19.06.2014
Wider den Tweet – Warum die Sperrung von Twitter und YouTube Erdoğan nicht schwächt
Weithin untersagt, aber nicht minder wichtig: Proteste über soziale Medien in der Türkei. Foto: Erdem Civelek/Wikicommons, Public domain (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Turkey_internet_ban_protest_2011.jpg)
Weithin untersagt, aber nicht minder wichtig: Proteste über soziale Medien in der Türkei. Foto: Erdem Civelek/Wikicommons, Public domain (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Turkey_internet_ban_protest_2011.jpg)

Am 1. Mai veröffentlichte die amerikanische Nichtregierungsorganisation Freedom House ihr Ranking zur globalen Pressefreiheit. Die türkische Pressefreiheit wurde zum ersten Mal von „teilweise frei“ auf den Status „nicht frei“ degradiert. Trotz der anhaltenden Proteste sowie der Sperrung von Twitter und YouTube wurde die Regierung Erdoğans jedoch zeitgleich mit einem Erdrutschsieg im Amt bestätigt. Wie das?

Dieser Beitrag ist Teil unserer Journalismus-Serie. Alle Texte finden Sie hier.

Die Entrüstung auf offizieller Seite war prompt. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu kritisierte den Freedom House-Bericht scharf und beschrieb ihn als „eine Operation zur Manipulation der internationalen Wahrnehmung der Türkei“. Er forderte türkische Journalisten zudem dazu auf, „den Bericht abzulehnen“.

Darauf kam auch aus Washington unmittelbar eine Reaktion. Freedom House selbst veröffentlichte am 5. und nochmals am 12. Mai eine Stellungnahme, als sich die türkischen Gemüter immer noch nicht beruhigen wollten. Darin wies die Organisation sämtliche Anschuldigungen von türkischer Seite zurück. Die Pressesprecherin des amerikanischen Außenministeriums Marie Harf schaltete sich ebenfalls ein. Auch sie distanzierte sich von dem Vorwurf der intendierten Diffamierungspolitik. Laut Harf würde einzig „ein freier Zugang zu YouTube und Twitter“ die Wahrnehmung der Türkei im Ausland ändern.

Bei so viel Polemik ist es schwierig zu entscheiden, wer Recht hat.

In ihrer überstürzten Entrüstung über den Bericht haben türkische Diplomaten und Regierungsbefürworter wohl überlesen, dass der Freedom House Bericht im Grunde nichts Neues sagt – und dabei auch nicht ausschließlich Kritik übt. In ihrem Bericht zur türkischen Pressefreiheit von 2013 zum Beispiel hält Freedom House fest, dass unabhängige in- und ausländische Medien vielfältige Ansichten repräsentieren – „einschließlich der Kritik gegenüber der Regierung sowie ihrer Politik.“ Trotz der Einschränkungen der freien Presse habe die Türkei „einen rapide wachsenden Mediensektor sowie eine vielfältige Zivilgesellschaft.“ Freedom House rechnet es der AKP außerdem an, dass mittlerweile ein offener Diskurs geführt werden kann über frühere Tabuthemen, wie etwa dem kemalistischen Militär, ethnischen Minderheiten in der Türkei, der Kurdenfrage oder dem vermeintlichen Genozid an der Armeniern.


Medienbarone und ihre Beziehung zur Regierung

Dennoch eine unfreie Presse? Die Antwort lautet eindeutig: jein. Denn einzelne Journalisten und Redakteure können ihre Meinung durchaus frei äußern. Dagegen sind es vielmehr deren Chefs und die Inhaber der Zeitungen, die gleichzeitig Inhaber von Holdings und darauf bedacht sind, sich nicht ihren Kredit bei der Regierung zu verspielen.

Doch auch das ist nichts Neues – im Gegenteil. Die enge Beziehung zwischen den Medien und der Regierung ist ein Vermächtnis, das bis zu den Anfängen der Staatsgründung zurückreicht.

Nach dem Militärputsch 1980 mündeten die restriktiven Maßnahmen der Militärjunta in eine „tabloide Berichterstattung“, wie es die Wissenschaftlerin Ceren Sözeri beschreibt. Demnach wurde jegliche politisch-kritische Medienberichterstattung unterbunden. Noch bis 1997 waren große Teile der Medienlandschaft vom Militär kooptiert: Unter der Vorherrschaft der kemalistischen Staatsideologie herrschte gewissermaßen eine unterschwellige Gleichschaltung der Medien, die als Mittel zur Staatspropaganda fungierten.

Der liberale Kolumnist Rasim Ozan Kütahyalı gibt ein beeindruckendes Beispiel für die dominierende Rolle der Medien. Er führt ein Zitat von Erol Simavi an, dem einstigen Medienimperator unter Turgut Özals Amtszeit: „Die Medien werden auf der Welt als vierte Kraft innerhalb der Gewaltenteilung beschrieben. Dies trifft nicht auf die Türkei zu. Ist die erste Kraft (der Gewaltenteilung) in der Türkei das Militär? Nein. Es sind die Medien; an zweiter Stelle kommt das Militär, denn die Medien sind es, die das Militär auf den Putsch vorbereiten.“

Bis heute hat sich an dieser Rolle der Medien nur wenig geändert, wenngleich das Militär zwar unter zivile Herrschaft gestellt wurde und die publizistische Vielfalt seither zugenommen hat.

Mit dem Ende des Militärregimes sowie der ökonomischen Liberalisierung ab Mitte der 1980er wurde das staatliche Monopol im Mediensektor beendet und eine florierende Medienlandschaft entwickelte sich. Es entstanden vielfältige Radio- und Fernsehsender sowie Zeitschriften und Zeitungen. Der Staat fand jedoch eine andere Möglichkeit, die Medien an sich zu binden. Holdinginhaber wurden gleichzeitig Besitzer großer Medien-Outlets, die bald durch Fusionen expandierten und den gesamten Mediensektor zu vereinnahmen begannen. Eine symbiotische Verbindung zwischen der Regierung und Medienbaronen wuchs heran.

So fällt aktuell das Versagen der Mainstream-Medien, die Gezi-Proteste in ihrem tatsächlichen Ausmaß darzustellen, auf den von Konglomeraten dominierten Mediensektor zurück. Durch gute Beziehungen mit der Regierung erhoffen sich nämlich Medienbarone, den Vorrang bei Auktionen zu bekommen und somit auf dem Markt zu expandieren. Diese Holdings profitieren von Verträgen mit der Regierung und agieren über den Mediensektor hinaus hauptsächlich im Konstruktions- und Baugewerbe.

Deshalb sehen Kapitalanleger eine Berichterstattung, die die aktuelle Regierungspolitik befürwortet, auch als Mittel für wirtschaftliche Vorzüge, insbesondere im Baugewerbe. Der Mediensektor selbst ist dabei gar nicht so lukrativ. Doch die Boni im Konstruktions- und Baugewerbe, als Gegenleistung für eine die Regierungspolitik befürwortende Berichterstattung, gleichen die mangelnde Rentabilität aus.


Dienst du mir, so helfe ich dir

Die Beurteilung der türkischen Pressefreiheit ist vor diesem Hintergrund ambivalent.

Journalisten sind zwar frei darin, zu sagen, was sie wollen, oder auch die Regierung zu kritisieren. Allerdings werden sie das größtenteils unterlassen, da ihre Chefs stets in einem gegenseitigen Nutznießer-Verhältnis zur aktuellen Regierung stehen und dafür bürgen, dass das Patronage-System funktioniert. Diese etablierten Strukturen sind ein subtiles, gar strategisches Druckmittel, die zur prä-emptiven Selbstzensur der Mainstream-Medien führen.

Dennoch gibt es auch Medien-Outlets, die teils harsche, teils unter die Gürtellinie greifende Kritik gegenüber der Regierung äußern. Neben dem Medienbetrieb Feza sind diese unter anderen die kemalistischen, das einstige Junta-Regime unterstützenden Zeitungen Sözcü, Yeni Çağ und Aydınlık. Seit den Gezi-Protesten hat Sözcü zum Beispiel im Vergleich zu den Mainstream-Medien die drittstärkste Auflage. Ein Grund dafür, warum es sich diese „leisten“ können, ihre Kritik so unverblümt zu äußern, ist, dass sie keinen Holding-Besitzern gehören und somit ohnehin kein Stück vom großen Kuchen abbekommen (wollen).


Die „Neuen Tabus“ der „Neuen Türkei“?

Der AKP ist es laut Freedom House zu verdanken, dass heute in der Türkei ein breiterer Raum für kontroverse Debatten besteht. Doch je mehr die AKP ihre politische Position stärkte, umso mehr habe sie die Kontrolle über den Mediensektor übernommen. So sind gegenwärtig „alte rote Linien“ durch „neue rote Linien“ ersetzt worden: Für den Kolumnisten Mustafa Akyol ist dementsprechend mittlerweile alles tabu, was sich gegen den „Ottomanismus“, die vermeintliche Ideologie der AKP, sowie den daran gekoppelten „patriarchalischen Regierungsstil“ Erdoğans richtet.

In ähnlicher Linie sagt die international anerkannte türkische Soziologin Nilüfer Göle dazu, dass Kritiker der Regierung stigmatisiert werden als „çapulcu (eine negativ konnotierte Bezeichnung für die Gezi-Protestierenden), Putschist, ausbeutender Intellektueller, oppositioneller Rebell, Terrorist oder Alevite.“

Die Entlassung von Journalisten nach deren Kritik am Umgang der Regierung mit den schwerwiegenden Bestechungs- und Korruptionsvorwürfen ist ein weiteres Beispiel. Dazu zählen wie Murat Aksoy oder Nazlı Ilıcak auch jene, die ansonsten für ihre pro-AKP Linie bekannt sind. Für Göle sind diese Entlassungen ein Bruch mit der Mitte-Rechts Tradition unter der AKP: Dementsprechend werden aktuell konservative und liberale Journalisten, denen die AKP bisher Rückendeckung gab, nun zunehmend in den Hintergrund gedrängt.


Gezi, Identitätskämpfe und Putschängste

Die Gezi-Proteste sind daher mehr als ein ziviles Aufbegehren gegen eine vermeintlich autokratische Staatsmacht; sie brachten die im türkischen Bewusstsein schlummernden Identitätskämpfe und Putschängste erneut zum Vorschein.

Der ehemalige Vorsitzende von MÜSIAD, dem Verein unabhängiger Industrieller und Unternehmer, Ömer Bolat, zum Beispiel zieht aktuell eine Parallele zum Militärputsch vom 28. Februar 1997. „Die Vorfälle (Proteste) sind eine neue Version des 28. Februars. In der Hauptrolle sind diesmal nicht das Militär und die Justiz, sondern […] die ausländischen Medien und […] die parallel zu ihnen agierenden ‚Weißen Türken‘“.

Auch machte bald eine neue pro-Erdoğan Bewegung die Runde in den sozialen Medien. Unter dem Banner Milletin Adamlarɪ („Männer des Volkes“) erschien eine Kollage mit der Aufschrift „Menderes‘i astınız, Özal’ı zehirlediniz, Erdoğan’ı yedirmeyiz!“ „Menderes habt ihr gehängt, Özal habt ihr vergiftet, Erdoğan überlassen wir euch nicht“!

Dabei wird Premier Erdoğan in einem Zuge mit zwei weiteren konservativen Koryphäen genannt. Während damit die Gefahr eines Staatsstreiches lanciert werden soll, handelt es sich bei dieser Kollage auch um eine Drohgebärde von Regierungsbefürwortern, die sich zum Schutzpatron Erdoğans erklären. Sie bezeugt, dass „das Volk“ das Spiel der verschiedenen Protestbewegungen durchschaut hat und es diesmal nicht zulassen wird, dass ein „großer Mann des Volkes“ auf undankbare Weise von der Macht verdrängt wird.

Auf ähnliche Weise werden die Korruptions- und Bestechungsanschuldigungen vom 17. Dezember vergangenen Jahres von der Regierung als Putschbestrebung wegargumentiert. Dabei gilt der vermeintlich subversiven Mobilisierung der zivilen Massen über die sozialen Medien und Netzwerke die größte Aufmerksamkeit regierungsnaher Kreise.

Erdoğan selbst sagte dazu: „Versuche zur Schwächung des Parlaments geschehen nicht mehr lediglich über bewaffnete Putschversuche. In der modernen Welt lassen diese ihren Platz für andere Mittel.“ In Bezug auf die Gezi-Protestbewegung sowie die starke Polarisierung in den sozialen Medien sagte er weiter, dass die Türkei es erlebt habe, „wie die sozialen Medien es in den Händen von einigen Böswilligen auf den nationalen Willen abgesehen haben“.

Diese Masche zieht. So rührt es nicht von ungefähr her, dass Erdoğan die Demonstranten der Gezi-Proteste stets als „marginale“ Gruppen abtat. Dabei vertraute er auf die überwältigende Mehrheit eines anatolisch geprägten nationalistisch-konservativen Bürgertums, das die AKP repräsentiert. Trotz der schweren Anschuldigungen – oder gerade deswegen – war es nämlich genau diese Gruppe, die der AKP erneut zu einem Wahlsieg verhalf und bei den Kommunalwahlen am 30. März mit 45 Prozent der Stimmen noch stärker im Amt bestätigte als bei den Kommunalwahlen 2009.

Gemäß einer Umfrage der globalen Marktforschungsgesellschaft Ipsos gaben 75 Prozent der AKP-Wähler an, dass die Korruptions- und Bestechungsanschuldigungen vom 17. Dezember für ihre Stimmabgabe unerheblich waren. Auch die Sperrung von Twitter und YouTube war sogar für 82 Prozent der AKP-Wähler unwichtig.


Vom Post-Islamismus zum autoritären Kapitalismus?

Befördert durch die AKP wie auch durch den einstig übermächtigen kemalistisch elitären Regierungsapparat befindet sich der politische Islam so weiter im Aufwind. Anders als noch vor zehn Jahren wird dementsprechend auch die wertkonservative Bevölkerung gestärkt, die zuvor noch vom Militärregime unterdrückt wurde. Im Narrativ der AKP-Anhänger hat diese „marginale“ Elite nun ihren rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft gefunden und für den „nationalen Willen“ Platz gelassen. Und genau diese Mehrheit war es, die der AKP erneut zu einem Wahlsieg verhalf.

Daher auch rührt es, dass extensive Protestwellen, sei es über soziale Medien oder in Form von „Straßendemokratie“, nicht als legitimer Ausdruck des demokratischen Willens anerkannt werden. Vielmehr werden sie als unlautere Aktionen verunglimpft, eine durch freie und demokratische Wahlen gewählte Regierung über Umwege zum Rücktritt zu zwingen. In diesem spezifisch türkischen Kontext wird deutlich, warum ein frühzeitiger Rücktritt Erdoğans, wie von einigen Oppositionsparteien gefordert, nie zur Option stand und er stattdessen zunehmend populistisch und polarisierend an seiner Macht festhält.

Dementsprechend versteht die Regierung Demokratie in erster Linie als Mehrheitsherrschaft. Sie vernachlässigt daher pluralistische Elemente, die für eine funktionierende Demokratie jedoch unabdingbar sind. Aber auch das ist, wie oben geschildert, nichts Neues. Die Kemalisten waren stets bestrebt, der Türkei von oben eine „nationale Identität“ zu oktroyieren. Und auf dieses Diktum wurden die Medien gleichermaßen eingestimmt.


Twitter-Leaks – Skandaltapes in den sozialen Medien

Tatsächlich brach nach dem 17. Dezember 2013 und der darauffolgenden Sperrung von Twitter und YouTube im März ein regelrechter medialer Krieg zwischen Regierungsgegnern- und Befürwortern aus. Über die Einschleusung von Audioaufnahmen auf Twitter und YouTube wurde die Medien-Landschaft mit einer Lawine allabendlicher Enthüllungen überrollt. Nebulöse Twitter-Accounts, hauptsächlich aus dem Anti-Regierungslager, schleusten etliche Enthüllungstapes ins Internet ein, einschließlich der Skandaltapes mit den Korruptions- und Bestechungsvorwürfen. Ein neues mediales Ritual wurde zum Leben erweckt. Etwa um 21.00 Uhr herum, der „Stunde der Enthüllungen“, standen beide Fronten angriffsbereit in ihren Startlöchern auf Twitter – gierig erwartet von ihrer jeweiligen Audienz. Selbst die Einschaltquoten der heiß begehrten türkischen Serien litten an diesem „Tape-Wahn“. Der liberale Kolumnist Orhan Kemal Cengiz beschrieb die befallenen Horden demnach als „eine große Gruppe von Zombies, die mit ausgestreckten Händen auf […] DAS TAPE warten.“

Das Angebot der Skandalenthüllungen reichte weit über Korruption und Bestechung hinaus. Auf einem Mitschnitt ist zum Beispiel die vermeintliche Stimme Erdoğans zu hören, wie dieser Anweisungen über ein Sex-Tape des damaligen Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei Deniz Baykal gibt. Das Skandaltape von 2010 zeigte den verheirateten Baykal in einer sexuellen Interaktion mit einer Parteikollegin. In der Audioaufnahme wird der Anschein geweckt, Erdoğan sei damals der Auftraggeber der Veröffentlichung dieses Tapes gewesen. Auch wurde drei Tage vor den Kommunalwahlen das letzte von insgesamt 86 Tapes online gestellt. Auf diesem war der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu zu hören, wie er sich mit dem Staatssekretär des Geheimdienstes Hakan Fidan beratschlagte. Dabei ging es ihnen darum, wie sie den Syrien-Konflikt instrumentalisieren könnten, um das Gefühl der nationalen Bedrohung zu schüren und so Wählerstimmen zu gewinnen.

Diese Verdachtsmomente sind schwerwiegend und ihnen muss nachgegangen werden. Nichtsdestoweniger fragt sich ein großer Teil der Bevölkerung, warum diese Tapes drei Monate vor den Kommunalwahlen an die Öffentlichkeit gebracht wurden und vor allem, warum die Welle der Enthüllungen nach den Wahlen so abrupt aufhörte. Offensichtlich ist, dass die Urheber der „Twitter-Leaks“ aus dem inneren Kreis der Regierung stammen. Sie müssen über einen Zeitraum von mehreren Jahren spioniert und Abhöraktionen durchgeführt haben, um anschließend auf einen geeigneten Zeitpunkt zu warten, diese mit der Öffentlichkeit zu teilen.

Konsequenterweise werden hinter den Twitter-Accounts Mitglieder der Gülen-Bewegung vermutet, die seit November letzten Jahres in einem offenen Machtkampf mit der AKP steht.

Vor diesem Hintergrund erklärt auch die Regierung, warum es zu den drakonischen Maßnahmen der Sperrung von Twitter und YouTube kam. Entgegen der Meldung vor allem ausländischer Medien werden diese Maßnahmen von großen Teilen der Gesellschaft nicht als repressiver Akt zur Unterdrückung der Meinungsäußerung wahrgenommen. Vielmehr gelten sie als folgerichtiger Schritt zur Verteidigung des so oft zitierten „nationalen Willen“, der sich wieder einmal gegen putschende Kräfte verteidigen muss.


Eine Neudefinition des Regierungsauftrags

Außenstehende Beobachter und vor allem westliche Medien sind oft nicht in der Lage dazu, die komplexe Sachlage zu begreifen und müssen sich daher in den meisten Fällen mit schablonenhaften Erklärungen behelfen. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage, dass die Türkei unter der Regierung Erdoğans zunehmend autoritär werde, in der westlichen Medienlandschaft mittlerweile zu einer tautologischen Phrase verkommen. Mag zwar ein Teil dieser Aussage sicherlich zutreffen; doch sie ist dennoch ein Paradebeispiel eines plakativen und eurozentrischen Narratives, das oft aus dem Kontext gerissen ist.

Tatsächlich geht es bei der aktuellen Auseinandersetzung im Kern um die Kontrolle des Staatsapparats. Weil die Medienmacht dafür ein unabdingbares Instrument ist, muss die Rolle der Medien im Verbund mit einer Neudefinition des Regierungsauftrags diskutiert werden. Damit ist nicht ausschließlich die AKP gemeint, denn auch die Kemalisten vermengen ihren Regierungsauftrag mit einem zivilisatorischen Erziehungsauftrag und versuchen, Schlüsselfunktionen im Staatsapparat einzunehmen. Ebenso wie die darauf folgenden islamisch-konservativen Regierungen unter der AKP nutzten sie hierfür primär die Medien.

Deshalb bleibt festzuhalten: Erst wenn sich türkische Regierungen frei machen von Okkupationsbestrebungen und Putschängsten und infolgedessen eine gesunde Distanz zu ihrem Regierungsauftrag entwickeln, wird sich die symbiotische Beziehung zwischen der Regierung und dem Mediensektor auflösen. Dazu gehört auch anzuerkennen, dass die Medien nicht Mittel zum Zweck sind, sondern als Kontrollmechanismus agieren. Ansonsten wird die so gepriesene „Neue Türkei“ doch noch (weiter) sder „Alten Türkei“ ähneln.

Artikel von Nuray Atmanca