17.01.2024
Stadtplanung in Syrien neu denken
Nour Harastani, Mitbegründerin von Syrbanism, in Berlin. Bild: Syrbanism
Nour Harastani, Mitbegründerin von Syrbanism, in Berlin. Bild: Syrbanism

„Syrbanism” will den Wiederaufbau der Städte in Syrien nach dem Krieg für seine Bevölkerung zugänglicher machen – und neu denken. Ein Interview mit Nour Harastani über die Einbindung lokaler Stimmen, informelle Siedlungen und die syrische Diaspora in Berlin.

Read this article in English:  "Rethinking Urban Reconstruction in Syria".

„Syrbanism” wurde 2017 als gemeinnützige Organisation von dir, Nour, zusammen mit Edwar Hanna gegründet. Als Architekt:innen wollt ihr durch „Syrbanism” die Stimmen der syrischen Bevölkerung in den Wiederaufbauprozess des Landes miteinbeziehen. Wie kam es zu Syrbanism?

Edwar und ich haben gemeinsam Architektur an der Universität Damaskus studiert, wo wir ab 2010 auch als Assitent:innen in der Lehre tätig waren. Später erhielten wir beide ein Stipendium und verließen das Land. 2013 zog ich nach Berlin. Ein Jahr später ging Edwar nach London.

Während unseres Masterstudiums in Deutschland und England stellten wir fest, dass es zwar Forschung zu syrischer Stadtplanung gibt, die Informationen aber schwer zu finden und für die Öffentlichkeit oft unzugänglich sind. Obwohl wir bereits in Europa lebten, waren wir in Gedanken immer halb in Syrien. Wir wollten etwas gegen die Situation im Land unternehmen. Deshalb begannen wir die Studien, die es bereits zu Stadtplanung in Syrien gab, zu sammeln.

2017 haben wir angefangen, mit verschiedenen syrischen NGOs Workshops zu urbaner Informalität durchzuführen. Dabei haben wir die Wichtigkeit informeller Siedlungen für die künftige Stadtentwicklung in Syrien hervorgehoben. Da der Wiederaufbau Syriens immer mehr zum Thema wurde, fragten uns immer weitere Organisationen an, um über das Thema zu informieren.

2018 kündigte die syrische Regierung dann das Gesetz Nr. 10 an. Es dient der Regulierung der künftigen Stadtentwicklung und ermöglicht, Projekte zum Wiederaufbau syrischer Städte an nationale und internationale Investoren zu vergeben. Daraufhin sahen wir wie sich die Menschen vor Ort reihenweise anstellten, um Dokumente zur Bestätigung ihres Wohneigentums zu erhalten. Das Gesetz verstand aber niemand so wirklich, da es nur sehr wenig Informationen dazu gab. Also beschlossen wir, die Sachverhalte in einem Video so einfach wie möglich zu erklären.

Das Video erregte große Aufmerksamkeit. In der ersten Woche wurde es fast 20.000 Mal aufgerufen, auch innerhalb Syriens. Ich glaube, das war der wirkliche Auftakt von Syrbanism und wie wir unsere Arbeit heute verstehen: Als Brücke zwischen den Menschen in Syrien und all den Aspekten urbaner Gesetzgebung, Stadtpolitik und informeller Siedlungsentwicklung. Die Bürger:innen vor Ort sollten verstehen – und mitbestimmen –  können, was in ihrem Land geschieht.

Der Wiederaufbau der syrischen Städte ist ein umstrittenes und komplexes Thema, insbesondere nach Jahren des Konflikts. Was versteht ihr bei Syrbanism unter „städtischem Wiederaufbau”?

Der Begriff „städtischer Wiederaufbau” ist sehr problematisch im syrischen Kontext. Bislang wird darunter vor allem der Wiederaufbau zerstörter Gebäude verstanden. Bei Syrbanism verstehen wir den städtischen Wiederaufbau eher als einen politischen Prozess, der auf sozialer Gerechtigkeit beruht und darauf abzielen sollte, so viele Menschen wie möglich einzubeziehen. Wir verstehen Wiederaufbau also als Möglichkeit, inklusiver zu werden und die „Top-Down” Stadtplanung in Syrien zu überdenken. Natürlich ist uns bewusst, dass es nicht einfach ist, alle einzubinden, jeder Stimme Gehör zu verschaffen und die existierenden Machtverhältnisse auszugleichen.

Eines eurer Projekte bietet einen Überblick zum  Nachweis und Verlust von Wohneigentumsdokumenten.  Was sind die größten Herausforderungen im syrischen Wohnsystem heute?

Hausbesitzer:innen in Syrien sehen sich mit mehreren Problemen gleichzeitig konfrontiert: mit der Gesetzgebung, den Eigentumsnachweisen und der autoritären Stadtplanung. Die neuen Gesetze legen fest, wer Entschädigung für sein Wohneigentum erhält, zum Beispiel im Falle von Grossbauprojekten. Das Gesetz gibt auch die Voraussetzungen vor, um sein Eigentum nachzuweisen. Dabei gehen die Behörden davon aus, dass jede:r sein:ihr Wohneingentum nachweisen kann.

Da es aber in Syrien für lange Zeit keine formelle Registrierung von Dokumenten gab, besitzen viele Menschen alternative Wohnungsverträge oder gar keine, da sie im Krieg gestohlen oder verloren worden sind. In diesem Sinne vernachlässigen die Gesetze viele Eigentumsrechte. Obwohl ein Digitalisierungsprozess der Dokumente im Gange ist, kann niemand wirklich sagen, ob dieser auf einem ordnungsgemäßen Verfahren beruht.

“Syrbanism” möchte der lokalen Bevölkerung eine Stimme im Wiederaufbau der Syrischen Städte geben. Bild: SyrbanismDu hast mehrmals auf die Wichtigkeit informeller Siedlungen in Syrien hingewiesen. Warum ist deren Berücksichtigung für den Wiederaufbauprozess entscheidend?

Bis 2010 machten informelle Siedlungen rund 40 Prozent des Wohnraums in syrischen Städten aus, insbesondere in Aleppo und Damaskus. In der Regel wurden die Siedlungen ohne offizielle Genehmigung auf landwirtschaftlichen oder öffentlichen Flächen errichtet. Darin hat sich dann seit den 1960er-Jahren auch ein alternatives System zur Dokumentation von Wohneigentum entwickelt und bis heute bewährt. Es gibt zwar Dokumente, aus denen hervorgeht, dass ein Stück Land einer bestimmten Person gehört. Doch meistens wurde dieses im Laufe der Zeit mehrmals unterteilt und weiterverkauft.

Auch der Umfang der Siedlungen hat sich über die Jahre verändert. In den 1960ern hatten die Siedlungen hauptsächlich zweistöckige Gebäude. Heute weisen einige der informellen Siedlungen bis zu 10 Stockwerke auf. Viele Häuser haben beispielsweise einen Einkaufsladen im Erdgeschoss oder einen zusätzlichen Raum auf dem Dach, den sie an Studierende vermieten. Die Menschen in den informellen Siedlungen versuchen, jeden Quadratmeter zu nutzen, auf dem sich ein Einkommen erzielen lässt.

Die autoritäre Stadtentwicklungspolitik und die geänderte Gesetzgebung stellen dieses System jetzt völlig auf den Kopf. Die Pläne für den Wiederaufbau berücksichtigen nicht die vorherigen und diversen Lebensumstände der Menschen. Für viele sind die Siedlungen eine Lebensgrundlage, die nicht einfach finanziell entschädigt werden kann.

Im Gegensatz zu den informellen Siedlungen wird „Marota City” in Damaskus als Pilotprojekt für den syrischen Wiederaufbau beworben. Kannst du mehr zu dem Großbauprojekt und seinem aktuellen Stand erzählen?

„Marota City” gibt uns einen Vorgeschmack davon, wie der Wiederaufbau Syriens aussehen könnte, wenn wir die heutigen Stadtentwicklungsprozesse nicht in Frage stellen und neu denken. Das Projekt findet auf einem Gebiet statt, wo rund 50.000 Syrer:innen lebten. 2012 wurde das Projekt angekündigt und 2014 begann die Räumung. Wie bereits erwähnt, hat die neue Gesetzgebung die offizielle Enteignung der ehemals „informellen” Nachbarschaften ermöglicht und dazu beigetragen, dass das „Recht auf Wohnen für alle“ dem Profit vorangestellt werden konnte. 

Abgesehen von rechtlichen Fragen ist „Marota City” aber auch aus städtebaulicher und architektonischer Sicht problematisch. Das Projekt zielt darauf ab, luxuriöse Wohnungen und Hochhäuser zu bauen, die sich nicht in die Identität der Stadt einfügen. Es ist für Menschen gedacht, die das nötige Geld mitbringen, aber nicht existentiell auf Wohnraum angewiesen sind wie andere Menschen vor Ort. Solche investitionsgetriebenen Wiederaufbauprozesse waren und sind zum Beispiel in Beirut, der libanesischen Hauptstadt, zu beobachten. Sagen wir mal so: Das ist nicht gerade das, was wir in Syrien anstreben sollten.

Edwar Hanna, Mitbegründer von Syrbanism. Bild: SyrbanismSyrbanism wurde 2017 gegründet. Wenn du auf den Wiederaufbauprozess in Syrien während der letzten sechs Jahren zurückblickst, wo siehst du Hoffnung in der aktuellen Entwicklung und in eurer Arbeit?

Hoffnung gibt es sicherlich immer. Ein positiver Aspekt ist, dass viele Menschen, die aus Syrien geflohen sind, nun in anderen Ländern ihr Fachwissen ausweiten. Das ist auch der Grund, warum wir mit dem Young Syrian Urban Network (YSUN) ein breiteres Netzwerk von syrischen Architekt:innen aufbauen, die in Syrien und in Europa leben. Wir sehen, dass die jungen Menschen ein großes Verständnis für soziale und räumliche Gerechtigkeit entwickeln, was für den Wiederaufbauprozess in Syrien sehr wertvoll ist.

Es gibt uns auch Hoffnung, dass viele junge Menschen in Syrien unsere Arbeit und Videos kennen. Darunter sind Architekturstudierende der Universität Damaskus, die unsere Videos untereinander teilen und verbreiten. Das ist natürlich eine schöne Entwicklung, da wir aus dem Ausland nicht die gleichen Kanäle und Möglichkeiten haben, um die Menschen vor Ort zu erreichen.

Du lebst seit zehn Jahren in Berlin. Auch Syrbanism hat seinen Hauptstandort in der Stadt. Ich finde, Berlin ist ein besonderes Beispiel dafür, wie die syrische Diaspora die Stadtentwicklung in Deutschland mitprägen kann. Wo siehst du Potential und Hindernisse, Syrer:innen mehr in die Berliner Stadtlandschaft einzubinden?

Bei Syrbanism arbeiten wir gerade an der Veröffentlichung eines Buches in Zusammenarbeit mit der Universität Exeter in England. Darin geht es um Berlin und die verschiedenen Perspektiven der syrischen Neuankömmlinge, die vor zehn Jahrenkamen. Anhand ihrer Geschichten setzen wir uns der mit Frage auseinander, was Integration bedeutet und wie sich Heimat anfühlt.

Das Buch zeigt die unterschiedlichen Herangehensweisen auf, sich einzuleben und heimisch zu fühlen - und wie der Rhythmus Berlins in diesen Prozess hineinspielt. Die Sonnenallee ist dabei einer der „Stars” in unserem Buch, weil die Straße ein sehr vielfältiges Beispiel darstellt, einschließlich des Essens, der Religion, Live-Musik, Konzerte und Partys, die dort stattfinden.

Integration wird oft mit dem Befolgen von Gesetzen, dem Erlernen der Sprache und der Eingliederung in den Arbeitsmarkt in Verbindung gebracht. Sicherlich gehören alle diese Elemente zur Integration. Aber selbst wenn man alle erfüllt, heißt das noch nicht, dass man sich einer Stadt zugehörig fühlt. Für mich bedeutet Integration, sich eine bestimmte und ganz individuelle Verbindung zur neuen Heimstadt aufzubauen. Und je mehr man sich zugehörig und zuhause fühlt, desto mehr beginnt man, der Stadt etwas zurückzugeben.

Die Vielfalt der Berliner Stadtlandschaft hat es einigen Menschen aus Syrien ermöglicht, diese Ebene der Zugehörigkeit zu erreichen. Das ändert natürlich nichts an der immensen Herausforderung und Anstrengung, die nötig ist, um sich nach der Flucht vor einem Konflikt an einem neuen Ort einzuleben. Wenn einige Syrer:innen dieses neue Zuhause in Berlin gefunden haben, dann ist das bereits ein großer Schritt nach vorne.

 

 

 

 

 

 

 

Bruna Rohling hat Stadtplanung in Berlin, Trondheim und Beirut studiert. Bei dis:orient liegt ihr Fokus auf Stadtentwicklung, Migration und Umweltgerechtigkeit in WANA. Bruna ist Doktorandin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich im Bereich Stadtentwicklung und -politik.
Redigiert von Iman Fritsch, Claire DT, Regina Gennrich
Übersetzt von Bruna Rohling