Vor zehn Jahren, am 14. August 2013, begingen Ägyptens Polizei und Militär am helllichten Tag das größte Massaker der modernen Geschichte des Landes. Es war ein Vorgeschmack auf die anhaltende Herrschaft von Abdel Fattah al-Sisi.
An diesem Tag im August 2013 wurden in Kairo Bulldozer in ein Protestcamp auf dem Rabaa al-Adawiya Platz geschickt. Dort hatten sich Unterstützer:innen Mohamed Mursis versammelt. Mursi, Ägyptens erster demokratisch gewählter Präsident, war 2013 durch einen Militärputsch abgesetzt worden.
Scharen von bewaffneten, schwarz gekleideten Sicherheitskräften eröffneten das Feuer auf Demonstrant:innen und töteten an einem einzigen Tag mindestens 817 Menschen. Andere Schätzungen der Opferzahlen gehen in die Tausende.
Das Massaker ist im Kontext einer Kampagne in den staatlichen und privaten Medien Ägyptens zu sehen. Journalist:innen und Kommentator:innen hatten über Wochen die Stimmung angeheizt und behaupteten, die Protestbewegung gegen den Putsch sei zu einer Brutstätte des Terrors geworden. Was noch schlimmer ist: Eine Woche vor dem Massaker veröffentlichte die linke Opposition eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie dem Staat vorwarf, angesichts des „faschistisch-terroristischen“ Prostestcamps nicht entschieden genug zu handeln.
Was an diesem Tag genau geschah, ist gut dokumentiert. Am zehnten Jahrestag bleibt es jedoch vielen weiterhin ein Rätsel, warum es passierte. Warum hielt General Abdel Fattah al-Sisi dieses Blutbad für notwendig, ein Blutbad das noch dazu live in jedes Wohnzimmer Ägyptens übertragen wurde?
Mubarak regierte durch Institutionen, al-Sisi zählt allein auf Gewalt
Der ehemalige Präsident Hosni Mubarak war ein Autokrat, der Ägypten mit eiserner Faust regierte. Seine Art zu Regieren basierte jedoch nicht nur auf Unterdrückung, sondern viel mehr auf dem strategischen Umgang mit Dissens und Unzufriedenheit. Es gab eine vielfältig aktive Zivilgesellschaft, die als Puffer zwischen Staat und Bürger:innen agierte. Die Überwachung von Dissens war dadurch auf ein weites Spektrum von zivilen Institutionen ausgelagert und wurde nicht nur durch Sicherheitskräfte ausgeübt.
Es ist wahr, dass die Institutionen in Mubaraks Zeit schon abgebaut wurden und weniger einflussreich waren als zur Zeit des Gründers der Offiziersrepublik, Gamal Abdel Nasser. Doch sie schützten den Staat weiter effektiv vor existentiellen Bedrohungen.
Gab es beispielsweise gewaltsame Übergriffe in Palästina, konnte Mubarak darauf zählen, dass die Muslimbrüder die Wut der Menschen kanalisieren würden. Sie mobilisierten für Anti-Israel-Proteste, die auf Moscheen und Universitätsgelände beschränkt blieben, statt sich über die Straßen zu ergießen oder Slogans gegen Mubarak und seine Komplizenschaft zu skandieren.
Stiegen die Preise für Grundnahrungsmittel, zählte Mubarak auf die Salafis: Sie beschuldigten unverschleierte Frauen oder Christ:innen und lenkten so die Wut der Bevölkerung vom Regime ab. Wenn Streiks in der Industrie ausbrachen, konnte er sich auf die staatlich unterstützten Gewerkschaften verlassen, die gegen Militanz in den Betrieben vorgingen.
Hinzu kam die regierende National Demokratische Partei (NDP). Sie war, verglichen mit Nassers Arabischer Sozialistischer Union (ASU), unideologisch und zahnlos, hatte aber eine Vertretung in jedem Ort Ägyptens. Die lokalen Büros setzten die staatliche Hegemonie um, lösten Konflikte und leiteten lokale Probleme an die Entscheidungsträger:innen des Regimes weiter.
In anderen Worten: Es gab ein komplexes Netz an Institutionen, denen Mubarak die Kanalisierung von Dissens überlassen konnte. Erst im nächsten Schritt schickte er Militär oder seine gefürchteten Staatssicherheitskräfte, um die Unruhestifter:innen zum Schweigen zu bringen.
Staatliche Gewalt war unter Mubarak meist kalkuliert und hing vom Ausmaß der empfundenen Bedrohung des Regimes ab. Seine staatliche Propaganda tat alles, um Gewalt gegen Bürger:innen zu vertuschen, vom Abstreiten bis zur gezielten Desinformation.
Diese perverse Unterdrückungsstrategie verhalf Mubaraks Regime zu drei Jahrzehnten der Macht. Doch in den Augen von al-Sisi und seinen Generälen war es genau dieses System, das am Ende zu Mubaraks Absetzung und dem Ausbruch der Revolution 2011 führte.
Wofür das Rabaa-Massaker steht
Al-Sisi und die meisten seiner Offiziere, die 2013 putschten, hatten die Militärakademie nach Ende des Krieges 1973 abgeschlossen und waren in Zeiten des ,Friedens‘ in der Armee aufgestiegen. Die ägyptische Armee war zu diesem Zeitpunkt aufgebläht und bürokratisch, besessen von innenpolitischer Stabilität und Profitgier. Das Militär hatte in diesem Zeitraum weder beschämende militärische Niederlagen zu verkraften, noch schwerwiegende Fehlentscheidungen wie unter der Militärregierung Nassers.
In den Augen der Militärs kam es 2011 zur Revolution, weil Mubarak zu „nachsichtig“ war. Die Erfahrungen der Übergangsjahre zwischen 2011 und 2013 verfestigten diese Sicht. Der faustische Pakt der Generäle mit den Islamisten – das die Zerstreuung der Revolutionsbewegung im Tausch gegen eine Regierungsbeteiligung – trug keine Früchte.
Allein 2012 dokumentierte das Ägyptische Zentrum für ökonomische und soziale Rechte über 3.800 Streiks und Proteste im Land – mehr als im gesamten Jahrzehnt zwischen 2000 und 2010 zusammen.
Das Land war unregierbar geworden und die Generäle entschieden, die Situation mit Gewalt zu befrieden, um den Staat vor „Chaos“ zu schützen – oder, schlimmer, einer weiteren Revolution die ihre Privilegien in Gefahr bringen könnte. Die Zahl der Todesopfer eines einzigen Tages, dem 14. August 2013, entsprach fast der Gesamtzahl der Opfer von Mubaraks Jahren der Härte in den 1990er-Jahren. In den ersten sieben Monaten nach al-Sisis Putsch starben mehr als 3.200 Menschen durch staatliche Gewalt.
Das schiere Ausmaß des Rabaa-Massakers und der Gewalt nach dem Putsch waren eine klare Botschaft der Generäle an die Nation: unabhängige, kollektive Aktionen waren weder willkommen noch zulässig. Während es im ersten Halbjahr 2013 noch 4.500 Proteste gab, gingen sie in der zweiten Hälfte des Jahres drastisch auf 665 zurück.
Heute regiert Präsident al-Sisi ohne Puffer zwischen Gesellschaft und Staat: gelähmte Oppositionsparteien, ein abnickendes Parlament, keine offizielle Regierungspartei und keine zivilen Institutionen mit Entscheidungsbefugnis. Stattdessen regiert der Unterdrückungsapparat direkt. Militär, Polizei und der Nachrichtendienst kontrollieren die Gesellschaft bis in die kleinsten Bereiche des täglichen Lebens.
Al-Sisi kanalisiert Widerspruch nicht, er vernichtet ihn. Rabaa war nicht nur ein Massaker. Es legte den Grundstein für al-Sisis neue Republik.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch im Online-Magazin Middle East Eye.