns rächen. Nicht nur die Kälte beißt die Menschen, auch der Hunger. In den Läden ist fast nichts übrig. Neulich wollte ich Bohnen­konserven und Käse kaufen, aber es war schon alles weg. Blogeintrag vom 8. November 2023. ​

Er schreibe, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, erklärt mir Issam in einer Whatsapp-Nachricht im April. Und „damit unsere Stimme als Palästinenser:innen ankommt und unsere Geschichte nicht stirbt.“ Er wolle der Welt mitteilen, „dass wir das Leben lieben, aber getötet werden“. Issam schreibt abends im vollen Klassenzimmer, wenn die Stimmen und Geräusche der anderen endlich leiser werden. Er schreibt auf seinem Handy, wenn er seinen Vater im Krankenhaus besucht, oder auf dem Bordstein vor dem Krankenhaus sitzend. Seinen Laptop hat er verloren, als das Haus der Familie zerstört wurde, zusammen mit allen Texten der letzten Jahre. Manchmal fühle sich das Schreiben wie ein Betrug an der Realität an, sagt Issam: „Unsere Gefühle sind viel zu groß für Worte – nur Schreie würden ihnen gerecht.“

2. Unter dem Haus begraben

In der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober 2023 begann die israelische Armee ihre Boden­offensive im Norden von Gaza. Sie umzingelte Gaza-Stadt und forderte die Bevölkerung zur Ausreise in den Süden auf. Vorbereitend bombardierte die Armee „terroristische Ziele, die zur terroristischen Hamas-Organisation gehören, in Shuja’iya und im ganzen Gazastreifen“, wie sie in einem Statement mitteilte. Issam, der damals noch in Shuja’iya wohnt, schreibt auf seinem Blog:

Freitag 27. 10. 18.15 Uhr Gaza-Zeit: Beim Erzählen und Plaudern im Haus meiner Tante wurden wir plötzlich alle darunter begraben. Ohne Vorwarnung bombardierte die israelische Besatzung das Haus über unseren Köpfen. Ich telefonierte gerade mit meinem Onkel Adham in Berlin. In einem Moment saß ich auf einem Stuhl auf dem Dach mit meiner Familie, im nächsten fand ich mich unter den Trümmern wieder. Es fühlte sich an, als sei ich bei lebendigem Leibe verbrannt worden, tonnenweise Rauch in meinem Mund. Blogeintrag vom 29. Oktober 2023. ​

Nachdem er zu sich gekommen ist, sucht Issam nach seinen Angehörigen. Die Geschwister, die Mutter, die Tante, die Cousins und Cousinen: „Alle waren da, außer meinem Vater. Wir begannen nach ihm zu graben und zu rufen, bis er uns antwortete.“ Mit bloßen Händen beseitigt die Familie die Trümmer. Obwohl die Gefahr eines zweiten Luftangriffs droht, sind sie sich einig, dass sie ohne ihn nicht gehen werden.

​Drei Tage später erinnert sich Issam auf seinem Blog an die Minuten nach dem Einschlag:

Ich wünsche mir, dass ich geweint hätte wie alle anderen. Ich wünsche mir, dass ich meine Tränen herausgeschleudert hätte – all meine Gefühle sind eingeschlossen in meiner Brust, das Schreien meiner Geschwister, der Ausdruck im Gesicht meiner Schwester, als sie den Ersthelfer bat, uns beim Ausgraben meines Vaters zu helfen. Die Schreie meiner Mutter, die um sein Leben fürchtete. Der Schock in ihren Augen, das Beben ihrer Hände, die Berührungen, die wir austauschten, um etwas Trost zu finden. Oh, wie ich mir wünsche, dass ich geschrien hätte, so laut ich nur kann, bis ich vergessen hätte, wer ich bin. Blogeintrag vom 30. Oktober 2023. ​

Nachdem sie es endlich schaffen, den Vater zu befreien, bringen sie ihn ins Al-Shifa-Krankenhaus, das inzwischen vollständig zerstört ist. Dort muss er mehrere Stunden auf dem Boden liegen, bis jemand Zeit hat, seine Kopfwunde zu nähen. Am nächsten Tag wird er ins Europäische Krankenhaus in Khan Younis verlegt. Diagnose: Frakturen in Arm und Fuß, Blutungen und Verletzungen in beiden Augen, drohende Erblindung. Seitdem befindet sich die Familie in einer noch akuteren Notlage: Sie müssen den Vater aus Gaza nach Ägypten bringen, damit er die Operationen bekommt, die er braucht, bevor er sein Augenlicht vollständig verliert.

Sonntag, 19. 11. 2023: Der Mensch muss das Gegenteil eines Zustands kennenlernen, um Balance im Leben zu finden. Um Erholung zu kennen, muss er Erschöpfung erleben. Um Ruhe zu kennen, muss er aus dem Chaos kommen. Unsere Tage im Europäischen Krankenhaus sind schwer zu beschreiben. So viele Verletzte und getötete Seelen wurden in den letzten Tagen eingeliefert. Um etwas Abstand zu bekommen, beschloss ich irgendwohin zu gehen, wo ich mit niemandem reden muss. Ich betrachtete die Gesichter der Passanten – ihre Tätigkeiten, ihre Bewegungen und ihre Stille – und meditierte. Ich schaute mir den Sonnen­untergang an und konnte freier atmen. Es fühlte sich an, als hätte ich wieder eine Seele. Blogeintrag vom 19. November 2023.

3. Weinend einschlafen, weinend aufwachen

Als das Haus Issam und seine Familie unter sich begräbt, hört sein Onkel Adham ihre Schreie im knapp 3000 Kilometer entfernten Berlin. Dann wird die Verbindung getrennt. Eben noch hat er mit seinem Neffen Issam telefoniert. Jetzt weiß er nicht, ob er und die anderen Verwandten noch am Leben sind. „Kurz darauf wurden auf al-Jazeera Aufnahmen aus dem Al-Shifa-Krankenhaus gezeigt. Ich sah meine Schwester mit ihrem kleinen Sohn auf dem Arm“, erinnert sich der 38-Jährige bei einem Treffen in Berlin sechs Monate später. Was genau passiert war, erfuhr er erst am nächsten Morgen. Am Abend vorher war ganz Gaza vom Internet abgeschnitten worden.

Adham lebt seit fast zwanzig Jahren in Deutschland. Jeden Monat schickt er der Familie in Gaza Geld. „Aber egal, wie viel man schickt, es ist, als ob man nichts schickt“, sagt Adham, denn Nahrungsmittel würden immer teurer. Ein Kilo Tomaten koste beispielsweise zehn Euro. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als aus der Ferne um das Leben seiner Familie zu fürchten. Manchmal geht er auf Demonstrationen und liest einige Zeilen aus Issams Texten vor. Die Solidarität der Menschen gibt ihm etwas Hoffnung. Doch an anderen Tagen, sagt er, schläft er abends weinend ein und wacht morgens weinend auf.

Adham und Issam stehen sich nah. „Ich war immer der coole Onkel“, sagt Adham mit einem Grinsen. Wenn er seine Familie in Gaza besuchte, zuletzt vor einem Jahr, saßen er und Issam bis zur Morgen­dämmerung auf der Dachterrasse und redeten. Er habe ihn immer als sensibel erlebt, erzählt Adham. „Wo wir herkommen, wird erwartet, dass man keine Gefühle zeigt. Aber er ist anders: ein ruhiger Typ mit ruhiger Stimme, offen, verständnisvoll.“ Issam nehme Rücksicht auf Menschen und ihre Gefühle, kenne viele und kümmere sich um viele. „Ich habe ihn immer für seinen Charakter bewundert“, sagt Adham. Auch jetzt sei Issam immer unterwegs: „Viele sind depressiv und haben keine Energie, rauszugehen. Issam hat die Kraft, nach Menschen zu sehen, ihre Geschichten zu hören und aufzuschreiben.“

Vor dem Krieg war Issam Lehrer. Er unterrichtete Kinder in kreativem Schreiben. Außerdem war er Mitbegründer der Gruppe „Haus der Weisheit“ in Gaza-Stadt, die sich regelmässig traf, um sich über den Einfluss von Geschichten auf die Entwicklung von Individuen und Gesellschaften auszutauschen. Sie stützten sich auf das Konzept „Mujaawarah“ des palästinensischen Professors Munir Fasheh. Der Begriff bedeutet übersetzt so etwas wie „Nachbarschaft“, dahinter steckt die Idee, als Gruppe ohne Autorität von innen oder außen zusammenzukommen, gemeinsam zu lesen, zu diskutieren und zu lernen. Austausch, Gemeinschaft und Selbst­reflexion stehen dabei im Zentrum. Diese Art zu denken schütze ihn auch jetzt, schreibt mir Issam. „Sie hilft mir dabei, mich auf meinen Kern zu besinnen, und mich zu erinnern, wer ich bin.“

4. Wie Schmetterlinge

Freitag 12. 04. 2024: Ein fünfminütiges Telefonat mit meiner Tante Nadia, die nach wie vor im Norden des Gaza-Streifens lebt. Seit drei Tagen versuche ich sie anzurufen. ‘Hallo? Hier ist Issam.’ ‚Warum bist du mich nicht besuchen gekommen, mein Junge?’, sagt sie mit einer fröhlichen Stimme, die mich tröstet. Ich lache und sage: ‚Ich bin schon auf dem Weg.’ Meine Tante Nadia ist eine sanfte Frau, ihre Gesichtszüge sind wie Schmetterlinge. In ihrer Nähe blüht jeder auf. Normalerweise besuche ich sie immer am ​Eid​, aber diesmal sind wir weit voneinander entfernt. Sie ist im Norden und ich bin im Süden. Die Besatzung trennt uns mit einer Barriere in der Mitte, mit Flugzeugen über uns und Hunderten Soldaten um uns herum. Ihre starke Stimme hat mich mit Stärke erfüllt. Wegen ihr schreibe ich jetzt. Blogeintrag vom 12. April 2024.

Acht Monate sind seit dem brutalen Angriff der Hamas vergangen, acht Monate dauert der Vernichtungs­feldzug der israelischen Armee im Gaza-Streifen bereits an. Fünf Prozent der Bevölkerung sind tot oder verletzt, etwa zwei Drittel der Gebäude zerstört. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat eine Boden­offensive in Rafah angekündigt, wo aktuell mehr als 1,5 Millionen Geflüchtete untergekommen sind. Die Vereinten Nationen erwarten in diesem Fall ein „Blutbad“, das das ohnehin schon kaputte Gesundheits­system weiter schwächen würde. Selbst die verbündeten USA rufen die israelische Regierung zu Zurückhaltung auf. Gerichte in Europa frieren Waffen­lieferungen an Israel ein. Der Internationale Gerichtshof prüft, ob in Gaza ein Völkermord stattfinden könnte. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat Haftbefehle gegen Netanjahu, Verteidigungsminister Galant sowie drei Hamas-Führer beantragt. Überall auf der Welt entstehen Protest­camps für einen Waffen­stillstand. In Deutschland und den USA löst die Polizei sie gewaltsam auf.

„All meine Gedanken drehen sich um das Ende dieses Albtraums, den wir leben. Meine Gefühle sind mal sehr kalt, mal fühlt es sich an, als würde ich kochen“, schreibt Issam mir Ende April. In den letzten Tagen sei er krank gewesen. Wegen der schlechten Qualität des Essens und des Wassers seit Beginn des Krieges seien Magen­probleme weit verbreitet. Doch es gibt auch gute Neuigkeiten. Issam hat ein neues Projekt angefangen: „Ich verbringe je einen Tag mit einem Menschen hier im Krankenhaus und schreibe dessen Geschichte auf.“ Die gesammelten Geschichten will er als Serie auf seinem Blog oder in internationalen Medien veröffentlichen.

Issam fürchtet sich vor der Bodenoffensive. „Wenn das passiert, wird Gaza vollständig abgeriegelt und niemand wird mehr rauskommen. Wenn sie kommen, können wir uns nur unserem Schicksal ergeben, getötet oder verletzt zu werden.“ Anfangs wollte Issams Familie nicht um fremde Hilfe bitten. Doch jetzt hat sein Onkel Adham gemeinsam mit Freund:innen in Deutschland eine Crowdfunding-Seite eröffnet. Unzählige davon finden sich zurzeit auf Online-Portalen wie GoFundMe: Palästinenser:innen aus aller Welt versuchen, ihre Freund:innen und Angehörigen aus Gaza herauszuholen. 5000 Dollar pro Person müssen sie dafür an eine ägyptische Agentur bezahlen. „Selbst wenn mein Vater zur medizinischen Behandlung ausreisen dürfte, will er seine Kinder hier nicht allein lassen“, schreibt mir Issam. „Darum müssen wir alle zusammen raus.“ Bisher haben sie gerade einmal genug Geld für eine Person gesammelt.

5. Entfremdung

Freitag, 26. 04 .2024: Wann immer mir nach Weinen zumute ist, begebe ich mich nachts in die Salah ad-Din Straße und gieße alle meine gesammelten Tränen in einem Schwall aus. Ziellos auf einer dunklen Straße zu wandeln löst ein Gefühl der Entfremdung aus. Als hätte man sich verirrt und der Tod erwarte einen. Ich mag es nicht, mich verloren zu fühlen. Ich gehöre hier nicht hin.

Issam vermisst die Ruhe seines Zimmers und den Wind, der am frühen Morgen durch sein Fenster weht. Er vermisst es, heiß zu duschen, ohne dass jemand an die Tür klopft, und aufzuwachen, wann er möchte, ohne Schreie zu hören. Er vermisst die Lyrik­abende, die er und seine Freunde vor dem Krieg regelmäßig organisierten. Issam mag Gaza trotz der Besatzung, weil es klein ist, und er so viele Menschen dort kennt. Doch wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der fehlenden Freiheiten versucht er seit Jahren auszureisen. Er hat englische Literatur studiert und will im Ausland einen Master machen. Diese Pläne sind jetzt in weite Ferne gerückt.

Anfang Mai wirft die israelische Armee Flugblätter über Rafah ab und fordert die Bevölkerung auf, den Osten der Stadt zu verlassen. Die USA haben gedroht Waffenlieferungen zu stoppen, falls Israel eine größere Bodenoffensive in Rafah startet. Netanjahu hat jedoch angekündigt, dass er bereit ist, auf eigene Faust vorzurücken. Seine Armee hat den Grenzübergang zwischen Gaza und Ägypten geschlossen, auch für Hilfslieferungen. „Die Hoffnung der Menschen, zur medizinischen Behandlung ausreisen zu können, wurde eingefroren, schreibt mir Issam damals.“

Heute sind die Panzer 300 Meter entfernt. Ich dachte, wir hätten hier Zuflucht gefunden, aber das Szenario des Todes verfolgt uns. Ich frage mich, welche Sünde ich begangen habe, dass der Tod uns so grausam verfolgt. Auch meine Freunde in Rafah wissen nicht, wohin sie gehen sollen; viele von ihnen sind auf der Straße ohne Obdach. Die Träume aller sind zerbrochen wie Knochen unter dem Einschlag der Raketen." Undatierter Blogeintrag, Anfang Mai

Am 26. Mai trafen israelische Luftangriffe eine Gefüchtetenunterkunft in Rafah und löste einen verheerenden Brand aus. Dutzende Menschen wurden dabei getötet, Hunderte verletzt. Die schrecklichen Bilder lösten weltweit Entsetzen aus, und doch setzt Israel seine Offensive in Rafah Woche für Woche ungehindert fort. Auch Issam wurde inzwischen leicht verletzt. Seine letzte Nachricht an mich ist voller Trauer und Wut: „Niemand kann beschreiben, was gerade in Gaza passiert. Wir sterben, wir sterben!! Wir werden auseinandergerissen. Worauf wartest du, du billige Welt? STOPPT. DEN. GENOZID.“

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

Der Beitrag erschien zuerst auf Englisch bei untoldmag

 

 

 

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich