10.07.2014
Gewalteskalation in Israel und Palästina - der Sturm tobt
Die Lage im und um den Gazastreifen spitzt sich zu. Israels Armee bereitet eine Bodenoffensive vor. Foto: Tobias Pietsch
Die Lage im und um den Gazastreifen spitzt sich zu. Israels Armee bereitet eine Bodenoffensive vor. Foto: Tobias Pietsch

Raketen aus Gaza fliegen 130 Kilometer weit nach Israel, wo die Menschen auch in den Großstädten Tel Aviv und Jerusalem immer wieder Schutzräume aufsuchen müssen. Die israelische Armee setzt ihre Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen fort und bereitet eine Bodenoffensive vor. Erneut herrscht Krieg zwischen Israel und der Hamas. Die Leidtragenden sind Zivilisten auf beiden Seiten.

Dr. Usama Antar und seine Familie verlassen ihre Wohnung in Gaza-Stadt nur noch im äußersten Notfall. In den letzten 24 Stunden seien mehr als 50 Wohnhäuser im Gazastreifen von der israelischen Luftwaffe bombardiert worden, erklärt der Politikwissenschaftler seine Vorsicht.

In Israel schlägt alle paar Minuten die App des Smartphones Alarm. Wann immer am Himmel eine Rakete erkannt wird, ertönt eine Frauenstimme, die schrill „Zeva Adom“ – Alarmstufe Rot – ausruft und diese Warnung auch an Handys weiterleitet. Die letzte Meldung am Donnerstagmorgen kommt aus Tel Aviv.

In Israel und Palästina herrscht wieder Krieg. Die israelische Luftwaffe griff seit Beginn der Großoffensive mehr als 400 Ziele im Gazastreifen an, während militante Gruppen im Gazastreifen etwa 300 Raketen im selben Zeitraum auf das israelische Staatsgebiet abfeuerten. Hauptsächlich betroffen von der Gewalteskalation sind die Bevölkerungen des Gaza-Streifens und des Südens von Israel, wobei Raketen aus dem Gazastreifen auch Tel Aviv, Jerusalem und die nördliche Küstenebene erreichten und militärische Auseinandersetzungen im Westjordanland anhalten. Seit Beginn der israelischen Militäroffensive, die sich laut Premier Benjamin Netanjahu ausschließlich gegen die Hamas und weitere militanten Gruppierungen richtet, wurden bislang mehr als 70 Menschen im Gazastreifen durch Luftangriffe getötet. Etwa die Hälfte der Opfer sind laut offizieller Stellen in Gaza-Stadt Zivilisten. Detonationen – mehr als 400 Tonnen Sprengstoff prasselten laut israelischem Militär bisher auf Gaza herab – überfüllte Krankenhäuser, nicht existente Schutzräume, Stromausfälle und kaum vorhandener Treibstoff prägen die verzweifelte Lage.

Das israelische Militär verzeichnete allein am Dienstag 117 Raketenangriffe auf israelisches Gebiet, der Beschuss aus dem Gaza-Streifen hält auch am Mittwoch in nicht gekannter Intensität an. Die hauptsächlich südliche Städte wie Sderot, Aschkelon oder Aschdod betreffenden Angriffe forderten bislang glücklicherweise keine Menschenleben. Doch das Gefühl von Bedrohung ist omnipräsent und wurde durch einen am Dienstag vereitelten Terrorangriff noch verstärkt. Bewaffneten Palästinensern aus dem Gaza-Streifen war es gelungen, über den Seeweg das israelische Kernland zu erreichen und den Küstenkibbutz Ziqqim zu erreichen, wo sie jedoch von der israelischen Armee getötet wurden.

In der Zwischenzeit hat die Auseinandersetzung die israelischen Metropolen Jerusalem und Tel Aviv erreicht - eine rote Linie für die Regierung Netanjahus. In beiden Städten heulten seit Dienstag Abend wiederholt die Sirenen. Am Mittwoch schlugen nördlich von Zichron Ya'akov Raketen aus dem 130 Kilometer entfernten Gaza-Streifen ein. Ein trauriger neuer Weitenrekord, der beweist, dass die Hamas über Waffenarsenale verfügt, die das gesamte israelische Gebiet erreichen können. So müssen in diesen Tagen nicht nur die Menschen im Süden Israels Schutzräume aufsuchen.

Schon früh war klar, dass der Konflikt über Gaza hinaus reicht

Mobattacken radikaler israelischer Jugendlicher gegen palästinensische Zivilisten in Jerusalem sowie gewaltsam eskalierende Proteste der palästinensischen Minderheit in Israel gegen die grausame Ermordung des Teenagers Mohammed Abu Khudeir haben bereits in den vergangenen Tagen aufgezeigt, dass diese Gewalteskalation nicht auf den Gazastreifen und seine unmittelbare Umgebung begrenzt bleiben wird. Auch das Westjordanland kommt nicht zur Ruhe: Die Verhaftungswelle der israelischen Armee hält an. Zuletzt wurden Dienstag Nacht in Nablus mehrere Personen, die größtenteils der Hamas angehören, festgenommen. Insgesamt beläuft sich die Zahl der im Rahmen der Verhaftungswelle festgenommenen Personen auf etwa 1000. Vielfach drang die israelische Armee für diesen Zweck in den letzten Wochen gegen die Bestimmungen der Oslo-Verträge gewaltsam in palästinensische Städte ein. Straßenschlachten mit palästinensischen Jugendlichen waren häufig die Folge. Erst in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch wurden bei einem solchen Scharmützel zwischen Jugendlichen und der israelischen Armee nahe der Siedlung Beth El 11 Personen verletzt.

Es mutet absurd an, dass in dieser Atmosphäre gegenwärtig eine von der Tageszeitung Haaretz organisierte Friedenskonferenz in Tel Aviv stattfindet. Bezeichnenderweise mussten die Teilnehmenden wegen eines Raketenalarms in Tel Aviv die Konferenz unterbrechen und Schutzräume aufsuchen. Einzig Yuval Diskin, ehemaliger Geheimdienstchef, blieb im Konferenzraum sitzen und blickte sprachlos auf sein Smartphone. Dieses Bild symbolisiert die Sprachlosigkeit vieler Friedenswilliger in Israel und Palästina, während radikale und extreme Stimmen immer lauter werden.

Die Intensität der Gewalt von 2012 könnte übertroffen werden

Auf der Konferenz bekräftigte der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas das Angebot der Arabischen Friedensinitiative und wies darauf hin, dass Israel kein besseres Angebot zur regionalen Integration bekäme. Abbas' Popularität sank in den vergangenen Wochen stark, da er sehr zurückhaltend auf die israelische Verhaftungswelle im Hoheitsgebiet der palästinensischen Autonomiebehörde reagierte. Sollte Palästina auf Geheiß Abbas' nun jedoch tatsächlich dem Internationale Strafgerichtshof beitreten, würde dies sein Ansehen wieder steigern, glaubt etwa Raed Debiy, internationaler Sekretär der Fatah-Jugend.

Die meisten Bekannten und Freunde der Autoren vor Ort  gehen davon aus, dass der Gewaltexzess noch einige Tage anhalten wird und die Kampfhandlungen von 2012 an Intensität bei weitem übertroffen werden. Doch wie konnte der Lage in den vergangenen Tagen derart eskalieren? Am Anfang der neuerlichen Gewaltspirale von Verbrechen und Vergeltung in Nahost stand der abscheuliche Mord an drei jüdischen Teenagern durch palästinensische Militante. Im Umgang der israelischen Regierung mit dieser Tat liegt der Hauptgrund, warum sich die Gewalteskalation auf den Gaza-Streifen, das Westjordanland und weite Teile Israels ausgebreitet hat. Netanjahus Regierung hat die Entführung der Jugendlichen für ein anderes Vorhaben instrumentalisiert: die Zerstörung der Hamas-Strukturen im Westjordanland und das Torpedieren der palästinensischen Regierung der Nationalen Einheit. Mit Erfolg: Das Nicht-Eingreifen der Palästinensischen Autonomiebehörde um Mahmoud Abbas während der Verhaftungswelle hat die Gräben zwischen den politischen Polen Hamas und Fatah wieder vertieft.

Dass weiterhin nicht klar ist, ob die Entführer der Teenager auf Geheiß der Hamas gehandelt haben, scheint für das israelische Vorgehen irrelevant. Die Regierung Netanjahu wittert die Chance, die Hamas auch im Gazastreifen entscheidend zu schwächen. Von wichtigen Unterstützern im Zeichen regionaler Umbrüche beraubt, agiert die islamisch-nationalistische Bewegung mit dem Rücken zur Wand und dreht ihrerseits mit ihren Raketen heftig an der Gewaltspirale. Die Folgen sind fatal.

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...