07.08.2017
Bedingt besiegt: Nach Mossul bedroht der IS von Hawija aus die Öl-Metropole Kirkuk im Irak
Zahlreiche Menschen sind vor den Kämpfen um Mossul geflohen. Bild: Fadel Senna, AFP/Flickr (cc-by 2.0)
Zahlreiche Menschen sind vor den Kämpfen um Mossul geflohen. Bild: Fadel Senna, AFP/Flickr (cc-by 2.0)

Der IS ist aus Mossul vertrieben, das Interesse der Weltöffentlichkeit lässt nach. Doch viele Folgen der IS-Herrschaft bleiben und die Auseinandersetzung mit der Terrororganisation sowie innerirakischen Streitigkeiten gehen weiter. Aus dem Irak berichtet Martin Gerner.

Der kurdische Journalist Rodi Hesen hat dutzende Male ausländische Reporter in das Inferno von Mossul und zurück geführt in den letzten Wochen. Er ist erschöpft davon, seine Stimme schwach: „Was ich in der Altstadt von Mossul gesehen habe“, sagt er, „grenzt an totale Zerstörung. Kein Stein liegt mehr auf dem anderen. Man kann den Tod riechen. Vielerorts liegen Leichen, menschliche Kadaver. Körperteile ragen unter Ruinen hervor. Die Menschen sind bis auf die Rippen ausgehungert. Ihre Knochen stehen hervor. Sie verlangen nach Wasser, etwas zu essen. Viele sind ohne ein Dach über dem Kopf.“

Als gebürtiger Syrer findet er: „Zwischen Aleppo und Mossul gibt es keinen Unterschied. Beides sind Tragödien von unbeschreiblichem Ausmaß. Für die Menschen und die Jugend von Mossul wird es schwer, in ihrem Leben überhaupt noch einmal zu träumen, eine Perspektive zu entwickeln.“ Und er sagt auch: „Die Menschen haben nach wie vor die Angst, dass der IS zurückkehren könnte.“

Tatsächlich sind die Waffen in Mossul noch immer nicht vollständig zum Schweigen gekommen. Regelmäßig kommt es zu Rachemorden an mutmaßlichen Sympathisanten des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS), von denen es offenbar letzten Widerstand gibt. Auch Angehörige der irakischen Armee stehen im Verdacht, Selbstjustiz zu üben.

„Noch schlimmer als die Zerstörung der Stadt ist, was der Krieg in den Köpfen angerichtet hat“, sagt Sameer Hasan. Er ist Menschenrechtsaktivist in Kirkuk und stammt aus Mossul. Ein Teil seiner Familie lebt im Kampfgebiet. Er selbst in der Öl-Metropole Kirkuk, zwei Autostunden entfernt. „Viele Menschen haben Söhne, Kinder oder Angehörige verloren. Sie wollen Revanche, Rache. Andere glauben nach wie vor an Daesh, also den IS.“

Hasans Familie spiegelt die Vielfalt des Irak wider: „Wir sind eine gemischte Familie. Ich bin aus Mossul, ein Sunnit. Meine Frau ist Kurdin und Sunnitin. Meine Schwester hat einen Schiiten geheiratet. Meine Nichte einen Turkmenen. Die Verbindungen gehen quer durch die Ethnien, vom Nord- bis zum Südirak. Wenn es ein Problem gibt, lösen wir es gemeinsam.“

Ein einträchtiges Familienbild. Aber warum funktioniert in der Politik nicht, worauf Hasan im Kleinen stolz ist? „Als der IS in Mossul Einzug hielt, versprach er unter anderem, dass Besitz nicht angetastet werde. Er wollte die Menschen in Sicherheit wiegen. Neunzig Prozent der Araber sind zunächst geblieben, außer den Christen. Jesiden ebenfalls nicht. In den ersten sechs Monaten unter dem IS fuhr mein Bruder mit dem Auto von Mossul nach Kirkuk und zurück. Das war möglich. Erst danach zeigte der IS sein wahres Gesicht. Man sah es an den Schulen. Da wurde jetzt Krieg unterrichtet. Viele Eltern weigerten sich, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Die Menschen in Mossul sind gebildet. Viele rechnen sich zum Bürgertum. Das führte zu Konflikten. Die IS-Propaganda wollte dagegen volle Klassensäle präsentieren. Mein Bruder, der in Mossul wohnt, weigerte sich, seine Kinder in die Schule zu schicken.“

Alle wollen gegen den IS gewesen sein

Heute wollen alle nur noch gegen den IS gewesen sein. Opfer. Deutsche kennen diese Form der Selbstverleugnung vom Kriegsende 1945. Bei Hasan gibt es erst einmal keinen Grund, ihm nicht zu glauben: „Anfangs war Internet erlaubt, später dann verboten. Auch Telefonieren war verboten. Mein Bruder versteckte deshalb die Einzelteile seines Handys an verschiedenen Orten, damit der IS sie nicht finden würde: die Batterie an einem Ort, das Gerät an einem anderen, und die SIM-Karte trug seine Frau in ihrem Büstenhalter. Zum Telefonieren schickten sie ihre Kinder vor die Tür. Sie sollten da so viel Krach machen wie möglich, um die vom IS abzulenken. Eine Nachbarsfrau hat so telefoniert, und wurde erwischt. Sie haben sie getötet.“

Eine andere Begegnung mit Mossul: Surod Falih ist Anfang 40. Sie leitet in Kirkuk das Büro von Al-Amal, „die Hoffnung“, einer irakischen Hilfsorganisation, die Vertriebene unterstützt. Viele leben notdürftig in Zeltstädten der Provinz Kirkuk. Falih hat in Mossul studiert und hat nach wie vor Bekannte dort.

„Als ich neulich eine Freundin in Mossul kontaktiert habe, erzählte sie mir: Männer belästigen jetzt immer mehr Frauen. Sie beschimpfen sie wüst. Die Frauen versuchen, nachdem der IS weg ist, ihren Niqab oder Schleier langsam wieder abzulegen. Trotzdem gehen sie oft noch in Begleitung auf die Straße. Wenn sie das nicht tun, müssen sie allerlei Beschimpfungen und Anmache ertragen. Das ist neu und eine Folge des IS. Das hat es vorher nicht gegeben in Mossul.“

Falih kämpft als Anwältin in Kirkuk gegen Zwangsehen und Gewalt gegen Frauen: „Mossul war eine der schönsten Städte, an die ich mich erinnere. Wir nennen sie die Stadt der zwei Frühlinge. Ich denke an die Heilbäder von Hammam al-Alil, die berühmt waren für ihr Sulfat-Wasser. Die Universität von Mossul galt als eine der besten. Man war froh, wenn man seinen Abschluss von hier hatte.“

Dem IS dagegen geht es nicht um Hochschulbildung. Die Fundamentalisten setzten bei Kindern und Jugendlichen an, wie häufig in totalitären Regimen. „In den drei Jahren unter dem IS ist eine Generation herangewachsen, deren Denken auf das Äußerste manipuliert worden ist. Frauen werden darin nicht als Wesen mit Würde behandelt, sondern behandelt wie Vieh. Man verkauft Frauen.“

Warum aber blieben so viele Menschen in Mossul? Immerhin eilte dem IS beim Einmarsch in die Stadt im Juni 2014 ein schlimmer Ruf voraus. „Dass Daesh, der IS also, Mossul erobern konnte, war auch Ergebnis der schwachen irakischen Zentralregierung“, so Sameer Hasan. „So konnte überhaupt der Wunsch nach Veränderung aufkommen. Obwohl es Warnungen vor dem IS gab. Aber die Regierung nahm sie nicht ernst. Und obwohl die irakische Armee schwere Waffen hatte und die Stadt damit hätte verteidigen können, zogen sie ab.“

Tausende irakische Soldaten kapitulierten 2014 vor Hunderten von IS-Kämpfern – so Agenturberichte. Sie überließen dem IS schwere Munition. Eine Schmach für Bagdad. Wohl deshalb zeichnet die Propaganda der irakischen Regierung das Bild einer glorreichen Rückeroberung durch die Armee und versucht in diesen Tagen Schlagzeilen von Menschenrechtsverletzungen um jeden Preis zu verhindern. Hussam Salim, Jeside und wohnhaft in Erbil, arbeitet in den Lagern mit Flüchtlingen aus Mossul: „Viele, die sich später dem IS anschlossen, waren Offiziere und Soldaten der Baath-Partei von Saddam Hussein. Anfangs gaben sie sich säkular, bis in die 80er-Jahre. 1991 hat Saddam Hussein nach dem Kuwait-Krieg dann eine Islamisierung verordnet. Gebete und Moschee-Gänge gehörten von da an zum Programm. Das war der Startpunkt einer Radikalisierung, die über Abu Musab al-Zarkawi, den Gründer von al-Qaida im Irak, bis zu Daesh heute reicht. Es ist eine lineare Entwicklung.“

Die Flüchtlingslager von Mossul

Debaga ist eines von Dutzenden Lagern für IDPs (Internally Displaced Persons), Binnenvertriebene des Krieges um Mossul. Es liegt wie viele der Camps im kurdischen Nordirak, der die Flüchtlingshilfe angesichts der eigenen tiefen Wirtschaftskrise selbst immer schwerer schultern kann. 2016 war Debaga mit bis zu 40.000 Vertriebenen aus Mossul eines der größten Flüchtlingslager. Seit März dieses Jahres ist die Zahl geschrumpft, nachdem erste Familien in vom IS befreite Gebiete zurückgekehrt sind.

„Es gibt nicht genügend Hilfe hier. Wir haben keinen Strom. Wir brauchen einen Generator“, klagt eine Frau, die mit ihrer Familie ein Zelt bewohnt. „Die Hitze bringt einen um. Mein Kind ist gerade 14 Tage alt. Es ist unerträglich. Ich hasse das Lagerleben.“

 European Commission DG Echo/Flickr. (CC-BY-NC-ND 2.0) Blick ins Lager Debaga (2016). Foto: European Commission DG Echo/Flickr. (CC-BY-NC-ND 2.0)

Oft sind es jetzt 45 Grad im Schatten, 55 Grad in den Zelten. Der Wind bläst wie Feuer hindurch. Mütter bedecken deshalb die Leiber ihrer Babys mit wassergetränkten Tüchern. Alle paar Minuten. Damit die winzigen Körper nicht austrocknen. Unter den Tüchern sehen die Körper der Kleinen aus wie Leichen.

In Debaga kann es vorkommen, dass Opfer und Täter Zelt an Zelt wohnen. Die junge Frau erzählt von der Tragödie in der eigenen Familie: „Unser Onkel hat auf Seiten des IS gekämpft. Als die Peschmerga ihre Offensive starteten, zwang er Teile unserer Familie, mit dem IS zu bleiben. Später wollte er uns zwingen, mit nach Raqqa zu gehen, die Hochburg des IS in Syrien. In dem Moment haben wir unsere Flucht geplant.“

Viele Vertriebene wollen vorerst im Lager bleiben. „Es ist noch zu unsicher, zurückzukehren“, sagt eine junge Frau in rosa Kleidern. „Es gibt weiterhin viele Leute in Mossul, die mit dem IS sympathisieren. Davor fürchte ich mich. Meine Familie bleibt erstmal in den kurdischen Gebieten hier, das ist sicherer.“

In Debaga kommen an diesem Tag Dutzende von Lehrern zusammen. Sie planen das kommende Schuljahr. Ziel ist ein ganztägiger Unterricht. Oft bleibt das ein Traum, weil es an Zelten, Büchern und Lehrkräften fehlt.

„Ich habe drei Söhne. Einer ist an der Uni, die anderen in der 9. und 6. Klasse“, so ein Lehrer und Familienvater. „Alle können zur Zeit weder in die Schule gehen noch studieren. Alles wegen des IS. Unsere Aufgabe als Lehrer ist es, den Kindern zu helfen, den IS zu vergessen. Wir versuchen das, was wir psychologisch kennen. Wir versuchen, den Schülern ein Minimum an Sicherheit zu vermitteln, damit sie so wenig wie möglich an die verlorene Zeit denken.“

Die Klassen im Lager umfassen oft 60 bis 80 Kinder. Konzentrieren kann sich keiner dabei. Neue Flüchtlinge stoßen regelmäßig dazu. Weil es oft nur wenige Stunden Unterricht und kaum Angebote an die Jugend im Lager gibt, befürchtet Salim Hussam: „Die Kinder wurden in den Schulen durch die IS-Methoden indoktriniert. Wenn sie so mit dem Finger zeigen, ist das ein Daesh-Zeichen. Andere spielen mit Messern, bedrohen andere Kinder. Wieder andere wachen auf und wollen als erstes beten, das ist alles noch im Umgang, den sie vom IS haben. Kinder übernehmen solche Dinge, wie man das im Alter von neun oder zwölf eben tut. Es ist ein ganzes System, das sie zu Kämpfern machen sollte.“

Neue IS-Hochburg Hawija?

Rund 150 Kilometer südöstlich von Mossul liegt der Bezirk Hawija. Es ist einer von vier Bezirken der Provinz Kirkuk. Geschätzte 70.000 Menschen leben heute noch dort. Als der IS im Juni 2014 in Richtung Bagdad vorstieß, zählte der Bezirk Hawija 290.000 Einwohner, 117.000 davon in Hawija-Stadt. Der Rest in rund 200 Dörfern rundum.

„Der IS hat Hawija am 10. Juni 2014 eingenommen. Ich habe als Journalist dort gearbeitet. Mehrere Monate habe ich recherchiert über den IS. Bis der IS einen Aufruf startete, mich zu verfolgen“, sagt Yassin Sabawi, Anfang 30. Ich treffe ihn in Kirkuk, in den Räumen einer Hilfsorganisation. Der junge Journalist zeigt Internet-Links und Online-Zeitungen, für die er geschrieben und über den IS veröffentlicht hat. „In ihren Augen bin ich ein Ungläubiger, der mit Ausländern gemeinsame Sache macht und der deshalb aus dem Weg geräumt werden sollte. Ich habe darüber geschrieben, wie der IS seine Anhänger rekrutiert und umwirbt. Ich war auf öffentlichen Plätzen und habe gesehen, wie sie ihre Filme und Zeitungen unter die Menschen bringen.“

Die Anwältin Surod Falih kennt Hawija von ihrer früheren Arbeit. „Hawija ist eine von Landwirtschaft geprägte Region mit vielen Feldern. Früher haben wir Zeugnisse für die besten Bauern dort vergeben. Hawija-Stadt ist sunnitisch geprägt. Unter Saddam Hussein genoss es den Schutz des Regimes. Die Agrarwirtschaft modernisierte sich damals. Weizen, Getreide, Gemüse wuchsen gut und reichlich.“

„Wenn ein Bauer jetzt ernten will auf seinen Feldern, muss er das anmelden“, so Yassin Sabawi. „Der IS erhebt Zwangsabgaben auf die Ernte. Einige Tausend stehen zum IS in Hawija. Die Mehrheit aber hungert und leidet unter der Herrschaft.“

Wann befreien irakische Armee und die Anti-IS-Koalition nach Mossul auch Hawija? Der Sieg über das sogenannte IS-Kalifat erscheint als passender Zeitpunkt. Trotzdem passiert bislang nichts. Warum?

„Die Zentralregierung in Bagdad und die kurdische Regierung sind sich uneins über den Zeitplan für einen Angriff. Die kurdische Regierung fürchtet, dass schiitische Milizen, die mit der irakischen Armee kämpfen, ihre Stellungen ausbauen könnten.“ Nach Ansicht von Sabawi wäre die Befreiung von Hawija ein Leichtes im Vergleich zu den monatelangen Kämpfen in Mossul: „Es bräuchte eine Woche, um den IS in Hawija zu besiegen. Es ist einfacher einzunehmen. Man bräuchte keinen Häuserkampf wie in der Innenstadt von Mossul.“

 NordNordWest/Wikipedia (cc-by-sa 3.0) Die Karte zeigt die geografische Lage von Mossul und Tal Afar. Hawija liegt etwas westlich von Kirkuk. Bild: NordNordWest/Wikipedia (cc-by-sa 3.0-de)

Außer in Hawija steht der IS mit seinen Kämpfern im Irak noch in Tal Afar, westlich von Mossul und in den Orten Anah, Rawa und Al-Qaim, 350 Kilometer südwestlich von Mossul. Zunächst soll die Stadt Tal Afar befreit werden, dann erst Hawija. Für die rund 70.000 Menschen dort eine Zumutung. Es fehlt ihnen an Nahrung. Die Preise steigen deshalb inflationär. Luftangriffe haben Krankenhäuser und Noteinrichtungen zerstört. Es fehlt an Medikamenten und Ärzten. Bewohner fliehen vor Hunger und Wassermangel. Ein Angriff wie auf Mossul würde das Leid der Menschen noch verschlimmern, denn er bedeutet auch hier Kämpfe am Boden und aus der Luft.

„Hawija ist an den IS gefallen, weil viele Sunniten sich dort durch die pro-schiitische Regierung in Bagdad schlecht behandelt fühlten“, so Sabawi. „Beamte und Militärs verloren ihre Arbeit und Stellung infolge der US-Intervention und der Regierung Nuri al-Malikis, die daraus hervorging. Es fühlte sich ungerecht für sie an. Später folgten Proteste gegen die Regierung al-Malikis. Ich war unter den Demonstranten damals und wurde vorübergehend inhaftiert.“

Die al-Maliki-Regierung war zwar aus Wahlen hervorgegangen, gestützt auf die Macht des US-Militärs. Unter Paul Bremer, einem US-Diplomaten, hatte die US-Regierung 2003 im Irak die Baath-Partei mit 50.000 und die Armee mit 450.000 Angehörigen mit einem Schlag aufgelöst. Eine soziale Deklassierung für Millionen von Irakern.

Das Ziel der Befriedung schlug ins Gegenteil um. Entlassene griffen zu den Waffen, einige schlossen sich später dem IS an. Heute steht Haidar al-Abadi an der Spitze der irakischen Regierung. Der frühere Premier al-Maliki ist nun Vize-Präsident des Iraks. Beobachter sagen, er halte noch immer die Fäden in der Hand. Dem Iran sei er ein treuer Partner.

„Al-Malikis Regime hat die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten angeheizt“, meint Surod Falih. „Es herrschte quasi Krieg zwischen Anhängern der Glaubensrichtungen. Die Eliten in Hawija verloren ihre Macht. Die USA unterstützten al-Maliki. Viele rächten sich am US-Militär. Auch in Hawija starben viele US-Soldaten.“

Kirkuk, die Öl-Metropole, in Angst vor dem IS

Und heute? Glaubt man westlichen Medien, ist der IS im Irak nach der Befreiung von Mossul am Ende. Das Beispiel Hawija zeigt, dass diese Annahme verfrüht ist. Auch Kirkuk ist ein gutes Beispiel dafür. Die kurdisch-verwaltete Öl-Metropole mit arabischer und turkmenischer Bevölkerung grenzt im Osten an Hawija, das vom IS gehalten wird.

„Die Gefahr ist, dass der IS selbst in der Niederlage noch Selbstmord-Attentäter aussendet. Jetzt ist der IS in Bedrängnis. Seine Gebiete schrumpfen. Niemand will hier noch einmal den IS sehen.“

„Noch einmal den IS sehen“ – damit meint Surod Falih den Oktober des vergangenen Jahres. Damals, die Offensive auf Mossul hatte gerade begonnen, drangen Dutzende von IS-Kämpfern, die mutmaßlich aus Hawija stammten, bis ins Zentrum von Kirkuk vor, verbarrikadierten sich in Gebäuden. Was folgte war ein Kampf über viele Stunden.

„Die turkmenischen Milizen, die uns auch vor dem IS schützen, hatten die Sicherheit in ihrem Stadtteil nicht ausreichend im Griff“, erinnert sich Falih. „IS-Kämpfer konnten dort unbemerkt einen Tunnel graben. So sind sie in die Stadt gekommen.“ Mehrere Mitarbeiter der Hilfsorganisation al-Amal konnten damals die Büros nicht verlassen. „Es passierte morgens. Am Basar sehen sie noch das Gebäude mit den vielen Einschusslöchern. Dort hatten sich einige von ihnen verschanzt. Ein Alptraum! Wir hatten nicht geglaubt, dass der IS Ende 2016 noch ins Zentrum von Kirkuk vorrückt. Wir hatten auf die Peschmerga vertraut.“

Die Kurden verwalten Kirkuk aktuell, nachdem der IS zurückgedrängt wurde. Anspruch auf die Stadt und die sie umgebenden Ölfelder erheben aber auch Araber und Turkmenen. Und der IS, der um Kirkuk noch mindestens 15 Ölfelder besitzt. Der IS taumelt. Geschlagen ist er im Irak noch nicht. In Hawija hat sich – nach der Niederlage in Mossul – ein IS-Führer prompt zum Kalif ernannt.

Das Öl ist der entscheidende Faktor

Beim Konflikt um Hawija spielen auch arabische Stämme eine wichtige Rolle. Scheich al-Jabburi ist Anführer des al-Jabburi-Stammes, einer der drei großen arabisch-sunnitischen Stämme in Hawija. „Die Mehrheit der Araber in Hawija sind gegen den IS. Die arabischen Sunniten wollen aber von der Regierung in Bagdad mit einbezogen werden“, verbirgt er nicht seine Unzufriedenheit über die Regierung in Bagdad. „Wir wollen Teil des politischen Prozesses sein – sonst wird es schwer mit der Befreiung von Hawija.“

Al Jabburi findet ebenfalls, dass das mangelnde Vertrauen zwischen den Kurden und der Regierung in Bagdad eine Bürde ist. „Ein Problem ist: Die schiitischen Milizen fordern an manchen Orten Geld, sobald Binnenvertriebene in ihre Häuser zurückkehren wollen. Das ist unerhört. Die Eigner der Häuser sollen für ihre Rückkehr zahlen! Wir schätzen die Rolle der schiitischen Milizen bei der Befreiung vom IS, ja. Aber solche eine Erpressung ist unerhört.“

Die Hashd al-Shaabi Milizen bildeten sich als Reaktion auf den IS-Vormarsch 2014. Sie bestehen aus rund 60 paramilitärischen Verbänden in einer Stärke von geschätzt 100.000 Kämpfern, die meisten Schiiten. Sie sind vom Iran finanziert und gesteuert, so Nahostexperten. Ins Leben gerufen wurden sie durch einen Aufruf des irakisch-schiitischen Groß-Ayatollahs Ali Sistani zur Verteidigung des Landes. Seit Dezember 2016 sind die al-Shaabi-Milizen zugleich gesetzlich Teil der irakischen Streitkräfte.

Um Kirkuk streiten sich alle Konfliktparteien. Die Stadt, die nach riesigen Erdöl-Funden im ersten Weltkrieg aufstieg zu einem Juwel der Rohstoff-Industrie. Und über deren Status es seit zehn Jahren ein Referendum geben soll. Anspruch auf Kirkuk und die Ölfelder erheben neben den Kurden auch Araber und Turkmenen. Auch der IS ist noch in der Region: „Öl-Förderung und Öl-Bohrungen südwestlich und im Süden von Kirkuk sind derzeit wegen des IS ausgesetzt“, erklärt Sewenj Hussein. „Die Regierung in Bagdad wird das so halten, solange Hawija nicht befreit ist.

Sewenj Hussein ist vieles auf einmal: Beraterin des Präsidenten für Kirkuk. Menschenrechts-Aktivistin. Mitglied einer Kommission zur Bekämpfung von Betrug. Mir wird sie als führende Angestellte einer der staatlichen Öl-Firmen vorgestellt. „Wir haben auch gehört, dass der IS Öl-Fördereinrichtungen abgebaut und nach Raqqa in Syrien abtransportiert hat, auch nach Hassaka.“Mehr noch als der IS, so hat es also den Anschein, ist es das Öl, das zum spaltenden Element des Irak werden könnte. Sollten sich seine Gegner um die jüngsten Erfolge in Mossul zerstreiten, könnte der IS wieder an Stärke gewinnen. Und grundlegende Ursachen, die zum Entstehen des IS geführt haben, existieren weiter, ob sunnitisch-schiitische Konfrontation oder ausländische Intervention. Rodi Hesen, der kurdische Journalist: „Das US-Militär hat im Kampf um Mossul zugelassen, dass sich zahlreiche Milizen gebildet haben. Egal ob Lokalpolitiker, Parlamentsabgeordnete oder Stammesführer – allen hat man erlaubt, sich mit Waffen einzudecken. Und man hat diese Milizen mit staatlichen Geldern bezahlt. Die Folge? Es gibt zunehmend Konflikte zwischen diesen Milizen.“

Die Hashd al-Schaabi-Milizen und der Iran erscheinen derweil als Gewinner des Krieges um Mossul. An der syrischen Grenze wie im Sinjar-Gebirge zwischen syrischen Kurden und türkischer Regierung hat Tehran seine Karten im Spiel. Erstaunlich ist, dass die USA die vom Iran finanzierten Milizen beim Kampf um Mossul dulden. Man könnte auch sagen: der Einfluss von über 5.000 US-Militärberatern und der Anti-IS-Koalition reicht offenbar nicht aus, um Teheran in die Schranken zu weisen.

Den Krieg in Mossul hat noch die Obama-Regierung mit ausgelöst. Die Trump-Regierung setzt das Begonnene fort, ohne Rücksicht auf Zivilisten. So jedenfalls der Vorwurf von Menschenrechtsorganisationen und der UN im Irak:„Wenn man die letzten vier Monate der Obama-Operation mit den ersten vier Monaten der Trump-Regierung vergleicht, dann sehen wir, dass 20 Prozent mehr Bomben von der Koalition abgeworfen werden“, so Belkis Wille von Human Rights Watch. „Anhand der Größe hunderter neuer, zehn Meter breiter Krater sehen wir, dass die Größe der Bomben, die über Mossul abgeworfen werden, dramatisch zugenommen hat.“

Die Antwort des US-Militärs lautet: Die Anti-IS-Koalition versuche immer, verhältnismäßige Waffen einzusetzen, um das Risiko für Kollateralschäden und Zivilisten zu minimieren. Der ehemalige Bundeswehr-Offizier Ulrich Scholz dazu kürzlich in der ARD-Sendung Monitor: „Wenn wir sagen, wir wollen die Leute schützen, die Zivilisten in Mossul, dann müssen wir etwas anderes tun. Dann müssen wir mit all unseren eigenen Kräften, die wir am Boden haben, in die Stadt gehen, und müssen mit allen Mitteln, die wir haben, die Zivilisten schützen. Das ist eine ganz andere Strategie und müsste operativ ganz anders laufen. Das was wir jetzt machen ist eine Minimum-Lösung, wo wir unsere Technik ausspielen und unsere eigenen Opfer gegen Null halten. Aber dafür bluten immer mehr irakische Zivilisten jeden Tag. Und das führt nirgendwo hin.“

Martin Gerner ist freier ARD-Korrespondent und Alsharq-Autor. Er berichtet regelmäßig aus Konflikt- und Krisengebieten, Nahen und Mittlerem Osten, der arabischen Welt und Afghanistan. Sein Dokumentarfilm „Generation Kunduz“ wurde international ausgezeichnet.