Das iranische Regime propagiert einen „Dschihad“ in allen Politik- und Lebensbereichen. Heroisch ist daran jedoch nichts, vielmehr führt es zu Entbehrungen und Unterdrückung der Bevölkerung, findet Omid Rezaee.
Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.
In seiner Freitagspredigt Ende Mai lobte der bekannte Teheraner Prediger Mohammadjavad Haj Aliakbari die jüngsten wirtschaftlichen Pläne der Regierung und setzte sie mit den Maßnahmen gleich, die zur Rückeroberung Chorramschahrs während des Iran-Irak-Kriegs am 24. Mai 1982 geführt hatten. Chorramschahr ist eine wichtige Hafenstadt im Südwesten Irans mit bedeutenden Erdölressourcen, die zwischen November 1980 und Mai 1982 von der irakischen Armee unter Saddam Hussein besetzt worden war. Ihre Befreiung gilt als einer der wenigen Momente kollektiven Stolzes im Gedächtnis vieler Iraner:innen in der jüngsten Geschichte des Landes und trägt damit besondere symbolische Bedeutung.
Am selben Tag priesen zwei weitere religiöse Führer die aktuelle Wirtschaftspolitik der Regierung als „ökonomischen Dschihad“ an und ließen verlauten, dass ein militärischer Krieg aktuell zwar unwahrscheinlich sei, ein wirtschaftlicher und kultureller hingegen bereits in vollem Gange wäre. Und auch Ali Akbari, der Vertreter des Obersten Führers Ayatollah Khamenei erklärte, dass es in den Bereichen Wirtschaft, Kultur, Diplomatie, Cyberwelt und auch im Lebensstil der Menschen in Iran einige „Chorramschahrs“ gäbe, die der iranische Staat noch zu „erobern“ habe.
„Dschihad“ bis in die Schlafzimmer
Dass der Vertreter des mächtigsten Mann Irans für die Einflussnahme auf den Lebensstil der Menschen in Iran die gleiche Sprache verwendet wie für die Rückeroberung einer Stadt aus den Händen eines Nachbarstaates, gegen den man militärisch und mit Inkaufnahme tausender Opfer gekämpft hatte, ist weder Zufall noch Einzelfall. Denn es ist durchaus nicht neu, dass die Machthaber Irans sich martialischer Kriegsrhetorik auch in Hinblick auf andere Politik- und Lebensbereiche bedienen.
So hatte die Bevölkerungspolitik der Islamischen Republik eine dramatische Wende genommen, nachdem der Oberste Führer Khamenei im Mai 2013 verkündet hatte, Kinderkriegen sei „ein großer Dschihad für Frauen“, um das Bevölkerungswachstum der Schiit:nnen gegen die „Verschwörung der Feinde“ sicherzustellen. Bisheriger Höhepunkt dieser Politik war das Gesetz zur „Jugend der Bevölkerung und Unterstützung von Familien“ von März 2021, nach dem unter anderem keine Verhütungsmittel mehr von staatlichen Gesundheitsämtern verschrieben werden dürfen und Sterilisation kriminalisiert wird. Am offiziellen „Tag der Bevölkerung“ am 20. Mai flimmert dazu jährlich die Propaganda für frühzeitige Heirat und Mehrkindfamilie über die Bildschirme.
Die Dschihad-Rhetorik der Entscheidungsträger in Iran begrenzt sich jedoch nicht auf Wirtschafts- oder Bevölkerungspolitik: Im Herbst 2021 prägte Ayatollah Khamenei einen weiteren neuen Begriff: den sogenannten „Dschihad zur Aufklärung“. Aufklärung heißt in seinem Sinne, das eigene Narrativ zu etablieren und das „feindliche“ Narrativ zu „bezwingen“. Seitdem verwenden auch andere Funktionäre des Regimes diesen Begriff häufig, an den Universitäten werden Konferenzen unter dem Titel „Dschihad zur Aufklärung“ veranstaltet und Staatsmedien verstehen ihre Arbeit als einen Teil jenes, vom Obersten Führer diktierten „Dschihad zur Aufklärung“. Auch das unvorstellbare Budget von knapp 50 Million Dollar, das allein innerhalb eines Jahres in die sozialen Medien fließt, um durch Dis- und Missinformationen den öffentlichen Diskurs zu manipulieren, rechtfertigt der Staat mit dieser neuen Form von „Dschihad“.
„Dschihad“ für wen?
Aber was haben die Menschen in Iran nun von diesen vielen „Dschihads“, die angeblich in ihrem Sinne von ihrer Führung geführt werden? Der „ökonomische Dschihad“ neoliberaler Couleur der Regierung des ultrakonservativen Präsidenten Raisi wird vom großen Teil der iranischen Bevölkerung nicht unterstützt: Kurz nach der Streichung der Subvention für Mehl und der Preissteigerung tierischer Grundnahrungsmittel wie Hühnerfleisch, Eier und diverser Milchprodukte gingen Mitte Mai diesen Jahres tausende Menschen in ärmeren Regionen des Landes auf die Straße.
Das Ausmaß der Proteste ist noch nicht bekannt, auch nicht die Zahl möglicher Verletzter und Verstorbener, weil in den Zentren der Proteste, wie in der Provinz Khuzestan und Luristan, das Internet massiv eingeschränkt oder sogar komplett abgeschaltet wurde, dem „Dschihad der Aufklärung“ sei Dank. Jedoch gibt es Berichte von Schüssen, Verletzten und Getöteten. In sozialen Medien kursieren Videos und Bilder, die zeigen, dass die Polizei die Demonstrant:innen verprügelt und auf unbewaffnete Zivilist:innen schießt. Laut Journalist:innen vor Ort sind die Sicherheitskräfte den Protestierenden sogar in einigen Fällen hinterher gelaufen und haben sie in ihren eigenen Wohnungen erschossen. Solch ein Ausmaß der Gewalt wäre auch nicht neu und damit durchaus im Bereich des vorstellbaren, liegen doch die Massenproteste vom November 2019 noch nicht lang zurück, bei denen mindestens 1500 Menschen ermordet, Zehntausende inhaftiert und einige hingerichtet wurden.
Der „ökonomische Dschihad“ und die damit verbundene Repression ist also ein Kampf nicht für, sondern gegen die eigene Bevölkerung. Und das nicht nur, weil das neoliberale Wirtschaftsprogramm Millionen Iraner:innen, die bereits unter dem enormen Druck einer schwachen Wirtschaft, unter Sanktionen und Inkompetenz ihres Staates leiden, weiter Misere bringt, sondern auch weil diese Entscheidungen nie in der Öffentlichkeit diskutiert, nicht demokratisch getroffen, oder wenigstens von einer parlamentarischen Mehrheit bestätigt wurden. Stattdessen werden alle wichtigen Entscheidungen im Geheimen und von Raisis Minderheitsregierung getroffen, das Parlament verliert immer weiter an Bedeutung und Kritik von der Straße wird gänzlich unmöglich.
Permanenter Kriegszustand
„Krieg ist ein Segen“. Diesen Satz sagte Ayatollah Khomeini, der Gründer der Islamischen Republik und der Führer der Islamischen Revolution 1979, kurz nach Beginn des Iran-Irak-Kriegs im Jahr 1980. Dessen Nachfolger Khamenei sowie andere Funktionäre des Regimes haben die Aussage, manchmal in anderen Worten, immer wieder wiederholt. Während der Golfkrieg nach acht Jahren ohne einen Sieger, aber mit Hunderttausenden Opfern auf beiden Seiten, zu einem Ende kam, behält die Führung der Islamischen Republik den Kriegszustand gegen die eigene Bevölkerung weiterhin gerne aufrecht, und dass seit nunmehr über 40 Jahren.
Und dieser erstreckt sich weit über die kriegerische Rhetorik und Metaphorik der iranischen Führung und reicht real in alle Bereiche des Leben der Iraner:innen. So macht das Islamische Regime das tägliche Leben zu einem wirklichen Kampf für die Menschen in Iran – einem Kampf ums Überleben.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.