Am Mittwochmorgen verstarb Israels ehemaliger Premierminister und Staatspräsident Shimon Peres. Amina Nolte und Julia Lex waren rund um die Trauerfeier in Jerusalem unterwegs. Sie haben Reaktionen eingefangen, die so vielschichtig und umstritten sind wie Peres' Vermächtnis.
Am Mittwoch erwachte Israel zu einem Heer an Nachrufen zum Tode von Shimon Peres. Vermeintlich schon lange vorproduziert, füllten diese bereits nach wenigen Stunden die nationalen und internationalen Onlinemagazine und Nachrichtenspalten. Man überbot sich in großen Worten und pathetischen Abgesängen auf ein Leben, das eng mit der Geschichte und dem Werden des Staates Israel verwoben war. Der oft bezweifelte und manchmal auch belächelte Shimon Peres wurde dabei nach seinem Ableben als der große Staatsmann gelobt, der er vielleicht zu Lebzeiten nie wirklich werden durfte. Von den Medien gefeiert als Mann des Friedens, als Weltenbürger und großer Diplomat, dessen Tod eine große Lücke in der israelischen Politik hinterlassen würde, war die Stimmung aber auch durchzogen von eher zurückhaltenden und kritischeren Stimmen.
So schrieb beispielsweise Haggai Matar am Mittwoch für den israelischen Blog Sicha Makom über das ambivalente politische Erbe von Shimon Peres: Dieser sei nicht nur daran beteiligt gewesen, Nuklearwaffen an den damaligen Apartheid-Staat Südafrika zu liefern sondern habe während seiner zweijährigen Amtszeit als Premierminister 1984 auch geholfen, die Ermordung zweier palästinensischer Terroristen zu vertuschen, die in einem israelischen Verhör erschlagen worden seien. Matar sieht zudem auch die Osloer Verträge kritisch, die als diplomatische Errungenschaft Peres' und des damaligen Premierministers Yitzchak Rabin gefeiert wurden. Die Verträge hätten die israelische Übermacht über die palästinensischen Gebiete zementiert und eine palästinensische Führung geschaffen, die komplett von israelischem Wohlwollen und Geldern abhängig sei.
Die arabische Presse war noch deutlicher in ihren Aussagen. Peres sei maßgeblich an dem Übergriff auf das libanesische Dorf Qana im Jahre 1996 beteiligt gewesen. Dabei waren 100 Zivilist_innen durch israelischen Beschuss umgekommen, obwohl sie Zuflucht in einer UN-Station gesucht hatten. Peres sei ein Kriegsverbrecher und es sei daher heuchlerisch, dass die westlichen Politiker_innen ihn als Mann des Friedens feierten. Einen ähnlichen Tenor griff Robert Fisk im britischen Independent auf: „Als die Welt hörte, dass Peres tot ist, schrien alle: Mann des Friedens. Als ich aber hörte, dass Peres tot ist, da dachte ich an Blut, Feuer und Metzelei.“
Ambivalente Stimmen aus Israel
Auf den Straßen Jerusalems spiegelte sich die mediale Aufgeregtheit um den Staatsmann Peres allerdings nicht wieder. Pragmatisch gingen die meisten Israelis am Mittwochmorgen ihren täglichen Geschäften nach. Auch am Donnerstag und Freitag bot sich trotz der Ankunft von über 70 Staatsoberhäuptern das gleiche Bild – und das, obwohl unzählige Straßen gesperrt waren, der öffentliche Verkehr teilweise eingestellt wurde und der Schulunterricht am Freitag für alle israelischen Schüler_innen ausfiel.
Auf die Frage, was der Tod von Shimon Peres für sie bedeute, kam zunächst von vielen Israelis eine ähnliche Antwort: Nun, mit 93 sei der Tod nicht so überraschend und vielleicht auch eine Erlösung. Ja, Shimon Peres sei wichtig gewesen für Israel, aber für Frieden stehe er deswegen noch lange nicht. Ein 91-Jähriger Weggefährte von Peres, der seine Politik über die Jahre eng verfolgt hatte, ist der Meinung, dass Shimon Peres „sehr wichtig war für Israel. Er hat viel für das Land getan, auch wenn ich politisch oft nicht einer Meinung mit ihm war. Ich bewundere, was er im Bereich der Verteidigungspolitik für Israel getan hat. Aber man darf nicht vergessen, dass er politisch die Besiedlung der besetzten palästinensischen Gebiete maßgeblich mit vorangetrieben hat.“
Eine junge Israelin, 29 Jahre alt, erinnert sich an eine Begegnung mit Shimon Peres im Kibbutz Dalia vor zehn Jahren: „Ja, er kam und hat bei uns in einem der Zimmer übernachtet. Da haben wir eben ein Foto gemacht. Als ich dann gestern darauf verlinkt wurde, habe ich den Verweis auf mich schnell wieder entfernt. Ich will nicht mit diesem Mann zusammen auf einem Bild erscheinen. Er war kein Mann des Friedens und es ist pathetisch, dass jetzt alle so tun, als sei er das gewesen.“
Andere sind ambivalenter in ihren Aussagen. „Klar, Shimon Peres war bedeutsam für Israel. Er steht für eine Generation von Politiker_innen, die es so heute nicht mehr gibt. Und das ist schade", meint ein junger Israeli. Gleichzeitig gibt er zu bedenken: „Aber jetzt versuchen alle, seine Geschichte zu einer Erfolgsgeschichte, einer Geschichte des Friedens zu machen. Aber Peres war zwiespältig in seinen Handlungen. Und so sollten wir uns auch daran erinnern.“
„Sein Tod an sich war absehbar“, so eine 41-Jährige Israelin aus Tel Aviv. „Aber was es für Israel bedeutet, können wir noch nicht vorhersagen. Er war Teil einer politischen Führung, die es heute so nicht mehr gibt, die das Land aber dringend braucht.“
Ein Kaddisch für den Vater und Staatsmann
Mit der Todesnachricht am Mittwochmorgen folgte allerdings nicht nur eine Diskussion über das politische Erbe von Peres, sondern auch über seine Trauerfeier. So stellte sich die Frage, wem die Ehre zuteil würde, am Tag seiner Beerdigung zu sprechen. Die arabisch-palästinensischen Parteien in Israel kündigten derweil an, nicht an der Trauerfeier teilzunehmen.
Am Freitagvormittag dann versammelten sich israelische und internationale Staatsoberhäupter und Politiker_innen sowie Wegbegleiter_innen, Bekannte und Familienangehörige von Shimon Peres auf dem Berg Herzl, um diesem die letzte Ehre zu erweisen.
Bill Clinton erinnerte sich an „seinen alten Freund“ Peres, der auch „kompliziert war, aber sich immer weigerte, die Hoffnung zu verlieren“. Ähnlich erwartbar war auch der Beitrag von US-Präsident Barack Obama: Er betonte, dass Peres die Welt nicht so sah, wie sie war, sondern sie so sehen wollte, wie sie sein sollte. „Sein Streben nach Frieden war aber niemals naiv, das weiß ich ganz sicher.“ In Bezug auf die Anwesenheit des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas betonte Obama zudem, dass dessen Präsenz auf der Beerdigung eine Erinnerung an das unvollendete „Business of Peace“ sei. Peres, so Obama, habe gewusst, dass das jüdische Volk nicht dazu geboren sei, ein anderes zu beherrschen - ein Satz, der für viel Furore in den medialen Nachbesprechungen von Obamas Rede sorgte. Von allen Seiten wurde er als letzter Seitenhieb des scheidenden US-Präsidenten gegen Benjamin Netanyahu verstanden.
Obwohl oft sehr persönlich, waren alle Reden auch höchst politisch. Das ist allerdings kaum verwunderlich, war doch das Leben von Peres sehr eng mit dem Staat Israel und all seinen politischen Errungenschaften wie auch Niederlagen verbunden.
Besonders gut gelang es dabei dem israelischen Schriftsteller Amos Oz, Shimon Peres als Mensch in all seinen Widersprüchen und Zweifeln zu skizzieren. „Shimon war mein Freund. Seit 42 Jahren sprachen wir jeden Freitag um 17 Uhr am Telefon. Und nicht nur über Politik, sondern über die Irrungen und Wirrungen des Herzens, über Literatur, Kunst und die Welt.“ Mit einem sehr direkten Seitenhieb auf die anwesende politische Elite des Landes betonte Oz zudem, dass Peres verstanden hätte, dass eine Zweistaatenlösung die einzige Lösung des Nahostkonflikts sein könne: „Die Israelis und Palästinenser_innen sind gelähmt. Es gibt momentan keinen Weg heraus aus dem Dilemma. Israel muss die Zweistaatenlösung als politische Lösung verfolgen. Aber wo sind die mutigen politischen Führer, die dies heute noch umsetzen können?“ In einem emotionalen Schlussteil betonte Oz dann, dass seine Gespräche mit Peres nie enden würden: „Jeden Freitag um 17 Uhr werde ich im Gespräch mit Peres sein. Ich verabschiede mich von meinem Freund in Liebe und hoffe, dass auch das Gespräch zwischen Peres und seinem Volk Israel nie aufhören wird.“
Besonders bewegend waren auch die Abschiedsworte der drei Kinder von Shimon Peres, die ihn als Vater und Wegbegleiter erinnerten. Er habe sie stets durch schwere Zeiten begleitet und sei stolz auf seine sich immer (noch) vergrößernde Familie gewesen, so sein Sohn Hemi. Seine Tochter Zvia erinnerte in ihrer atemlosen Abschiedsrede an ganz persönliche Momente, an den Tod von Peres' Frau Sonja im Jahre 2011 und seine Schwierigkeiten, sich an neue Dinge zu gewöhnen. „Ich verabschiede mich heute von zwei Shimon Peres'. Von meinem Vater, den wir liebevoll Papa und manchmal auch Opa nannten und von Shimon Peres, dem Staatsmann, dem Weltenbürger, als den wir ihn auch kannten. In Liebe sag ich Dir, dass Du Dir Deine Ruhe in Frieden wohl verdient hast.“
Und so waren es auch seine drei Kinder, die an Shimon Peres' Grab das Kaddisch, das jüdische Trauergebet, für ihn sprachen. Für Aufsehen sorgte dabei Peres’ Tochter Zvia, die zum einen das Gebet als Frau laut mit vorlas, was in der orthodoxen jüdischen Tradition nicht erlaubt ist. Zum anderen fiel sie auf durch ihre eigenwillige Interpretation des letzten Satzes des Kaddisch-Gebets. Der Bitte um den Segen Gottes für das Volk Israel fügte sie eine weitere, nicht im Gebet enthaltene Zeile hinzu: und für die gesamte Menschheit. Eine Hommage an ihren Vater, den Weltenbürger, dessen Wirken sich auch stets im Spannungsfeld von jüdischen und universalen Werten vollzog.
Doch kaum war die Beerdigung vorbei, kreisten auch wieder die Hubschrauber über Jerusalem. Die Staatsgäste verließen die Stadt per Hubschrauber und im Autokonvoi. Und in den Medien war die Debatte über das politische Erbe wieder in vollem Gange. Im Anschluss an die Beerdigung, bei der sich auch Benjamin Netanyahu und Mahmud Abbas die Hände schüttelten, verschaffte eine junge israelische Menschenrechtsaktivistin ihrer Frustration auf Facebook Ausdruck:
„Ich hoffe, dass diese Beerdigung auch die Beerdigung der Oslo-Verträge war. Ich hoffe, dass wir es weiterhin schaffen, die alte Generation, die uns und die Palästinenser_innen zerstört hat, zu ersetzen. Ich hoffe, dass es das letzte Mal war, dass die Beiden die Glaubwürdigkeit hatten, sich die Hände zu schütteln. Schande über die Häupter der Weltpolitiker_innen, dass sie es geschafft haben, so schnell hierher zu kommen, während ihnen in Gaza und Syrien die Kinder zuschauen und sehen, wie die Welt sie vergisst. Schon wieder.“