01.11.2019
Wissenschaftsgeschichte zwischen Orientalismus und Orientalistik
Im 12. Jahrhundert wurde an der Escuela de Traductores in Toledo erstmals der Koran ins Lateinische übersetzt und "der Islam" so zum Objekt westlicher Forschung und Beurteilung. (Quelle: flickr.com/photos/43021516@N06/28929892191.)
Im 12. Jahrhundert wurde an der Escuela de Traductores in Toledo erstmals der Koran ins Lateinische übersetzt und "der Islam" so zum Objekt westlicher Forschung und Beurteilung. (Quelle: flickr.com/photos/43021516@N06/28929892191.)

Studierende der Islamwissenschaften lernen an deutschen Unis nur wenig über Methodik oder Geschichte ihres Fachs. Auch diesbezügliche Einstiegsliteratur ist rar. Zwei aktuelle Bücher widmen sich nun der deutschen Orientalistik. Aber eigenen sie sich zur kritischen Auseinandersetzung?

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Seit Mai 2018 stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

An deutschen Universitäten nimmt im Bachelorstudiengang der Islamwissenschaften die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte nur wenig Raum ein. Die Namen Nöldeke und Goldziher sollten die Studierenden mal gehört haben, die Lektüre von Edward Said wird in der Regel empfohlen und Hans Wehr kennt jede*r spätestens ab dem zweiten Semester Arabisch. Will man sich aber als Student*in auf eigene Faust einen etwas tieferen Einblick verschaffen, ist man mit der Tatsache konfrontiert, dass das einzige deutschsprachige Standardwerk zur Geschichte westlicher Auseinandersetzungen mit der arabischen Welt von 1955 stammt und entsprechend dort endet.[1] Natürlich gibt es auch neuere Literatur zur Geschichte der deutschen Islamwissenschaft, diese ist aber für einen Einstieg zu spezifisch, weil sie sich immer nur auf einzelne Perioden oder Gebiet beschränkt. [2]

In den beiden vergangenen Jahren sind zwei Bücher erschienen, deren Titel vermuten lassen, dass sie sich eignen, auch Einsteiger*innen einen Einblick in die Geschichte des Faches zu geben: Peter Heines Einführung in die Islamwissenschaft, ursprünglich 2008 erschienen und nun in überarbeiteter zweiter Auflage herausgegeben, sowie Islamische Geschichte und deutsche Islamwissenschaft. Islamologie und die Orientalismus-Debatte von Bassam Tibi.

Gute Einstiegslektüre mit kleinen Schönheitsfehlern

Heine ist Islamwissenschaftler und hat in den letzten Jahren insbesondere populärwissenschaftliche Bücher zu aktuellen Themen publiziert. Seine Einführung richtet sich in erster Linie an Studierende der Islamwissenschaften und soll zur »fachlichen Identitätsbildung« (Heine, S. VII.) beitragen. Das Buch deckt eine Vielzahl von Themen zur islamischen Geschichte, Theologie und Kulturen ab. Darin unterscheidet es sich von anderen Einführungen in den Themenkomplex »Islam« vor allem darin, dass Heine dabei unterschiedliche westliche und islamwissenschaftliche Debatten über den Koran (S. 23 - 28.), zur Hadith-Überlieferung (S. 38 - 41.) und der Entstehung des islamischen Rechtswesens (S. 56 f.) im Laufe der Geschichte skizziert. Zwar bleiben seine Darstellungen allgemein und machen zum Teil weite Sprünge durch die Historie. Dank ausführlicher Zitate zu diesen Debatten geben sie jedoch spannende Einblicke und liefern niedrigschwellige Möglichkeiten, sich weiter mit den verschiedenen Thematiken zu beschäftigen.

Heines Versuch, der Geschichte seines Faches durch die Darstellung verschiedener Perspektiven differenziert zu begegnen, ist zunächst einmal ein guter Ansatz. Hierin liegt aber zugleich das größte Manko an seinem Buch: Bei aller Kritik am Eurozentrismus und Orientalismus bleibt bei ihm doch der Dualismus »westliche Wissenschaft« vs. »die Muslime« bestehen. Dadurch stellt sich unweigerlich die Frage, ob Heine eben jenem Essentialismus verfällt, dem er ja eigentlich entgehen will. Oder aber, ob er hier die nur die Realität abbildet. Erst auf den letzten Seiten des Buches spricht Heine die Problematik an, »ob so große politische Regionen wie der ›Westen‹ und die ›islamische Welt‹ überhaupt über eine jeweils einheitliche Kultur verfügen und, wenn ja, was sie beinhaltet.« (S. 186.) Der dahinterstehenden Grundproblematik, dass der Begriff »Islam« nicht nur für die Religion genutzt wird, sondern zugleich unterschiedslos und allgemein als Attribut für verschiedenste Kulturen und Regionen, wird Heine damit leider nicht gerecht. Vor allem aber werden nicht die Fragen formuliert, die sich in der Auseinandersetzung mit der Islamwissenschaft und am Ende des Buches aufdrängen: Was soll diese Wissenschaft überhaupt sein? Wieso stehen sich »die westlichen Islamwissenschaftler*innen« und »die Muslim*innen« vermeintlich oder real gegenüber? Wer untersucht hier wen? Und wozu?

Anachronistische Kampfschrift zwischen berechtigter Kritik ...

Bassam Tibi wuchs in Damaskus auf, studierte in Frankfurt Sozialwissenschaften, Philosophie und Geschichte und gab in den 1960er bis 80er Jahren mehrere Bücher zur politischen Linken und zum Nationalismus im arabischen Raum heraus. Seither veröffentlichte er zahlreiche, meist populärwissenschaftliche Schriften. Der deutschsprachige Diskurs verdankt ihm Begriffe wie »Europäische Leitkultur« und »Kopftuch-Islam«; er schreibt u.a. für den Cicero, die Achse des Guten und trat 2018 bei einer Veranstaltung der rechtspopulistischen FPÖ auf. Tibis Buch, so merkt man bereits nach wenigen Seiten, hat nicht den Anspruch einer Geschichte der Islamwissenschaften. Vielmehr ist es eine Abrechnung des Autors mit dieser. Allerdings stellt sich der Autor dabei ähnliche Fragen, wie die, die Heines Buch aufwirft.

Zunächst muss sich der/die Leser*in jedoch durch die ersten rund 70 Seiten Vorwort und Einleitung kämpfen, in denen der Autor sich ausführlich selbst rühmt und gegen die deutsche Islam- und Geschichtswissenschaft wettert. Tibi plädiert dafür, die klassische Islamwissenschaft abzuschaffen und zugunsten einer soziologischen und geschichtswissenschaftlichen Disziplin, die sich mit dem Islam als Weltzivilisation auseinandersetzt, zu ersetzen. Diese Disziplin nennt er Islamologie. Dahinter steht sein Vorwurf, dass die Islamwissenschaft als Teil der Philologie dem Anspruch einer gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema nicht gerecht werden könne.

Damit legt Tibi den Finger tatsächlich in eine offene Wunde; nämlich die Frage, weshalb die historisch gewachsene Einbettung der Orientalistik in die sprachwissenschaftlichen Fakultäten, nämlich die der Arabistik, bis heute institutionell verankert ist. Dass im Studium selbst neben der sprachlichen Ausbildung kaum Lehre in Theorie und Methodik der Sozialwissenschaften erfolgt, ist problematisch. Genauso wie umgekehrt fraglich ist, wieso »islamische Geschichte«, genau wie generell afrikanische und asiatisch oder lateinamerikanische, in Sonderfächer ausgegliedert werden. Hier ist Tibis Beanstandung tatsächlich berechtigt: Sprachwissenschaft ist nun einmal nicht gleich Sozialwissenschaft. Allerdings ist er mit dieser Kritik nicht der einsame Rufer in der Wüste, als der er sich gerne darstellt. Vielmehr dürften sich mittlerweile die meisten Islamwissenschaftler*innen, vor allem jüngerer Generationen, der Notwendigkeit zur Interdisziplinarität und Methodenlehre bewusst sein. Zudem ist wiederum die jeweilige sprachliche Ausbildung für Historiker*innen oder auch Sozialwissenschaftler*innen notwendig, wenn sie sich bei der Forschung nicht ausschließlich auf europäische Quellen, Fachliteratur und Übersetzungen stützen wollen.

... und rechten Phrasen

Völlig absurd ist hingegen seine mehrfach vorgebrachte Behauptung, es gäbe ein positiv verklärtes Islambild in der deutschen Gesellschaft. Angesichts einer mehrheitsfähigen Islamfeindlichkeit, seit Jahren wiederkehrender rassistischer Medienkampagnen und zunehmender Gewalt gegen Muslim*innen und islamische Einrichtungen, fragt man, in welcher Realität der Autor lebt. Tibi argumentiert dabei stets mit den eigenen Erfahrungen aus den 1960er bis 90er Jahren, die letzten 30 Jahre ignoriert er dabei völlig.

Im letzten Teil seines Buches setzt Tibi statt auf Wissenschaftlichkeit dann auf blanke AfD-Rhetorik. Hier beschreibt er die von ihm »islamische Zuwanderung« genannten aktuellen Flucht- und Migrationsbewegung aus der WANA-Region nach Europa. Er warnt die seiner Meinung nach naiven »Westler« vor den »Millionen islamischen (sic!) Flüchtlingen« (S. 263 f.), die Europa angeblich islamisieren wollten. Um dem Untergang Europas vorzubeugen, gelte es, die Zuwanderung zu regulieren und nur einigen wenigen, gut ausgebildeten Fachkräften Zugang zu gewähren.  Andernfalls werde Europa untergehen. Nebenbei schwadroniert Tibi von »Political-correctness-Zensur« und schießt gegen »Gesinnungsethiker und Linksgrüne«. (S. 278.) Dieser Abschnitt liest sich wie jeder x-beliebige Beitrag auf irgendeinem rechtspopulistischen Online-Blog.

Wenig überrascht die bei der Lektüre gewonnene Erkenntnis, dass Tibi auch in Bezug auf die Rassismusforschung seit Jahrzehnten nicht mehr auf dem aktuellen Stand ist. Den Begriff des antimuslimischen Rassismus weist er empört mit den Worten zurück: »Muslime bilden doch keine Rasse!« (S. 14.) Wer Islamfeindlichkeit als Rassismus bezeichne, sei zum einen verwirrt und wolle zum anderen Religionskritik mundtot machen. Dabei ist das Phänomen des Kultur-Rassismus, insbesondere auf das Thema »Islam« bezogen, seit Jahrzehnten bekannt. Seine Bagatellisierung des antimuslimischen Rassismus hindert ihn aber nicht daran, selbst großzügig mit dem Rassismus-Vorwurf auszuteilen, wenn es um seine eigene Person geht. In der Einleitung unterstellt er seinen Kritiker*innen gleich dreimal pauschal, diese könnten in Wahrheit nicht ertragen, dass er es als Araber zum Akademiker gebracht hätte.

Kritische Reflektion bleibt aus

Weder das Buch von Bassam Tibi noch das von Peter Heine werden einer niedrigschwelligen und gleichzeitig kritischen historischen Einführung in die deutsche Islamwissenschaft völlig gerecht. Tibi disqualifiziert sich selbst durch seine rassistischen Äußerungen und die Brüche in seiner Argumentation. Heine hat dagegen ein gut lesbares Grundlagenbuch geschrieben, das sich für die erste Auseinandersetzung sowohl mit dem Fach Islamwissenschaft als auch dem Themenkomplex Islam eignet. Allerdings problematisiert er dabei wesentliche Aspekte zu wenig, etwa die Frage nach der Abgrenzung gegenüber oder Überschneidungen mit anderen Disziplinen.

Die historischen Wurzeln der Islamwissenschaft liegen im christlich-abendländischen Überlegenheitsanspruch und im europäischen Kolonialismus. Die Diskussion darüber, wie auf Basis dieses Erbes qualifizierte und orientalismuskritische Forschung betrieben werden kann, muss auch an den islamwissenschaftlichen Instituten geführt werden. Um Studierende an diese Thematik heranzuführen, braucht es Literatur, die die Geschichte der deutschen Islamwissenschaft kritisch reflektiert. Das leistet weder Heines ansonsten solide Grundlagenwerk, noch Tibis diffuse Abrechnung.

Peter Heine: Einführung in die Islamwissenschaft, De Gruyter 2018 (214 Seiten).

Bassam Tibi: Islamische Geschichte und deutsche Islamwissenschaft. Islamologie und die Orientalismus-Debatte, Ibidem-Verlag 2017 (311 Seiten).

 

[1] Johann Fück: Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, (Harrassowitz 1955).

[2] Zur mehr oder weniger wissenschaftlichen Auseinandersetzung vor und im 19. Jahrhundert etwa Annette Katzer: Araber in deutschen Augen, (Schöningh 2008) und Sabine Mongold: Eine »weltbürgrliche Wissenschaft«, (Franz Steiner 2004); bis 1945 Ludmila Hanisch: Die Nachfolger der Exegeten (Harrassowitz 2003) und Ekkehard Ellinger: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933-45, (Deux Mondes 2006) und zur DDR-Orientalistik von Kai Hafez: Orientwissenschaft in der DDR (1995). Der von Abbas Poya und Maurus Reinkowski herausgegebene Sammelband Das Unbehagen in der Islamwissenschaft (Transcript 2008) setzt sich in erster Linie mit der Aktualität des Fachs auseinander.

Leon studiert Geschichte und Orientalistik/Islamwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum mit den Schwerpunkten Politik und Neuere und Neueste Geschichte. Bislang besuchte er Ägypten, die Türkei, Iran, Israel, Palästina und Oman.
Redigiert von Jannik Veeenhuis, Adrian Paukstat