05.07.2017
Der Gazastreifen vor und nach 1967: Von Fremdherrschaft zu Fremdherrschaft
Die Zerstörung von Häusern mutmaßlicher Militanter wie hier im Flüchtlingslager Jabalia war bereits 1967 eine Form von Kollektivbestrafung, auf welche die israelische Armee zurückgriff. Photo Credit: UNRWA Photo 1968.
Die Zerstörung von Häusern mutmaßlicher Militanter wie hier im Flüchtlingslager Jabalia war bereits 1967 eine Form von Kollektivbestrafung, auf welche die israelische Armee zurückgriff. Photo Credit: UNRWA Photo 1968.

1967 bedeutete für die Bevölkerung des Gazastreifens das Ende der ägyptischen und den Beginn der israelischen Militärverwaltung. Doch das Leben unter den beiden Regimen unterschied sich stark.

Dieser Text ist Teil einer Serie zum Krieg von 1967. Alle Beiträge der Serie findet Ihr hier

Im Zuge der Nakba (siehe Erklärung unten) gerieten 1948 Gaza-Stadt und ihre unmittelbare Umgebung unter ägyptische Kontrolle. Der 10 mal 40 Kilometer große Gazastreifen war geboren. Die Bevölkerung des Küstenstreifens verdreifachte sich 1948/49 durch den Zustrom von Geflüchteten aus dem ehemaligen Mandatsgebiet Palästina. Zu den 80.000 Menschen, die bereits vor 1948 hier lebten, kamen mehr als 200.000 Palästinenser*innen vor allem aus den Bezirken Beer Sheva und Jaffa.

Offiziell regierte im Gazastreifen bis 1959 die All-Palästina-Regierung, die 1948 von der Arabischen Liga gegründet worden war, um eine politische Exekutive für das gesamte historische Palästina zu bilden. Tatsächlich hatte die palästinensische Vertretung um Hajj Amin al-Hussaini und Ahmad Hilmi Pasha im Westjordanaland und in Ostjerusalem keine und selbst in Gaza kaum Entscheidungsgewalt. Es begann die arabische Vormundschaft über die Teile, die von Palästina übrig geblieben waren.

Die arabische Vormundschaft über die palästinensische Sache

De facto bestimmten in den folgenden 18 Jahren ägyptische Militärgouverneure die Geschicke im Gazastreifen. Mitglieder der Kommunistischen Partei und der Muslimbruderschaft wurden immer wieder verfolgt, politische Aktivitäten stark eingeschränkt.

Doch Aufstände gegen die Militärverwaltung blieben aus. 1952 gab es zumindest große Proteste gegen die von Militärregierung und dem Flüchtlingshilfswerk UNRWA genehmigte Umsiedlung palästinensischer Geflüchteter auf die Sinai-Halbinsel – Aktivist*innen bezeichneten den Plan als Ausverkauf der nationalen palästinensischen Rechte. Bei den Demonstrationen spielte die Kommunistische Partei und die Muslimbrüderschaft eine wichtige Rolle. Schließlich gelang es, die Umsiedlung zu verhindern. Die ägyptische Staatsführung schenkte dem Gazastreifen aufgrund der Ereignisse fortan mehr Aufmerksamkeit. Gleichzeitig begann sie ab Mitte der 1950er, in Gaza Guerilla-Gruppen aufzubauen, die in Israel Anschläge verübten. Israel reagierte mit Luftangriffen auf Khan Younis und Gaza-Stadt.

Nach dem Suez-Krieg etablierte Israel 1956/57 ein kurzlebiges Besatzungsregime. Die Bevölkerung reagierte mit zivilem Ungehorsam, Streiks und Sabotageakten. Die Kommunisten gründeten die Nationale Front zum militärischen Widerstand gegen die Besatzung. Der Muslimbruderschaft und einige Mitglieder aus der Baath-Partei gründeten ihrerseits bewaffnete Organisationen. Der Rückzug der israelischen Armee aus Gaza im März 1957 sorgte für Euphorie, der ägyptische Präsident Nasser stiegt zur Ikone im Kampf gegen Israel auf.

Zäsur 1957

Auch für die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung stellte das Jahr eine Zäsur dar: Nach anfänglich starken Einschränkungen konnten sich die Bewohner*innen Gazas in Ägypten ab 1957 frei bewegen und in Drittländer ausreisen. 1957 erklärte der ägyptische Präsident Nasser Gaza zur Freihandelszone für Konsum- und Industriegüter, die Wirtschaft erlebte einen zeitweisen Aufschwung. Die ägyptische Armee und das Flüchtlingswerk UNRWA waren wichtige Arbeitgeber. Devisen von Palästinenser*innen, die am Golf arbeiten, spielten für die Wirtschaft Gazas eine zunehmend wichtige Rolle. Mit Israel und dem Westjordanland, das seit 1948 von Jordanien besetzt war, gab es dagegen weder Personen- noch Güterverkehr.

Auf wirtschaftlicher Ebene hatte die ägyptische Verwaltung ihre Beziehungen zur Bourgeoisie und den Großgrundbesitzern in Gaza über die Jahre verstärkt. Die einflussreichen Familien in Gaza kontrollierten die Landwirtschaft, die  27 Prozent zur lokalen Produktion beitrug und 37 Prozent der Arbeitskräfte beschäftigte. Jedoch gelangten kaum palästinensische Produkte auf den ägyptischen Markt.

Bezüglich der Ausbildung richtete die ägyptische Verwaltung in Gaza mehrere Schulen ein. Universitäten in Ägypten vergaben an palästinische Studierende Stipendien. 

Mit der 1964 von Nasser mitinitiierten Gründung der Palästinenischen Befreiungsorganisation (PLO), unter der sich verschiedene politisch-militante Gruppen in Gaza versammelten, nahmen politische Aktivitäten in Gaza weiter zu. Diese Blütezeit der politischen Partizipation endete mit der Erklärung des Notstands in Ägypten und im Gazastreifen am 1. Mai 1967.

Die politischen Aktivitäten wurden wegen der Mobil-Machung für den Juni-Krieg eingeschränkt. Der Krieg brach aus, die arabischen Armeen wurden erneut besiegt und Israel besetzte den Gazastreifen, das Westjordanland, den syrischen Teil der Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel. Die ägyptische Herrschaft über Gaza endete im Juni 1967.

Wieder eine Militärverwaltung

Der Gazastreifen geriet wieder unter Militärverwaltung. Die Bevölkerung durfte sich an die Anfangsjahre unter ägyptischer Kontrolle erinnert fühlen: Politische Versammlungen und Aktivitäten wurde erneut massiv eingeschränkt. Wie die israelische Tageszeitung Haaretz im März berichtete, setzte die Armee ab Beginn der Besatzung kollektive Strafmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung ein.

Die Militärverwaltung griff fortan in alle Bereiche des Alltags ein, sei es durch die Überprüfung der Lehrpläne, durch Hauszerstörungen oder die willkürliche Schließung von Restaurants. Parallel hierzu konfiszierten die verschiedenen israelischen Regierungen ab den 1970er-Jahren vor allem im Süden des Gazastreifens Land, um Siedlungen für jüdische Israelis zu errichten.

Zwischen 1967 und 1972 deklarierte die israelische Armee den Gazastreifen als „militärische Sperrzone“. Der Großteil der Bevölkerung konnte sich nur im Gazastreifen bewegen. Ab 1972 erlaubten allgemeine Ausreisegenehmigungen von der israelischen Armee Bewohner*innen des Gazastreifens, nach Israel einzureisen und zwischen Gaza und dem Westjordanland zu verkehren. Menschen aus Gaza durften jedoch in Israel und in Ostjerusalem nicht übernachten.

Wirtschaftliche Integration – und Abhängigkeit

Nicht zuletzt die Wirtschaft erlebte einen tiefgreifenden Wandel. Mit der Besetzung des Gazastreifens durch die israelische Armee 1967 wurde die palästinensische Wirtschaft in die israelische integriert. Eine einseitige Zollunion mit vielfältigen Folgen entstand:

Der Handel mit Ägypten und der Außenwelt kam zum Erliegen. Israel wurde einziger direkter Handels-„Partner“ und Absatzmarkt. Während der palästinensische Markt vollständig für israelische Produkte geöffnet wurde, unterlag der Export palästinensischer Erzeugnisse und landwirtschaftlicher Produkte Einschränkungen. Palästinensische Produkte verloren an Wettbewerbsfähigkeit. Gaza wurde abhängig von von Importen aus Israel.

Gleichzeitig öffnete Israel ab den 1970ern seinen Arbeitsmarkt für Palästinenser*innen. Am Vorabend der Ersten Intifada (1987/88) arbeiteten mehr als 40 Prozent der palästinensischen Erwerbstätigen Gazas in Israel. Der Arbeitskräfteexport – auch gen Golfstaaten – führte dazu, dass sich in Gaza kaum Industrie und produzierendes Gewerbe entwickeln konnten.

Rezept für Aufbegehren

Die geschilderten Zustände und Einschränkungen begünstigten das Entstehen einer breitgefächerten Widerstandsbewegung gegen die israelische Besatzung. In den 1970er-Jahren dominierten säkulare militante Gruppen wie die Fatah oder die PFLP, die nach palästinensischer Lesart Befreiungsbewegungen und aus israelischer Sicht Terrororganisationen darstellten. Während der Ersten Intifada ergriffen vor allem lokale Komitees die Initiative. Mit Massendemonstrationen, Generalstreiks und weiteren Formen des gewaltlosen Widerstands forderten sie die Besatzung heraus – deren Kräfte brutal zurückschlugen. Gleichzeitig  entstand in diesem Kontext die islamistische Hamas, die in der Gegenwart den Gazastreifen auf autoritäre Weise regiert.

 

Erklärung:

Mit Nakba (dt. Katastrophe) werden im arabischen Sprachgebrauch der arabisch-israelische Krieg 1948 und hiermit verbunden die Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 arabischen Palästinensern im Zuge der Staatsgründung Israels aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina bezeichnet.    

 

Ebenfalls in dieser Serie erschienen:

Alsharq-Serie „1967: 50 Jahre danach.“ Eine Art Vorwort.

Die Vorgeschichte: Wie es 1967 zum Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn kam

Die Kampfhandlungen: Wie Israel 1967 seine Nachbarn überrumpelte

Der Kriegsbeginn 1967 in der Nahost-Presse: Euphorie überall

Fortsetzung der Presseschau: Stell Dir vor, es ist Kriegsende und kaum einer schreibt es

Die Folgen des Juni-Kriegs 1967, Teil I: Israel

1967: Wendepunkt für die arabische Linke – am Beispiel von Georges Tarabishi 

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...
Artikel von Asis Hamdy al Masri
Übersetzt von Sara Osman