Gut fünf Jahre ist es her, dass sich Millionen Ägypter_innen im Rausch des so genannten Arabischen Frühlings auf die Straßen begaben und den Sturz des Regimes forderten. Mubarak ging – und dennoch haben sich die damaligen Hoffnungen auf Freiheit und Demokratie bis heute nicht erfüllt. Rabab El Mahdi, Dozentin der Politikwissenschaft an der American University in Kairo, zieht Bilanz: Ist Ägyptens Revolution gescheitert?
Eine Mischung aus latenter Wut, Enttäuschung und Langweile hat sich auf die Stadt gelegt, die – ganz ihrem Namen „al-Qahira“ (die Siegreiche) entsprechend – immer so voller Leben gewesen war. In fünf Jahren hat sich die Stadt verändert. Nicht unbedingt zum schlechteren, wie die Verfechter der „guten alten Zeit“ zu sagen pflegen, aber sie hat sich verändert. Und ich kann fast mit Sicherheit sagen, dass sie nicht mehr zu dem werden wird, was sie einst war.
Es gibt eine zwingende Frage, die alle beschäftigt: die Frustrierten, die die Revolution unterstützt und daran geglaubt hatten, dass etwas Besseres möglich sei; die Erschöpften, die den Entwicklungen nur vorsichtig und misstrauisch gefolgt waren; die Verängstigten, die die Ereignisse von Anfang an abgelehnt und für eine Verschwörung gehalten hatten und die sich noch immer vor dem politischen Erdbeben 2011 und den anhaltenden Nachbeben fürchten. Diese Frage ist: Was nun? Sie ist in den Köpfen aller – auch wenn sie sie nicht aussprechen.
Die andere zwingende Frage, vor allem in den Köpfen derjenigen, die an die ägyptische Revolution 2011 geglaubt haben, lautet: Ist die Revolution gescheitert?
Ich glaube, dass niemand eine absolute Antwort auf diese Frage geben kann (es sei denn, die Person ist so ignorant, dass sie noch nicht einmal begreift, dass sie ignorant ist). Ich glaube, dass mehrere Variablen den Schlüssel zum Verständnis dessen ergeben, was passiert ist und – noch wichtiger – was passieren kann.
Wir müssen verstehen, dass das, was Ägypten in den vergangenen fünf Jahren erlebt hat, nicht bloßer politischer Aktivismus war oder die Überreste einer abgebrochenen Revolution. Es war die historische Transformation der Gesellschaft als Ganze, einschließlich ihrer politischen und kulturellen Strukturen; diese Transformation ist keineswegs abgeschlossen, sondern wird auch in den kommenden Jahrzehnten andauern.
Neudefinierung etablierter Konzepte
Der post-koloniale Staat, der sich Mitte des 20. Jahrhunderts bildete, ist am Ende. In seiner momentanen Form ist er nicht länger in der Lage, die vielen Verpflichtungen zu erfüllen, die nötig sind, um eine Gesellschaft zu führen. Er ist auch nicht mehr in der Lage, den neuen Generationen Platz zu bieten, die nicht mehr dazu bereit sind, (nicht-vorhandene) wirtschaftliche Gewinne für ihre Freiheit einzutauschen oder zu akzeptieren, dass ein Polizeistaat unter dem Vorwand der Sicherheit und nationalen Unabhängigkeit auf ihrer menschlichen Würde herumtrampelt.
Wir befinden uns inmitten eines Kampfes, in dem wir etablierte Konzepte in Frage stellen und neu definieren.
Leidenschaft für die nationale Unabhängigkeit oder universelle Verschwörungstheorien reichen nicht mehr aus, die Generationen des neuen Jahrtausends zu unterjochen – insbesondere diejenigen, deren politisches Bewusstsein während der Revolution geformt wurde, egal ob sie daran teilnahmen oder nicht. Die Konzepte ‚Nation‘, ‚Stolz‘ und ‚Würde‘ sind Teil der öffentlichen Debatte geworden. Sie sind keine abstrakten Konzepte mehr, sondern stehen in direkter Verbindung zum persönlichen Leben.
Die Strophe des berühmten Lieds „Frag nicht, was Ägypten uns gegeben hat“ reicht nicht länger aus, um die Fragen und Sehnsüchte nach einem besseren Leben für das Individuum und die Massen zu beantworten. So wie die Generationen des 20. Jahrhunderts von einem unabhängigen Staat träumten, so träumen die Generationen des 21. Jahrhunderts von einer freien Gesellschaft.
Tief greifender gesellschaftlicher Wandlungsprozess
Zugleich ist der Wohlfahrtsstaat, der (zwar auf autoritäre Weise, aber nichtsdestotrotz) sozialen Fortschritt durch Bildung und Arbeit brachte, am Ende. Inmitten der globalen Krise des Kapitalismus ist der ägyptische Staat nicht länger in der Lage, die Bedürfnisse seiner Bürger zu erfüllen, wie es beispielsweise durch die Industrialisierung unter Abdel Nasser gelang oder durch Sadat’s Politik der offenen Tür oder sogar durch Mubaraks Rentier-Ökonomie, die vor allem auf den Löhnen ägyptischer Arbeitsmigranten in den arabischen Golfstaaten basierte. Diese Wirtschaftsmodelle sind aus globalen und regionalen Gründen untergegangen.
Auch die Gesellschaft unterliegt starken Veränderungen, nicht nur in Bezug auf ihre Beziehung zum Staat, sondern auch in ihren sozialen und kulturellen Mustern und individuellen Beziehungen.
Dörfer und Weiler haben sich zu Städten entwickelt, die staatliche Kontrolle von inländischen Medien sowie Bildungs- und Kultureinrichtungen wird durch die unkontrollierbare Offenheit des Internets und unterschiedlichste Quellen zur Selbst-Bildung außer Kraft gesetzt.
Die Dominanz einzelner religiöser Institutionen wird ersetzt durch den Aufstieg diverser religiöser Strömungen, die teilweise radikaler als ihre Vorgänger sind und die Monopolstellung der ersteren in Frage stellen.
Der Kampf all dieser Strömungen beeinflusst und formt Gesellschaft wie Individuen in einer bisher nicht dagewesenen Art und erinnert an die Schwelle zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, als das Osmanische Reich kurz vor dem Untergang stand und der Arabische Nationalismus im Aufwind begriffen war. Dieser Kampf geht über politischen Aktivismus hinaus, tatsächlich ist dieser vielmehr Symptom eines viel tiefer gehenden Wandlungsprozesses, den die Gesellschaft durchläuft.
Veränderungen im globalen und regionalen Machtgefüge
Auf der anderen Seite unterliegt die gesamte Region, ja die ganze Welt rapiden Transformationsprozessen, denen gegenüber auch wir nicht immun sind – auch wenn manche das glauben. Auf regionaler Ebene erinnern die momentanen Ereignisse an das Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Die Russische Revolution. Der Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus. Der Rückzug der alten Kolonialmächte. Der Niedergang des osmanischen Reichs und der Aufstieg lokaler Unabhängigkeitsbewegungen. Das Neuzeichnen von Ländergrenzen und der Beginn des Kalten Krieges.
Der rasche Aufstieg transnationaler Mächte, wie ISIS oder Hisbollah, beeinflusst das regionale und weltweite Machtgefüge ebenso wie die Machtbestrebungen und wechselnden Allianzen einzelner Staaten, wie Iran, Türkei, Russland oder China. Auch die Strategien des Machtkampfs haben sich geändert: Sie beschränken sich nicht länger auf unbewegte langfristige Auseinandersetzungen zwischen regionalen Playern, sondern auf intensive und immanent explosive Momente, die die Region selbst in Bezug auf die so geläufigen Staatsgrenzen neu zu gestalten vermögen.
Auch die Konzepte von Staatsmonopol, gerechtfertigter Gewalt und permanenten regionalen Grenzen, wie wir sie in der Politikwissenschaft studierten, werden in diesem Zug umgeformt werden.
Aufeinanderfolgende globale Krisen, beginnend mit der Weltfinanzkrise 2008 bis hin zur Griechenland-Krise, unterlaufen den Charakter des weltweiten Wirtschaftssystems wie wir es kennen – oder offenbaren zumindest das Ausmaß der Krise im kapitalistischen System. Bewegungen wie Occupy Wall Street, Podemos in Spanien oder Movimento Cinque Stelle in Italien weisen darauf hin, dass politische Parteien immer weniger als Werkzeuge zum Bewältigen politischer Konflikte und Wettbewerbe genutzt werden. Zugleich verzeichnen wir einen Anstieg radikal rechter Rhetorik in Europa und in der arabischen Region, allerdings mit unterschiedlichen Mitteln und Motiven.
Eine neue historische Epoche
Diese Variablen zeigen das Ausmaß der kommenden Veränderungen in der Welt als Ganze und sie betreffen ebenso etablierte Konzepte wie die Frage nach dem idealen politischen Modell oder der Bedeutung von Demokratie.
Alles in allem erleben wir auf inländischer, regionaler und globaler Ebene die Vorzeichen vom Ende einer historischen Epoche. Wir müssen zunächst unser aktuelles Stadium verstehen, erst dann können wir fragen, was wir uns als Masse oder als Individuum von der Zukunft wünschen und schließlich Pläne schmieden, wie wir diese Ziele erreichen können. Auch müssen wir anerkennen, dass Gewalt, die vom Staat ausgeht, ebenso inakzeptabel ist wie Gewalt, die von transnationalen Gruppen ausgeht.
Es ist noch zu früh, um sagen zu können, was aus der ägyptischen Revolution oder dem, was als Arabischer Frühling bezeichnet wird geworden ist. Wir befinden uns am Anfang des letzten Kapitels einer Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft – die finale Szene wurde noch nicht geschrieben.
Möge Gott die Seelen all der Märtyrer, Flüchtlinge, Gefangenen und derjenigen segnen, die sich für eine bessere Zukunft für die Menschen engagieren.
Dieser Text erschien auf al-Arabi as-Safir.
Aus dem Englischen von Laura Overmeyer
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