11.06.2021
Eine türkische Lovestory
Entscheidungen mal in die eine, mal in die andere Richtung - Cem Bozdoğan wirft den politischen Akteuren in der Türkei Opportunismus vor. Illustration: Kat Dems
Entscheidungen mal in die eine, mal in die andere Richtung - Cem Bozdoğan wirft den politischen Akteuren in der Türkei Opportunismus vor. Illustration: Kat Dems

Türkische Serien handeln oft von Intrigen, Korruption und Opportunismus. In der türkischen Politik sieht das ganz ähnlich aus – und zwar nicht erst seit gestern, meint Cem Bozdoğan.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Von Lateinamerika bis Südostasien: Weltweit gucken und feiern Menschen türkische Serien. Sie handeln oft von Liebe und Sehnsucht, aber auch von dunklen Machenschaften und – besonders häufig – von Opportunismus. Ein Klassiker ist zum Beispiel die Serie Kurtlar Vadisi (auf Deutsch: „Tal der Wölfe“), die von 2003 bis 2005 und dann noch einmal von 2007 bis 2016 ausgestrahlt wurde. Bis heute zählt sie zu den bekanntesten türkischen Serien. Der Hype ging so weit, dass einige Imame in der Türkei ein Todesgebet gesprochen haben als eine der Hauptfiguren in der Serie gestorben ist.

Kurtlar Vadisi handelt von einem Spezial-Agenten des türkischen Staates, der seinen Tod vortäuscht, um mit einer neuen Identität Mafia-Strukturen zu durchbrechen. Dann kooperiert er selbst mit den größten Mafiabossen, um so nicht nur an wichtige Informationen, sondern auch an Macht zu kommen. Die Serie war ein Riesenerfolg in der Türkei, der Hauptcharakter Polat Alemdar ist mittlerweile eine Kultfigur.

Ich konnte nie etwas mit türkischen Serien anfangen, noch weniger mit einer wie Kurtlar Vadisi, die rassistische und antisemitische Bilder reproduziert. In Folge 288 erzählt Polat Alemdar, dass die Welt nur von einer Elite regiert wird, zu der die USA und Israel auch gehören. Im gleichnamigen Film wird ein jüdischer Arzt als Mafiosi dargestellt, der Gefangenen Organe entnimmt und sie im Ausland verkauft. Abgesehen davon fand ich die Serie immer zu aufgesetzt, die Charaktere waren mir zu opportunistisch und die Geschichten insgesamt einfach zu unrealistisch.

Zu unrealistisch? Was sich derzeit in der Türkei abspielt, könnte aus dem Drehbuch von Kurtlar Vadisi stammen: Seit Wochen veröffentlicht der ultranationalistische, türkische Mafiaboss Sedat Peker jeden Sonntag ein Video, in welchem er Informationen über dunkle Machenschaften der türkischen Regierung preisgibt und schwere Vorwürfe gegen hochrangige Politiker:innen erhebt. Die Unterwelt kennt er nur zu gut, denn als Mafiosi kooperierte er selbst lange mit der Regierung.

Erst loyal, dann egal

Pekers Handeln ist Opportunismus pur. Zwischen 1998 und 2007 war er wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung zwei Mal in Haft. 2013 kam er wegen des Verdachts, Erdoğan im Rahmen eines Putschplans stürzen zu wollen, wieder ins Gefängnis, wurde jedoch durch einen richterlichen Beschluss nach wenigen Monaten wieder freigelassen.

Damit kam auch die Kehrtwende: Peker wurde plötzlich zum leidenschaftlichen Anhänger Erdoğans – und zwar einem sehr brutalen. Immer wieder griff er Oppositionelle an. Wegen einer verfassungsfeindlichen Aussage wurde er zwar angeklagt, aber schlussendlich nicht bestraft: Er sagte über die Initiator:innen der Petition „Akademiker:innen für Frieden“, dass er sie erhängen und in ihrem Blut baden möchte. Für viele ist das ein Hinweis dafür, dass er von der Regierung geschützt wurde. Nach dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 schwor er Erdoğan sogar seine Loyalität.

Mit der Loyalität dürfte jetzt allerdings Schluss sein. Im Januar 2020 floh Peker ins Ausland, weil er vermutete, dass die Regierung ihn loswerden wollte. Denn Pekers Mafia-Rivale Alaattin Çakıcı wurde unter dem Vorwand einer landesweiten Covid-19-Amnestie freigelassen. Peker hingegen fürchtete, dass dieser ihn selbst ersetzen sollte. Insiderwissen zufolge sei das der Einfluss der rechtsextremen Koalitionspartei MHP, der Peker kritisch gegenübersteht. Ob es wohl wirklich der Plan der türkischen Regierung war, Peker durch Çakıcı zu ersetzen?

In seinen aktuellen YouTube-Videos greift Peker nie Erdoğan persönlich an, sondern belastet seine Regierungsmitglieder: Der Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım, Erkan Yıldırım, soll in Drogengeschäfte verwickelt sein. Innenminister Süleyman Soylu wiederum soll durch Deals mit der Mafia politischen Rückhalt bekommen haben.

Die Gerüchte bringen Erdoğan in Erklärungsnot – und genau das könnte Pekers Strategie sein. Um die Gunst der Regierung zurückzugewinnen, erpresst er sie und stellt sie an den öffentlichen Pranger. Pekers Videos sind der raffinierte Streich eines Opportunisten, der jetzt wieder um Unterstützung buhlt.

Opportunismus und Machtbesessenheit haben in der Türkei eine lange Tradition. Schon Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gab 1919 vor, mit kurdischen Gruppen kooperieren zu wollen, um nach dem Kollaps des Osmanischen Reiches einen gemeinsamen türkisch-kurdischen Staat zu gründen. Anstelle des versprochenen multiethnischen Staates erlebten Kurd:innen und andere Minderheiten nach dem gewonnenen Krieg Assimilation, Vertreibung und Folter – Atatürk hingegen wird fast 100 Jahre nach der Staatsgründung immer noch geliebt und gefeiert.

Opportunismus als türkische Staatsräson

Bis heute zieht sich diese Masche durch die Geschichte der türkischen Republik. Als Erdoğan 2003 zunächst zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, hat er schnell erkannt, dass ihm ein positiverer Umgang mit der kurdischen Bevölkerung mehr Wähler:innenstimmen aus den kurdischen Provinzen einbringen könnte. So war er bemüht, Kurdisch als Muttersprache in Schulen einzuführen, gründete einen kurdischen Radio- und Fernsehkanal und versprach, die Infrastruktur in den kurdischen Gebieten zu verbessern. Ebenso stieß er einen Friedensprozess mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK an, die seit den 1970ern einen bewaffneten Kampf gegen den Staat führt. Das alles führte dazu, dass Erdoğan bei den Parlamentswahlen 2007 und 2011 viele Provinzen für sich gewinnen konnte, in denen vorher pro-kurdische Parteien oder Kandidat:innen gesiegt hatten.

Später zeigte Erdoğan sein wahres Gesicht: Nach den Wahlen im Juni 2015 erreichte die prokurdische HDP ein historisches Ergebnis von 13,2 Prozent und verhinderte damit, dass Erdoğans AKP die absolute Mehrheit im Parlament bekam. Es verging nicht einmal ein Monat, da erklärte Erdoğan die Friedensverhandlungen für gescheitert. Wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK ließ er unzählige kurdische Politiker:innen verhaften. Auch der ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, ist immer noch im Gefängnis und wird an der nächsten Präsidentschaftswahl womöglich nicht teilnehmen können.

Kaltblütig, kalkuliert und machtbesessen: So wie Erdoğan mit Kurd:innen umgeht, wirkt er wie die Real-Life-Version eines opportunistischen Seriencharakters. Aber nicht nur Erdoğans AKP handelt politisch so, wie es ihr gerade am besten passt. Die rechtsextreme MHP koaliert heute mit der AKP, vor sechs Jahren wäre das noch undenkbar gewesen. Kein Wahlkampf verging, ohne dass MHP-Chef Devlet Bahçeli seinen heutigen Koalitionspartner Erdoğan als niederträchtig und ehrlos beleidigte. Nur einige Jahre später, bei den Wahlen 2018, einigten sich beide Parteien auf einmal auf eine Allianz. Ob die MHP wohl erst dann begriffen hatte, dass eine Koalition mit der AKP ihre einzige Chance ist, sich an der Regierung zu beteiligen?

Nicht nur türkische Lovestories im Fernsehen sind also überdramatisch und verlogen. Auch in der Politik findet sich die ein oder andere Intrige. Und wenn ich ehrlich sein darf: Von türkischer Politik halte ich genauso wenig wie von türkischen Serien.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite. 

 

 

 

Cem Bozdoğan studierte Sozialwissenschaften in Düsseldorf und Gewalt- und Konfliktforschung in London. Heute arbeitet er als Redakteur für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und schreibt als freier Autor, vor allem über Themen aus Kurdistan und der Türkei.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Johanna Luther