Die Hoffnung war groß vor den Wahlen in der Türkei und doch konnte Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Macht erfolgreich festigen. Die Opposition ist nicht nur gescheitert, sondern muss ihre politischen Strategien jetzt radikal überdenken.
Nach dem relativ knappen, aber endgültigen Sieg Recep Tayyip Erdoğans haben Schock und Verzweiflung die Opposition in der Türkei fest im Griff. Die gesellschaftliche Opposition startete vielversprechend in den Wahlkampf um die Präsidentschaftswahlen 2023. Sie setzte inhaltlich auf die Skandalisierung der Wirtschaftskrise und verfügte über den moralischen Vorteil, verschiedene politische Gruppen zu vereinen. Gemeinsam unterstützten sie einen einzigen Kandidaten, Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP. Ihr gemeinsamer Nenner: der Gegner Erdoğan. Was hat die Opposition also falsch gemacht? Wie konnte es Erdoğan gelingen, inmitten des massiven wirtschaftlichen Abschwungs, des gesellschaftlichen Schocks in Folge des Erdbebens und der vielfältigen Probleme, die die Türkei in den letzten fünf Jahren zu bewältigen hatte, gestärkt hervorzugehen?
Nach Ansicht verschiedener politischer Beobachter:innen aus der Türkei widersprach Erdoğans Sieg gängigen Theorien der Politischen Ökonomie und anderer Zweige der Sozialwissenschaft. Vor allem die These, dass die Wirtschaftskrise wie in der Vergangenheit Regierungen in der Türkei stürzen und das Wahlverhalten radikal verändern würde, traf nicht zu. Erdoğans Wahlkampfdiskurs, der sich um „Sicherheitsbedenken“ drehte, und seine Strategie der „Polarisierung der Gesellschaft“ scheinen sich auszuzahlen. Indem Erdoğan und die AKP während der Wahlen konsequent ihre Sicherheitsrhetorik einsetzten, lenkten sie die Wähler geschickt von der weit verbreiteten Armut und dem durch die Wirtschaftskrise verursachten Wohlstandsverlust ab.
Umgekehrt trug wesentlich zur Niederlage der Opposition bei, dass es ihr trotz aller Bemühungen nicht gelang, die Aufmerksamkeit der Wähler auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch zu lenken. Obwohl sich der Wahlkampf der Opposition auf die Wirtschaft konzentrierte, erreichte dieses Narrativ die ärmeren Bevölkerungsschichten entweder nicht oder war für sie nicht überzeugend. Die Opposition muss sich dieser Problematik annehmen, um ihre künftigen Strategien zu verfeinern.
Wunschdenken und fehlgeleitete Erwartungen
Ein weiterer entscheidender Faktor für das Scheitern der Opposition war ihre Unfähigkeit, Erwartungen „zu managen“. Vor dem ersten Wahlgang war man in den Reihen der Opposition beinahe zuversichtlich, dass ihr Kandidat Kılıçdaroğlu im ersten Wahlgang gewinnen oder zumindest vor Erdoğan das Rennen machen würde. Diese vielleicht übertriebene Hoffnung scheint mehr geschadet als genutzt zu haben, denn die Ergebnisse der ersten Wahlrunde entsprachen bei weitem nicht den Erwartungen der Opposition.
Die Auszählung der Stimmen für Erdoğan im ersten Wahlgang war für die Opposition ein überraschender und demoralisierender Schlag. Ihre Fähigkeit, sich neu zu formieren, um in der zweiten Runde einen substanziellen Kampf zu führen, war erheblich beeinträchtigt. Offensichtlich hat sich die Opposition im Vorfeld der Wahl auf ihr Wunschdenken anstatt auf Fakten verlassen und dadurch einen erheblichen Nachteil erlitten.
Die Pflicht der Opposition, Wahlbetrug zu verhindern
In den vergangenen zehn Jahren gab es in der Türkei eine ständige Debatte über die Sicherheit der Oppositionswähler:innen bei den Wahlen. Diese Debatte verläuft entlang zweier Achsen: Die erste dreht sich darum, ob die Auszählung der Stimmen ohne Betrug abläuft. Die zweite ist die Pflicht und Verantwortung der Opposition, die notwendigen Kontroll- und Präventionsmechanismen gegen Wahlbetrug zu garantieren. In der Türkei neigen die Wähler:innen der Opposition traditionell dazu, nicht zur Wahl zu gehen, wenn sie von einer Wahlmanipulation ausgehen.
Also wird von der Opposition erwartet, dass sie während der Auszählung der Stimmen regelmäßig genaue Daten mitteilt und die Öffentlichkeit nicht mit manipulativen und faktisch falschen Aussagen in die Irre führt. Was die Oppositionsführer:innen sagen und wie sie sich in der Wahlnacht bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse verhalten, ist daher von großer Bedeutung für das Vertrauensverhältnis zu ihren Wähler:innen.
Mangelnde Kommunikation der Opposition
Vor diesem Hintergrund ist auch die aktuelle Kommunikation der Opposition mit ihren Wähler:innen kritisch zu hinterfragen. Der Ansatz der Opposition, verschiedene Formen des demokratischen Protests im Vorfeld konsequent abzulehnen und sich ausschließlich auf die Wahlen zu konzentrieren, scheint gescheitert zu sein. Es ist nach wie vor unklar, ob die Opposition ihrer Aufgabe nachkommt, potenziellen Betrug zu verhindern und die Wahlurnen zu überwachen, insbesondere während der Auszählung der Stimmen. In Anbetracht der widersprüchlichen Erklärungen und unterschiedlichen Meinungen innerhalb Opposition, sorgt die fehlende Kommunikation mit ihren Anhänger:innen für Verwirrung.
So bleiben die Ereignisse der ersten Wahlnacht am 14. Mai 2023 für die Wähler:innen der Opposition ein Rätsel. Sprecher:innen der Opposition beteuerten während der Auszählung der Stimmen immer wieder, dass sie bei der Wahl entweder in Führung oder zumindest gleichauf lägen. Sie äußerten sich skeptisch gegenüber den offiziellen Daten und sprachen sich dafür aus, diesen nicht zu trauen. Während die Stimmen noch ausgezählt wurden, verschwanden sie dann unerwartet. Die Folge: Vertrauensverlust bei ihren Anhänger:innen.
Und mehr als das: Am Ende des ersten Wahlgangs erklärte die Opposition, dass es keinen Betrug gegeben habe, dass die offiziellen Ergebnisse korrekt seien und riefen die Wähler:innen dazu auf, im zweiten Wahlgang wählen zu gehen. Es ist vollkommen unklar, warum die Opposition ihre eigenen Wähler:innen in die Irre führte und durch Pressemitteilungen manipulierte, in denen es hieß, die Opposition liege vorn oder Kopf an Kopf mit Erdoğan.
Schwere Zeiten für Frauen, LGBTIQ und Kurd:innen stehen bevor
Erdoğans Strategie scheint aufgegangen zu sein – auch wenn die Ergebnisse relativ knapp ausfielen und der Wahlkampf für die Opposition nicht fair war. Den gegen ihn vereinten Oppositionsgruppen setzte der Präsident ein Bündnis der konservativsten und nationalistischsten Teile des politischen Spektrums entgegen. Der Sieg dieses Bündnisses lässt schwere Zeiten für Frauenrechte, LGBTIQ-Rechte und die demokratischen Forderungen der Kurd:innen erwarten. Also für jene, die in der Türkei bereits jetzt bedroht sind.
Darüber hinaus zeigt dieser Wahlzyklus einen beunruhigenden Trend: Rassismus gewinnt an Boden, insbesondere gegenüber syrischen Migrant:innen. Besorgniserregend ist, dass dies sowohl im Lager der Regierung als auch in dem der Opposition zu beobachten ist. Der Ernst der Lage wird durch das Schweigen oder den bestenfalls lauwarme Widerspruch der Linken zu dieser wachsenden ausländerfeindlichen Stimmung unterstrichen.
Dennoch: Ein Funken Hoffnung für eine echte linke Opposition
Doch trotz dieser insgesamt düsteren Aussicht gibt es einen Funken Hoffnung für eine echte linke Opposition. Es besteht dringender Bedarf an einem erneuerten demokratischen Kampf, der sich auf alle Teile der Gesellschaft jenseits der dominanten Identitäten erstreckt. In der Zwischenzeit treibt eine sich beschleunigende Wirtschaftskrise die Ärmsten des Landes an den Rand des Abgrunds und schafft eine Art Pulverfass. Dies sind die materiellen Bedingungen, die das Entstehen einer neuen linken Opposition begünstigen, trotz der harschen Niederlage.
Unter diesen Bedingungen birgt die Zukunft Potenzial für identitäts- sowie klassenbasierte Forderungen. Sie könnten den fruchtbaren Boden für eine linke Opposition bilden, die wie der Phönix aus der Asche wieder aufersteht. Dieser Wandel setzt jedoch voraus, dass die Opposition den altmodischen Widerstand aufgibt und sich innovative Wege der Politikgestaltung zu eigen macht. Die traditionellen Oppositionsstrategien sind nicht geeignet, um aus den günstigen Umständen Kapital zu schlagen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es den Anti-Erdoğan-Kräften in der Türkei nicht gelungen ist, Erdoğan zu besiegen, obwohl die sozioökonomischen Bedingungen seine Niederlage begünstigten. Nicht nur Erdoğan und die AKP, sondern auch die rechtsextremen Kräfte in der Türkei sind aus den Wahlen gestärkt hervorgegangen. Entgegen den Erwartungen mussten die linken und demokratischen Kräfte einen erheblichen Machtverlust hinnehmen, der sich im Ergebnis der Parlamentswahlen, die zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen stattfanden, niederschlägt. Es ist nun an der Zeit, dass die Opposition Selbstkritik übt, die notwendigen Lehren zieht und neue Strategien entwickelt. Dies gilt besonders für die echte linke Opposition,
Vielleicht liegt der Katalysator für den Wandel in der Türkei in der Transformation der Opposition. Dieser Wandel meint keinen Wechsel von politischen Persönlichkeiten oder Führer:innen, sondern eine Veränderung der politischen Praxis; der Art und Weise, wie Politik gemacht wird. Der derzeitige Top-Down-Ansatz der Oppositionsparteien, der basisdemokratische Ansätze vernachlässigt, steht zwischen der Opposition und den wirtschaftlich benachteiligten Teilen der Gesellschaft. Dabei machen diese die Mehrheit der Bevölkerung aus. Es ist offensichtlich, dass der Weg der Türkei zur Demokratie von der Entwicklung der Opposition abhängt, und dass diese an der Basis beginnen muss.