08.09.2025
Rassismus in Mauretanien: Eskalation ist nur eine Frage der Zeit
Hafen in Nouadhibou, mittig die mauretanische Flagge. Foto: Frida Nsonde, 2025.
Hafen in Nouadhibou, mittig die mauretanische Flagge. Foto: Frida Nsonde, 2025.

Mauretanien verstärkte die Abschiebung westafrikanischer Migrant:innen sowie die Diskriminierung und Überwachung Schwarzer Mauretanier:innen. Der Anthropologe Elhadj Ould Brahim untersucht die sozialen Dynamiken hinter diesen Maßnahmen.

In Sahelstaat Mauretanien geht die Regierung seit Frühjahr verstärkt gegen Schwarze Migrant:innen vor und schiebt sie in die südlichen Nachbarstaaten Senegal und Mali ab. Dabei differenzieren Behörden nicht zwischen Menschen mit oder ohne Aufenthaltstitel. Für diejenigen, die in der mauretanischen Gesellschaft als Schwarze eingestuft werden, wecken diese Abschiebungen schmerzhafte Erinnerungen an die Massendeportationen und die Gewalt während des mauretanisch-senegalesischen Konflikts von 1989.    

Im Gespräch mit dis:orient erörtert Elhadj Ould Brahim, ein mauretanischer Anthropologe am Institut des Mondes Africains in Paris, die Migrations- und Identitätspolitik des Landes und untersucht soziale Prozesse, die die mauretanische Gesellschaft heute prägen.

Elhadj Ould Brahim, wie hat sich die jüngste Abschiebungswelle auf das soziale Klima in Mauretanien ausgewirkt?

Die jüngste rassistische Kampagne, die sich speziell gegen westafrikanische Migrant:innen richtete, hatte ein noch nie da gewesenes Ausmaß. Ein wesentlicher Teil der Migrant:innen in Mauretanien hat die Absicht, von dort aus auf die Kanarischen Inseln weiterzureisen. Das jüngste Vorgehen ist also ein Symptom für die Externalisierung der EU-Grenzen. Ursprünglich sollte mit den Abschiebungen der zunehmende Zustrom von Einwander:innen und Geflüchteten aufgrund der regionalen Konflikte in den Sahelländern bewältigt werden, aber letztendlich erwiesen sie sich als ein Manöver zur Bewältigung interner Probleme. Fragen des Rassismus und der bis heute bestehenden Sklaverei sind Gegenstand politischer und rechtlicher Debatten. Die Marginalisierung der großen Mehrheit der Bevölkerung – ob Haratin oder Black African Mauritanians, die in Mauretanien beide als Schwarz definiert werden – bleibt ein strukturelles Problem, das in allen internen und externen Debatten zum Ausdruck kommt.

Was war der Grund für dieses jüngste Vorgehen?

Die jüngste staatliche Kampagne wurde durch ein im März 2024 mit der EU unterzeichnetes Memorandum motiviert, das Teil der europäischen Sicherheitspolitik ist, um die Grenzen der EU zu externalisieren. Bei einigen Bidaner:innen, die die politisch dominante ethnische Gruppe darstellen, löste die Nachricht von diesem Abkommen Ängste vor einem „großen Bevölkerungsaustausch“ aus. Die sozialen Medien wurden zum Schlachtfeld für eine fremdenfeindliche Kampagne, angeführt von rassistischen Demagogen und Personen, die offen eine „Vorherrschaft der Bidan“ und ein von Schwarzen Migrant:innen gereinigtes Land – und unter Umständen auch ohne Schwarze Bürger:innen – forderten. 

Die Tatsache, dass auch einige mauretanische Staatsangehörige Opfer der Abschiebekampagne wurden, ist teils auf fehlende Ausweisdokumente zurückzuführen. Können Sie uns sagen, wie es zur Einführung des Ausweissystems in Mauretanien kam?

Das neue biometrische nationale Ausweissystem wurde unter dem ehemaligen Präsidenten Mohamed Ould Abdel Aziz Anfang der 2010er Jahre eingeführt, aber die komplizierten Verfahren machten es für Haratin oder Black African Mauritanians schwer, nationale Dokumente zu erhalten, unter anderem wegen fehlender Dokumente der Eltern und Diskriminierung durch die Verwaltung. Im Mai 2025 wurden zehn junge Black African Mauritanians, die keine nationalen Dokumente besaßen, zu Unrecht verhaftet, um sie abzuschieben.

Und dies ist nicht das erste Mal, dass wir Abschiebungen von Staatsangehörigen erleben, oder?

Genau, Abschiebeaktionen wie die heutige reißen die noch immer nicht verheilten Wunden der sogenannten „Ereignisse von 1989“ zwischen Mauretanien und Senegal wieder auf. Die Ereignisse von 1989 – in Mauretanien oft einfach als les évènements (die Ereignisse) bezeichnet – markieren eines der schmerzlichsten Kapitel in der jüngsten Geschichte des Landes. Die Krise begann im April desselben Jahres mit einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen senegalesischen Landwirt:innen und mauretanischen Hirt:innen entlang der Grenze. Dabei ging es um Landnutzung und Weiderechte. Was als lokaler Konflikt begann, eskalierte schnell zu einer großen diplomatischen Krise zwischen Mauretanien und dem Senegal. Es kam zu wochenlang andauernder rassistischer Gewalt, staatlicher Repression und massiven Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten der Grenze.

In dieser Zeit wurden schätzungsweise 70.000 in Mauretanien lebende Senegales:innen abgeschoben oder unter Zwang repatriiert. Gleichzeitig wurden mehr als 120.000 Black African Mauritanians die Staatsbürgerschaft entzogen und sie wurden gewaltsam in den Senegal abgeschoben, während 20.000 andere nach Mali flohen, um der Verfolgung zu entgehen. Dutzende wurden in ihren Häusern oder auf der Straße von bewaffneten Gruppen ermordet, und mindestens 530 Black-African-Mauritanians-Soldaten wurden in Militärgefangenenlagern hingerichtet, wie aus Berichten von Human Rights Watch und dem Collective of the Victims of Repression (COVIRE) hervorgeht. Die Gewalt hinterließ eine tiefe Narbe im sozialen Gefüge Mauretaniens – eine Narbe, die das nationale Gedächtnis, die interethnischen Beziehungen und die Erfahrungen der Rückkehrer:innen sowie ihrer Nachkommen bis heute prägt.

Wie steht die mauretanische Gesellschaft heute zur Vielfalt des Landes?

Die mauretanische Gesellschaft ist ein buntes Mosaik, das die Vielfalt sowohl des nördlichen als auch des südlichen Teils des afrikanischen Kontinents widerspiegelt. Dennoch haben es das Land und seine Eliten nach der Unabhängigkeit versäumt, positiv in diese Vielfalt zu investieren. Sie sehen sie nicht als eine Quelle der Stärke, sondern als Grund für die Spaltung. Hinter der Dichotomie von Schwarz und Weiß verbergen sich tiefere soziale Hierarchien, die in der Versklavung, Marginalisierung und Stigmatisierung verschiedener subalterner Gruppen – Schwarze und Weiße gleichermaßen – wurzeln, darunter die Haratin, die Maalmin (Handwerker) und andere soziale Schichten. Das Ergebnis ist ein halb offenes, halb geschlossenes soziales System, in dem Abstammung mehr zählt als Ethnie oder Hautfarbe. Auch sind Frauen in allen sozioökonomischen Strukturen immer noch unterrepräsentiert. In diesem Sinne bleibt die mauretanische Gesellschaft fragmentiert. Nur Gott weiß, was die verschiedenen Teile der Gesellschaft zusammenführen wird.

Welche Herausforderungen gibt es speziell für die Haratin in Mauretanien?

Wie viele Länder des globalen Südens kämpft Mauretanien nach wie vor mit der Idee eines zusammenhängenden Nationalstaats und mit der Transformation von Stammesstrukturen in der postkolonialen Ära. Die Haratin stehen vor einer doppelten Herausforderung: Ihnen wird die politische Anerkennung und soziokulturelle Sichtbarkeit verweigert, obwohl sie etwa 40 % der Bevölkerung ausmachen. Ihre Situation ist nicht unbedingt besser als die der Black African Bürger:innen.

Bidanische Eliten haben in der Vergangenheit immer wieder versucht, mit den Haratin Additions- und Substitutionsspiele zu treiben, um die demografische Skala auszugleichen. Manchmal bedeutet dies, dass man den Haratin ihre schwarze Herkunft abspricht und stattdessen behauptet, sie seien Bidan – was ironisch ist, da „bidan“ „weiß“ bedeutet und die Haratin weitgehend als Nachkommen versklavter Schwarzer angesehen werden. Diese zusätzliche Taktik wurde entwickelt, um die Haratin gegen andere schwarze Mauretanier:innen und Migrant:innen auszuspielen – eine Strategie, die in der Vergangenheit funktioniert hat, insbesondere während der Ereignisse von 1989, als die Haratin als „Prügelknaben“ gegen Black African Mauritanians und Senegales:innen eingesetzt wurden und ihr Eigentum in mehreren Städten und im Senegal-Flusstal beschlagnahmten.

Hängt die derzeitige Situation Schwarzer Mauretanier:innen nur mit Rassismus zusammen?

Ich denke, das Problem der Schwarzen Mauretanier:innen lässt sich nicht von den umfassenderen strukturellen Fehlern des modernen Staates trennen. Es stimmt, dass die Stammeszugehörigkeit und die Ethnisierung der staatlichen Strukturen de facto einen Bidan-Staat geschaffen haben, der Haratin, Black African Mauritanians und sogar arme Bidaner:innen gleichermaßen ausgrenzt. Das Fortbestehen solcher struktureller Ungerechtigkeiten wird nur zu mehr Fragmentierung und Ungleichheit führen, so dass eine soziale Explosion nur eine Frage der Zeit und der Umstände ist.

Welche Rolle spielt dabei das Verhalten der Polizei?

In den ersten zwei Jahren der aktuellen Regierung (2019-2022) hat die Polizei nach meinen Erkenntnissen 130 Bürger:innen festgenommen – im Durchschnitt ein Vorfall pro Woche. Die Ermordung von 12 mauretanischen Bürgerinnen und Bürgern im Jahr 2020, darunter vier Jugendliche bei den Präsidentschaftswahlen im Juni 2024, spricht Bände über die Brutalität der Sicherheitskräfte gegen einfache Menschen – Studierende, Frauen, Aktivist:innen, Arbeiter:innen und Abolitionist:innen.

​​​​​​​Wie schätzen Sie die Zukunft der mauretanischen Gesellschaft ein?

Der offene Himmel und das Aufkommen der sozialen Medien bringen nicht nur berüchtigte Stimmen der Fremdenfeindlichkeit, des religiösen Extremismus und anderer sozialer Missstände hervor, sondern geben auch Aktivist:innen, Blogger:innen, Whistleblower:innen, Abolitionist:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen aller Art Auftrieb. Die jüngsten Auswanderungswellen könnten eine konstruktive Rolle bei der Neugestaltung der gesellschaftlichen Zukunft des Landes spielen. Das Exil schafft oft Distanz zu eingefahrenen Normen und setzt den Einzelnen neuen Ideen des Zusammenlebens und der Gleichheit aus. Von Orten wie den USA, wo Ethnie, Klasse und Identität anders verhandelt werden, können Mauretanier:innen zurückkehren oder aus der Ferne mit neuen Perspektiven Einfluss nehmen. So können sie die starren Hierarchien in der Heimat in Frage stellen. Selbst wenn dies nur allmählich geschieht, könnte ein solches Engagement dazu beitragen, eine inklusivere soziale Vision zu fördern. Zumindest ist das meine Hoffnung.

 

 

 

Frida Nsonde ist freie Journalistin und Fotografin. Sie lebt in Westafrika und schreibt vor allem über gesellschaftliche Themen und Transformation. Wenn sie nicht schreibt, fotografiert sie politische Ereignisse, alltägliche Besonderheiten und Jugendkultur.
Redigiert von Filiz Yildirim, Nora Theisinger
Übersetzt von Vanessa Barisch