Das Narrativ der israelischen Besatzung palästinensischen Gebiets gehört fest zum globalen Verständnis des Konfliktes. In Israel war der Diskurs vor allem im linken politischen Spektrum lange prominent. Doch nach fünfzig Jahren ist das Narrativ vom Aussterben bedroht. Was als schleichender Krieg der Worte begann, ist seit einiger Zeit offizielle Staatspraxis.
Es gibt zwei Hauptquellen des Völkerrechts, in denen festgelegt ist, unter welchen Umständen von Besatzung die Rede ist: Die Haager Abkommen (1907) und die vier Genfer Konventionen von 1949.
Die Haager Abkommen erklären: „Ein Gebiet gilt als [b]esetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres befindet. Die Besetzung erstreckt sich nur auf die Gebiete, wo diese Gewalt hergestellt ist und ausgeübt werden kann.“
Während die Teilverwaltung der Westbank und des Gazastreifens durch die Palästinensische Autonomiebehörde einige Unklarheiten bezüglich dieser Definition auslöst, bieten die vier Genfer Konventionen Klarheit: Jedes Gebiet, das auf Grund internationaler Feindseligkeiten eingenommen wurde, gilt als besetzt. Die Konventionen schützen Personen „die sich im Falle eines Konflikts oder einer Besetzung zu irgendeinem Zeitpunkt und gleichgültig auf welche Weise in der Gewalt einer am Konflikt beteiligten Partei oder einer Besetzungsmacht befinden, deren Staatsangehörige sie nicht sind.“
Infolge des Kriegs von 1967 ist die Westbank nach der Genfer Konvention ein von Israel besetztes Gebiet, und die palästinensischen Einwohner der Westbank sind Personen, die unter der Besatzung leben (da sie keine israelische Staatsbürgerschaft haben). Diese Einschätzung wird von den Vereinten Nationen, dem Internationalen Gerichtshof, der Europäischen Union und dem US-Außenministerium geteilt. Selbst Israels Oberster Gerichtshof stellte im Jahr 2004 fest, dass die Westbank durch Israel "kriegführend besetzt" ist.
Trotzdem löst diese Tatsache des Völkerrechts im israelischen innenpolitischen Diskurs weiterhin heftige Auseinandersetzungen aus. Was als eine polarisierte öffentliche Debatte über Israels Identität und Platz im Nahen Osten begann, wird zunehmend vom israelischen Staat unterdrückt. Somit droht die Leugnung völkerrechtlicher Fakten nun die liberalen Werte zu untergraben, die Israel seit seiner Gründung für sich beansprucht. Um zu verstehen, wie es soweit kommen konnte, lohnt sich eine historische Sichtweise auf die Entwicklungen in diesem Krieg der Worte.
Eine Chronologie des Besatzungsnarrativs in Israel
1967: Die Besatzung beginnt
Der Krieg von 1967 führte zur israelischen Einnahme der Westbank von Jordanien und des Gazastreifens von Ägypten und leitete damit die Besatzung ein. Er war gleichzeitig ein Durchbruch für religiöse Zionisten, die sich in ihrem Anspruch auf das gesamte Land zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer bestärkt fühlten.
1977-1983: Die Ära Begin
Menachem Begin, der sechste Premierminister des Staates Israel und der erste Likud-Politiker, der eine israelische Regierung leitete, forcierte den Siedlungsprozess, nicht nur aus sicherheitspolitischen, sondern auch aus ideologischen Gründen. Begin war ein starker Befürworter des historischen Anspruchs des jüdischen Volkes auf „Judäa und Samaria“ und lieh damit Chaim Herzog, dem damaligen israelischen Botschafter in den Vereinten Nationen, ideologische Unterstützung für die Behauptung, dass „Israel nach der Genfer Konvention in allen Teilen des ehemaligen britischen Palästinamandats einschließlich Judäa und Samaria nicht als eine ‚Besatzungsmacht’ gelten kann“.
Zwar schwand bereits seit der ersten Rabin-Regierung (1974-1977) und dem Wechsel des Verteidigungsministeriums von Moshe Dayan an Shimon Peres der Widerstand gegen die Siedlerbewegung. Jedoch bestand im Diskurs der sozialdemokratischen Vorgängerregierungen zumindest die prinzipielle Bereitschaft zu einer Rückkehr zu den Grenzen, die den Waffenstillstandslinien von 1949 ähneln. Deren Narrativ zufolge wäre die Besatzung der Westbank und des Gazastreifens nur temporär. Gegen diese Grundhaltung ist die erste Likud Amtszeit, einschließlich der aktiven Ermutigung von Siedlungen (1981), ein frühzeitlicher Angriff auf das Besatzungsnarrativ.
1993-1995: Oslo und die Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde
Die Osloer Abkommen (1993), Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde (1994) und Oslo II (1995) markierten gemeinsam einen Umschwung im Hinblick auf den Besatzungsdiskurs. Der Palästinensische Staat wurde durch den Friedensprozess nicht offiziell anerkannt. Trotzdem signalisierte das Ergebnis der palästinenesischen Teilverwaltung der Westbank und des Gaza-Streifens (mit dem Ziel der zukünftigen Selbstverwaltung) eine politische Anerkennung, der Tatsache, dass die Präsenz Israels in den besetzten Gebieten nur vorübergehend sei. Während der vereinbarte Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten das Besatzungsnarrativ zu bestätigen schien, haben viele Gegner des Besatzungsdiskurses seitdem die palästinensische Interimsregierung benutzt, um zu behaupten, dass die Besatzung bereits 1993 beendet wurde. Solche Argumente ignorieren, dass die palästinensische Verwaltungsautonomie in vielerlei Hinsicht begrenzt und den Entscheidungen des israelischen Militärs untergeordnet ist.
2003: Ariel Sharon erkennt die Besatzung an
Der Beginn des 21. Jahrhunderts brachte eine hitzige Diskussion über die Gültigkeit des Besatzungsdiskurses mit sich und enthüllte wie sehr die Besatzungsleugnung Teil des israelischen Mainstreams geworden war. Nach dem Scheitern der Camp David Gespräche (2000) und dem Ausbruch der zweiten Intifada gebrauchte Ariel Sharon, ein Gründer des Likud und Israels 11. Premierminister, 2003 zum ersten Mal öffentlich das Wort „Besatzung“ und erklärte, dass er „glaube, die Vorstellung, 3,5 Millionen Palästinenser unter Besatzung zu halten, ist das Schlechteste für Israel, die Palästinenser und die Wirtschaft“.
Die explizite Kritik an der Besatzung durch den rechtskonservativen Premierminister löste in der eigenen Partei jedoch aggressive Gegenreaktionen aus und zeigte, wie kontrovers der Begriff „Besatzung” geworden war. Ein solcher Widerstand gegen die Anerkennung der Besatzung drückte sich unter anderem in einem Verbot aus, Israelische-Araber über die "Nakbah" (die Flucht und Vertreibung von etwa 700 000 Palästinensern aus ihren Heimatsdörfern und -städten in den Jahren 1947-1949) in der Schule zu unterrichten.
Sharons darauf folgende Trennung vom Likud führte außerdem zu einem strategischen Umbruch innerhalb des rechten politischen Lagers, welches expansive territoriale Ansprüche zuvor weitgehend aus Gründen der Sicherheit gerechtfertigt hatte. Von nun an verschmolzen diese Ansprüche mit der Fortsetzung des Zionismus. Der „Zionismus“ der Likud sah von nun an die Ausdehnung Israels auf die Westbank als Selbstzweck. Dieses Narrativ erwies sich als außerordentlich erfolgreich, indem es öffentlichkeitswirksame Angriffe auf die israelische Linke ermöglichte. Die Gegner des Likuds wurden nun als unpatriotisch und als „keine echten Zionisten“ dargestellt.
2012: Der Levy Report bestreitet die Besatzung
Bis 2012 wurde immer deutlicher, dass die Besatzungsleugnung in Israel die Oberhand erlangt hatte. Der 2012 vom aktuellen Likud-Premierminister, Benjamin Netanjahu, kommissionierte Bericht mit dem Titel „Report on the Legal Status of Building in Judea and Samaria“ (der Levy Report) ignorierte mehrere Entscheidungen des israelischen Obersten Gerichtshofs und dutzende UN-Beschlüsse und behauptete, dass die israelische Präsenz im Westjordanland völkerrechtlich keine Besatzung sei und dass israelische Siedlungen dort nach internationalem Recht legal wären.
Diese Einschätzung beruht auf der mutmaßlichen Rechtswidrigkeit der jordanischen Präsenz in der Westbank vor dem in Israel sogenannten Sechs-Tage-Krieg, eine Behauptung, die weder vom US-Außenministerium noch vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes als relevant erachtet wird. Trotz internationaler Kritik bot der Levy Report der Regierung Munition, um die Besatzungsleugnung sowohl in der offiziellen Regierungspolitik als auch im dominanten Mediendiskurs zu verankern.
Ab 2015: Der politisch sanktionierte Angriff auf die "Besatzung"
Seit 2015 hat die regierende Koalition um den Likud ihre Bemühungen verstärkt, jene Stimmen innerhalb der Gesellschaft zu untergraben, die die Besatzung öffentlich hinterfragen. Aktuelle akademische Lehrbücher verweisen nicht mehr auf die Besatzung. Gleichzeitig verurteilen der Bildungsminister Naftali Bennett und der ehemalige Verteidigungsminister Moshe Ya'alon öffentlich NGOs, die die Besatzung kritisieren, wie zum Beispiel Breaking the Silence (BTS), und verbieten ihnen den Zugang zu Schulen und armeenahen Institutionen. Sie werden von Justizministerin Ayelet Shaked unterstützt, die unter Verstoß gegen die Gewaltenteilung von Israels Generalstaatsanwalt gefordert hat, BTS strafrechtlich zu untersuchen. Darüber hinaus griff die Kulturministerin Miri Regev öffentliche Kulturinstitutionen wie das Al-Midan-Theater in Haifa an, weil sie Künstler eingeladen haben, die die Besatzung kritisieren. Zudem verschwanden ähnliche Theaterproduktionen plötzlich aus israelischen Preisverleihungen wie dem israelischen Fringe Theater Festival. Regev drohte sogar Geldstrafen für Theatergruppen an, die sich weigern, in den Siedlungen der Westbank aufzutreten.
Diese Versuche, das Besatzungsnarrativ aus dem öffentlichen Diskurs zu entfernen, wurde sogar auf die Aufnahme von „Treueklauseln“ in Verträge zur Finanzierung von Filmen und Fernsehproduktionen sowie die Einführung eines Gesetzes zur „Loyalität in der Kultur“ ausgeweitet. Damit werden öffentliche Gelder von Selbstzensur abhängig gemacht. Gleichzeitig feierte die Regierung 50 Jahre Befreiung der „Heimatgebiete“ von „Judäa und Samaria“ und versuchte damit, den Besatzungsdiskurs durch eine siedlungsfreundliche Alternative zu ersetzen.
Die Zukunft: Die Erosion eines gemeinsamen Nenners
Die Regierungskampagne zur Leugnung der Besatzung scheint in gewissem Maße gelungen zu sein: 2017 sind 54 Prozent der Israelis (und 63 Prozent der israelischen Juden) entweder „sicher“ oder „denken“, dass Israels Kontrolle über die Westbank nicht als „Besatzung“ bezeichnet werden sollte. Die Mehrheit der israelischen Juden denkt sogar, dass Israel die besetzten Gebiete sofort nach dem Krieg von 1967 hätte annektieren sollen. Von den Israelis, denen bewusst ist, dass „Judäa und Samaria“ nicht offiziell Teil Israels sind, äußerten 10 Prozent ein Interesse daran, diese Gebiete jetzt vollständig zu annektieren.
Während diese Zahlen darauf hindeuten, dass das Besatzungsnarrativ nicht vollständig ausgelöscht wurde, bezeugen sie zugleich die Wirksamkeit einer weit reichenden rechtskonservativen Propagandakampagne, die die öffentliche Meinung beeinflusst und seit einigen Jahren auch keinen Widerspruch mehr duldet. Die Ablehnung des Besatzungsdiskurses ist Teil eines gefährlichen Trends, der die israelische Gesellschaft weiter zu polarisieren und Israel auf der internationalen Bühne zu isolieren droht. In Anbetracht dessen schlug der israelische Präsident Rivlin vor, dass „es Zeit sei, ehrlich zuzugeben, dass die israelische Gesellschaft krank ist“. Damit schließt er sich dem ehemaligen Premierminister Ehud Olmert und dem ehemaligen Verteidigungsminister Ehud Barak in ihrer Kritik an der israelischen Gesellschaft an, insbesondere in Bezug auf den Umgang mit palästinensischen Bürgern in und außerhalb Israels.
Die Palästinenser wiederum haben versucht, den Kampf um Narrative bezüglich der Besatzung in die entgegengesetzte Richtung zu lenken. So forderten sie die Vereinten Nationen auf, ihre internationale Bezeichnung von „palästinensische Gebieten unter Besatzung“ in „einen palästinensischen Staat unter Besatzung“ zu ändern und behaupten, dass die Aktivitäten der Israelis in der Westbank „Siedlerkolonialismus“ sind. Die Ablehnung der rechtlich unumstrittenen Tatsache der Besatzung untergräbt den gemeinsamen Nenner für eine Versöhnung und ein Friedensabkommen mit den Palästinensern. Außerdem untergräbt die Besatzungsleugnung alle Hoffnungen auf die Zwei-Staaten-Lösung, die international als einzige Möglichkeit gesehen wird, sowohl den demokratischen als auch den jüdischen Charakter Israels zu bewahren. Auch die de facto Zensur israelischer Massenmedien und öffentlich geförderter Kulturinstitutionen, sowie die Kampagne gegen besatzungskritische NGOs, stellen allesamt eine Bedrohung für die Demokratie des Landes dar.
Man kann für Israel und die künftige friedliche Beilegung des Konflikts nur hoffen, dass das post-faktische Narrativ der Besatzungsleugnung noch rückgängig gemacht werden kann. Sharon verließ die Likud zweieinhalb Jahre später, um eine neue Partei, Kadima, zu gründen (November 2005). Kadima plädierte später für einen Rückzug aus den Besatzungsgebieten.
Ebenfalls in dieser Serie erschienen:
Alsharq-Serie „1967: 50 Jahre danach.“ Eine Art Vorwort.
Die Vorgeschichte: Wie es 1967 zum Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn kam
Die Kampfhandlungen: Wie Israel 1967 seine Nachbarn überrumpelte
Der Kriegsbeginn 1967 in der Nahost-Presse: Euphorie überall
Fortsetzung der Presseschau: Stell Dir vor, es ist Kriegsende und kaum einer schreibt es
Die Folgen des Juni-Kriegs 1967,in Israel
1967: Wendepunkt für die arabische Linke – am Beispiel von Georges Tarabischi
Der Gazastreifen vor und nach 1967: Von Fremdherrschaft zu Fremdherrschaft
Die Folgen von 1967 in Ägypten: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg
Nasser und der Krieg 1967: Zwischen politischem Kalkül und Improvisation
Wenn über Erinnerungen Gras wächst – palästinensische Ruinen im Ayalon Canada Park
Israel und die Golan-Drusen: 50 Jahre Provisorium
1967 – Als der Zionismus in die eigene Falle ging
Folgen von 1967 in Jordanien: Eine palästinensische Identität entsteht
Vom Messianismus zur Mittelklasse: Israelische Siedlungen im Westjordanland
Ein deutscher Sieg? Verdächtiger Enthusiasmus im Krieg von 1967
Die neuen Pioniere: Siedler im Westjordanland als Erben des Arbeiterzionismus
Über 50 Jahre Mauern im Kopf: Der intra-konfessionelle Streit um die Klagemauer
Gedanken vom Rand des Gazastreifens: „Das Leben ist hier und dort unmöglich“