Die Taliban haben in Afghanistan die Macht übernommen. Dass Erdoğan sich nun bei ihnen einschleimt, passt zur außenpolitischen Strategie der Türkei, meint Cem Bozdoğan.
Wir blicken zurück auf 20 Jahre Auslandseinsatz in Afghanistan. Schätzungen zur Folge wurden in diesem Zeitraum eine Viertelmillion Menschen getötet und mindestens 2,6 Millionen Menschen vertrieben. Unwillkommene Mächte haben über zwei Jahrzehnte hinweg ein Land zerstört, welches vorher sowieso schon instabil war. Zum Glück sind es heute nicht nur ein paar antiimperialistische Linke, die verstehen, dass Auslandseinsätze nicht unbedingt Frieden bringen. Auch die Bundesregierung hat sich im Rückblick mittlerweile kritisch zum Militäreinsatz in Afghanistan geäußert – und zwar nicht bloß, weil dieser seit 2001 über 12 Milliarden Euro gekostet hat.
Von Anfang an verfolgten die verschiedenen Länder, die in Afghanistan stationiert waren, unterschiedliche – und vor allem eigene – Interessen. Was zunächst vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush ausgehend mit einem Einsatz gegen die Taliban und die Terrorgruppe al-Qaida anfing, entwickelte sich zu einer riesigen Militäroperation, an der sich fast 40 Länder beteiligten. Eine dieser Mächte ist im heutigen Kontext besonders interessant: die Türkei.
Kaum hatte die islamistische Taliban am 15. August von einer Machtübernahme gesprochen, gab es bereits exklusive Interviews mit führenden Taliban-Sprechern in den türkischen regierungsnahen Medien. Während die afghanische Zivilbevölkerung, insbesondere Regierungsmitarbeiter:innen, lokale Ortskräfte und ihre Familien um ihr Leben fürchteten, sagte Staatspräsident Erdoğan, er habe kein Problem mit der neuen „Regierung“ unter den Taliban. Ganz offen nähert sich Erdoğan den fundamentalistische Islamisten an – und fällt somit den Bündnispartner:innen, aber vor allem der afghanischen Zivilbevölkerung in den Rücken.
Vormarsch Richtung Herrschaft
Die Rolle der Türkei im gesamten Afghanistan-Einsatz ist aber nicht erst seit den neuesten Ereignissen von Bedeutung. Mit der neugewählten konservativen AKP-Regierung im Jahre 2002 unter Abdullah Gül und später Recep Tayyip Erdoğan intensivierten sich auch Beziehungen zu den afghanischen Amtsinhabern. Im Gegensatz zu anderen NATO-Mächten, war die Türkei ein mehrheitlich muslimisches Land, was für große Sympathien auf afghanischer Seite gesorgt hat. Das hat auch die USA erkannt, so dass die Türkei während der NATO-Mission Resolute Support die Führung des strategisch wichtigen Hauptquartiers am Flughafen Kabul übernehmen durfte.
Generell verfolgte die Türkei im Afghanistan-Einsatz jedoch eine andere Strategie als die übrigen NATO-Länder: Von Anfang an lehnte sie es ab, sich an militärischen Aktionen gegen die Taliban, an der Terrorbekämpfung oder an der Operation gegen Drogenhandel zu beteiligen. Der Militäreinsatz der Türkei war also weniger militärisch, sondern eher symbolisch: Sie investierte Geld in Bildung und Kultur, förderte die Kooperation zwischen türkischen und afghanischen Unternehmen und ließ Schulen bauen, an denen auch Türkisch gelehrt wurde. An der eher neutralen Haltung zur islamistischen Taliban hat sich bis heute nichts geändert.
Doch woher kommt diese Haltung und was hat die Türkei unter Erdoğan davon, wenn sie sich den Taliban dermaßen anbiedert?
Erstens ist es kein Geheimnis, dass es ideologische Überschneidungen zwischen den Taliban und Erdoğans islamisch-nationalistischer Politik gibt, immerhin hat der türkische Staatschef dies selbst zugegeben. Die vergangenen 19 Jahre AKP-Herrschaft bestätigen das: Die Türkei entwickelte sich immer mehr zu einem islamistischen Land, zum Beispiel als 2019 der türkische Nachrichtendienst mit dem sogenannten „Islamischen Staat“ kooperierte.
Zweitens könnte es sein, dass die Türkei Interesse an den wertvollen Bodenschätzen hat, die sich in Afghanistan befinden. Schon vor circa zehn Jahren hat die türkische Ölfirma Türkiye Petrolleri Anonim Ortaklığı (TPAO) 100 Millionen US-Dollar in die Bohrung von Ölfeldern im Norden des Landes investiert und so die Weichen für afghanisch-türkische Wirtschaftsbeziehungen gestellt. Aber Erdoğan ist nicht der Einzige, der diese Strategie fährt. Gestern hat die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums durchsickern lassen, dass China nach der Machtübernahme der Taliban auch bereit ist, die Beziehungen zu Afghanistan zu intensivieren.
Andere von sich abhängig machen
Aber die wichtigste Strategie, die die Türkei verfolgt, ist wohl eine andere: Sie möchte sich von ihren NATO-Partnern und den anderen „westlichen“ Mächten abheben, zugleich jedoch nicht an Macht verlieren. Insbesondere in Vorderasien möchte Erdoğan das Sagen haben – und es sich deswegen mit niemanden verspaßen, nicht einmal mit den islamistischen Taliban. Bisher geht dieser Plan auf, schaut man sich nur den menschenverachtenden „Flüchtlingsdeal“ an. Selbst jetzt, wo Tausende Menschen aus Afghanistan flüchten, viele von ihnen über den Iran in die Türkei, steht die EU vor der Tür der Türkei, um den Deal zu verlängern. Erdoğan schafft es, andere Mächte von ihm abhängig zu machen.
Dass die EU abermals für Fluchtabwehr bezahlen möchte, kommt Erdoğan sehr gelegen, denn Geflüchtete ins Land zu lassen kostet ohnehin Wähler:innenstimmen. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2019 möchten nur noch 40 Prozent der Bevölkerung mit syrischen Geflüchteten in einer Stadt leben, 2016 waren es noch 72 Prozent. Vor einigen Tagen gab Erdoğan in einem langen Interview seine Migrationsstrategie bekannt: Eine Mauer im türkisch-iranischen Grenzgebiet, so ähnlich wie zur syrischen Grenze, soll einen starken Migrationszuwachs verhindern. Daran lässt sich gut erkennen, wie widersprüchlich die Türkei handelt: Auf der einen Seite möchte sie keine Geflüchtete ins Land lassen, auf der anderen Seite unterstützt sie offen ein Regime, das für die Flucht von Millionen von Menschen verantwortlich ist.
Letztendlich legt das Chaos in Afghanistan offen, was Erdoğan schon seit Beginn seiner Amtszeit vorhatte: Die Macht der Türkei über die türkischen Grenzen hinweg ausweiten. Das macht er auch andernorts: Durch den Einmarsch ins kurdische Afrin in der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien versucht er, kurdische Städte zu türkisieren. Im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan unterstützt die Türkei die aserbaidschanische Seite durch Drohnen und sichert sich so Ansehen bei der dortigen Bevölkerung. Auch, dass die Türkei im libyschen Bürgerkrieg militärisch interveniert hat, ist Ausdruck türkischer Hegemonialansprüche. Selbst in Somalia und Katar befinden sich mittlerweile türkische Militärstützpunkte.
All das erinnert an die Strategie des Osmanischen Reichs: Immer mehr Einfluss gewinnen, indem immer mehr Länder überrannt werden. Erdoğan verfolgt eine neo-osmanische Strategie. Wer für dieses Vorhaben sogar mit den Taliban flirtet, der ist scheinbar besessen von Macht. Klar bleibt aber auch, dass dieses Kalkül zumindest für das Osmanische Reich nicht gut ausging: Wie imperiale Ambitionen 1918 schließlich zur militärischen Niederlage und zum Untergang des Reiches führten, lässt sich heute in den Geschichtsbüchern nachlesen.
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