26.01.2020
Deutsche Islamwissenschaften zwischen Elfenbeinturm und Weltpolitik
Für die Eroberungspläne der Nazis verfasst, für die Arabistik bis heute unverzichtbar – das Standardwörter-buch von Hans Wehr. (Quelle: Privatfoto)
Für die Eroberungspläne der Nazis verfasst, für die Arabistik bis heute unverzichtbar – das Standardwörter-buch von Hans Wehr. (Quelle: Privatfoto)

Die deutschen Islamwissenschaften haben ihre historische Rolle als Werkzeug imperialer Interessen zwar weitgehend verloren – dieser Fortschritt spiegelt sich aber nicht im gesamtgesellschaftlichen Islamdiskurs wider. Eine Analyse.

Die Disziplin, die wir heute als Islamwissenschaften oder zum Teil noch als Orientalistik bezeichnen, entstand im 19. Jahrhundert. Ihre Wurzeln reichen aber weiter zurück und liegen in der Auseinandersetzung europäischer Christ*innen mit dem jungen Islam im frühen Mittelalter. Diese Auseinandersetzung stand im Zeichen der sich zunehmend religiös aufladenden militärischen Mobilisierung der katholischen Kirche gegen die muslimische und jüdische Bevölkerung Spaniens, den Kreuzzügen und den Eroberungen der osmanischen Truppen in Osteuropa.

Entsprechend ging es nicht um ein akademisches oder theologisches Interesse, sondern um die ideologische Bekämpfung „des Islam“ und die Aneignung von Wissen über ihn. Damit hatte die Auseinandersetzung von Beginn an einen Doppelcharakter: Die Intensivierung des Wissens über den Islam ging in Westeuropa Hand in Hand mit der Ausprägung des Feindbilds „Islam“ einher.

Auf der anderen Seite gab es immer wieder Beispiele, wie Muslim*innen und der Islam in der westlichen Rezeption positiv aufgefasst wurden. Allerdings schloss an diese, oft ebenfalls verkürzten Darstellungen bald der Exotismus an. Das Subjekt der „Orientalen“ war in ihrem Inhalt zwar ambivalent und griff sowohl positive als auch negative Klischees auf, konstruierte aber ein muslimisches „Anderes“, das Europäer*innen dem Wesen nach entgegengesetzt war (othering). Dadurch ergänzte der Exotismus den aufkommenden Kolonialrassismus nicht nur gegenüber den muslimischen Gesellschaften, diente als Scharnier zwischen der Romantik der Liebhaber*innen und Abenteurer*innen auf der einen, und dem Chauvinismus der Rassist*innen und Machtpolitiker*innen auf der anderen Seite. Ähnliches galt für die aufkommenden Orientwissenschaften.

 

Ein Kind des Kolonialismus

Der Abschluss der Reconquista fiel mit der vermeintlichen Entdeckung Amerikas zusammen, die den Startschuss für die Kolonisierung weiter Teile der Welt durch die Europäer*innen gab. Allerdings gingen die europäischen Mächte erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts von der, in erster Linie, ökonomischen Penetration des geschwächten Osmanischen Reichs zur offenen militärischen Aggression in der MENA-Region[1] über. Nach der Niederlage der Osman*innen im Ersten Weltkrieg teilten Großbritannien und Frankreich Westasien unter sich auf. In dieser Zeit der zwischenimperialistischen Konkurrenz und kolonialer Grenzziehungen hielten die Islamwissenschaften Einzug in die Universitäten Europas und wurden staatlich gefördert. Primäres Ziel war die Regionen und Gesellschaften, die man unterwerfen wollte, zu verstehen, um sie besser beherrschen zu können.

Die Begriffe des englischen „orientalist“ und des französischen „orientaliste“ kamen Ende des 18. Jahrhunderts auf und wurden später ins Deutsche übernommen. Sie bezeichneten zunächst unterschiedslos die sich in dieser Zeit akademisierende (vor allem sprach)wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem gesamten „Orient“, das heißt dem so genannten „Nahen und dem Fernen Osten“. Im Zuge der Ausdifferenzierung kolonialer und akademischer Interessen wurden Afrikanistik, Indologie, Sinologie und weitere Fächer im Laufe der Zeit von der Orientalistik getrennt, sodass diese sich schließlich nur noch auf den „vorderen Orient“, also die WANA-Region, bezog. Studieren konnten Interessierte diese Gesellschaften zunächst fast ausschließlich in den Zentren der europäischen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien.

Sowohl die nationale Einheit betreffend, als auch auf dem Feld der Kolonialpolitik, hinkte Deutschland Großbritanien und Frankreich hinterher. Wie die sich erst spät entwickelnden Ambitionen im „Orient“, wurde auch die Wissenschaft in diesem Bereich zeitlich verschoben institutionalisiert. Zwar gab es bereits seit dem 18. Jahrhundert deutschsprachige publizistische Auseinandersetzungen mit der „islamischen Welt“, allerdings etablierte sich die Deutsche Morgenländische Gesellschaft als erste Vereinigung deutscher Orientalist*innen erst 1845. Die Gründung fiel damit nicht nur mit der Hochzeit nationaler Einheitsbestrebungen zusammen, sondern auch mit dem Aufkommen deutscher Kolonialambitionen.

 

Die Orientalist*innen und der „Platz an der Sonne“

„Die Blütezeit vorderasiatischer Studien“[2] in Deutschland brach jedoch erst nach der Reichsgründung 1871 an. 1887 wurde in Berlin das Seminar für orientalische Sprachen (SOS) eingerichtet, das sich explizit der Ausbildung für den praktischen Gebrauch in der deutschen Außen-, Wirtschafts- und Kolonialpolitik widmen sollte. Ähnliches galt für die 1913 ins Leben gerufene Deutsche Gesellschaft für Islamkunde. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs stimmten auch prominente Orientwissenschaftler wie Theodor Nöldeke und Carl Heinrich Becker in den Chor der den Krieg befürwortenden Akademiker*innen ein. Becker unterstützte zudem eine Initiative der deutschen Führung, die das verbündete Osmanische Reich dazu anhielt, den „Jihad“ gegen die Entente-Mächte auszurufen.

Unter den Nazis wurden die orientalistischen Institutionen den außenpolitischen Interessen und ideologischen Vorgaben entsprechend umstrukturiert. Nur wenige Orientalist*innen, etwa Joseph Schacht, verließen Deutschland nach der Machtübertragung an die NSDAP. Viele stellten sich in den Dienst des Daschismus, wie Rudi Paret, der für die deutschen Truppen während des Nordafrikafeldzugs dolmetschte. Muslim*innen und Araber*innen nahmen in der Politik der Nazis eine widersprüchliche Rolle ein: Sie galten als „rassisch minderwertig“.

Zugleich versuchte man sie als mögliche Verbündete gegen Großbritannien, Frankreich und die UdSSR zu gewinnen. Dafür wollte man Hitlers „Mein Kampf“ ins Persische und Arabische übersetzen lassen. Außerdem förderten die Nazis die Forschung eines gewissen Hans Wehr, der an einem umfangreichen arabischen Wörterbuch arbeitete. Ein wenig bekanntes Kapitel der Entstehungsgeschichte dieses bis heute unverzichtbaren Standardwerks der Arabistik ist das Wirken der Jüdin Hedwig Klein, die im Anschluss an ihre Arbeit von den Nazis ermordet wurde.

 

Nach 1945: Zwei Schritte vor, einer zurück

In der BRD lag nach dem Ende des Krieges der Schwerpunkt der Lehre und Wissenschaft im philologischen Bereich. Eine Ausnahme bildete die Freie Universität in Westberlin. Im Laufe der Zeit entwickelten sich zwei Pole in der westdeutschen Islamwissenschaft: die „klassische Orientalistik“ mit ihrem philologisch-historischen Schwerpunkt auf der einen, die sozialwissenschaftlich geprägten Islamwissenschaftler mit ihrem Fokus auf aktuellen gesellschaftlichen Realitäten auf der anderen Seite. Ab den 1970er-Jahren begann sich das Mehrheits- und Kräfteverhältnis zugunsten letzterer zu verschieben. Allerdings ergänzen sich beide Strömungen in der Forschung bis heute.

Insgesamt entwickelte sich die westdeutsche Islamwissenschaft etwas autonomer, da sie nach 1945 als Werkzeug außenpolitischer Machtinteressen des besiegten Deutschlands zunächst ausgedient hatte. In der DDR lehnte man dagegen das Bild einer vermeintlich von den politischen Machtverhältnissen unabhängigen Wissenschaft ab. Neben der klassischen orientalistischen Forschung, rief man auch die Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften ins Leben, von denen ganz offen erklärt wurde, sie hätten sowohl der Erziehung der Bevölkerung zum „Internationalismus und zur antiimperialistischen Solidarität“, als auch „der Gestaltung unserer Beziehungen zu den Ländern Lateinamerikas, den jungen Staaten Asiens und Afrikas und den nationalen Befreiungsbewegungen“ zu dienen.[3]

Nach dem Anschluss der Deutschen Demokratischen an die Bundesrepublik wurden die Institutionen der DDR abgewickelt; zahlreiche Wissenschaftler*innen wurden entlassen, die akademischen Einrichtungen umstrukturiert und im Fall des Herzstücks der DDR-Nahostwissenschaft, dem Leipziger Orientinstitut, eine gegenwartsbezogene Forschungseinrichtung in ein - wenn auch heute sehr renommiertes - völlig auf die Philologie gestutztes Seminar umgewandelt. Aus der 1991 aufgelösten Ostberliner Akademie der Wissenschaften jedoch ging das Zentrum Moderner Orient hervor, in dem ehemalige DDR-Islamwissenschaftler*innen unterkamen.

Wie auch in anderen Gesellschaftswissenschaften sind in Teilen der Islamwissenschaften seit einigen Jahren Ideen der postcolonial studies auf dem Vormarsch. Diese Entwicklung geht zurück auf die Schrift Orientalism (1978) des palästinensisch-US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Edward Said. Insbesondere den angelsächsischen und französischen Orientalist*innen hatte dieser vorgeworfen, ein essentialistisches und rassistisches Bild von einem imaginierten „Orient“ zu konstruieren, das letztlich dem Zweck diene, diesen „zu beherrschen, zu gestalten und zu unterdrücken.“[4]

Während seine Kritik zunächst auf heftige Abwehr stieß, bedauern heute manche Islamwissenschaftler*innen, dass Said die deutsche Forschung und Publizistik ausgespart habe. Heute setzen sich viele von ihnen kritisch mit eurozentrischen Weltbildern und der Kolonialgeschichte auseinander, ohne zwangsläufig postkolonialen Theorien anzuhängen.

 

Ausblick: Weder Elfenbeinturm noch Kolonialbeamte 2.0 ?

Das problematische historische Erbe der Islamwissenschaften ist offensichtlich. Grundsätzlich stellt sich auch heute die Frage, wieso es eine Wissenschaft gibt, die sich dem Namen nach einer Religion widmet, in der Realität aber meist an philologische Fakultäten angegliedert ist und sich zugleich meist schwerpunktmäßig mit gesellschaftswissenschaftlichen Themen äußerst unterschiedlicher Länder befasst. Dadurch verschwimmen nicht selten die Grenzen: Historiker*innen oder Sozialwissenschaftler*innen ohne Arabischkenntnisse gelten als Islam-„Expert*innen“ und Arabist*innen schreiben Bücher mit geschichtswissenschaftlichem Anspruch.

Auf der anderen Seite ist zwar zu beobachten, dass sich die Islamwissenschaft zunehmend interdiszipliniert und die Fachdebatten heute (selbst)kritischer und weltoffener sind. Umso schlimmer ist es jedoch, dass sich diese in keiner Weise im gesamtgesellschaftlichen Islamdiskurs wiederfinden. In den Talkshows sitzen immer dieselben „Expert*innen“ und Medien besprechen die immer gleichen Schmähschriften zum Thema „der Islam“. Das hat auch damit zu tun, dass sich immer noch viele Islamwissenschaftler*innen zu fein sind, der breiten Masse verständlich sachliches Basiswissen zu vermitteln, sich aktiv in öffentliche Debatten einzumischen, den Halb- und Unwahrheiten zu widersprechen und den Hetzer*innen die Stirn zu bieten. Wissenschaft war  immer Teil der Gesellschaft, von den jeweiligen Umständen geprägt und hat zugleich Einfluss genommen.

Das ist sie in Zeiten von „Anti-Terror-Kriegen“ und „Islamisierungs“-Ängsten nicht minder. Es sind immer auch politische Entscheidungen, die man treffen muss: Ob man im interkulturellen Dialog oder beim Geheimdienst arbeitet;  nur einen weiteren Aufsatz für eine Fachzeitschrift verfasst oder in sich eine Fernsehsendung setzt und über unsinnige Beschneidungsdebatten, Kopftuchverbote und Rohstoffkriege streitet. Die deutsche Islamwissenschaft gibt in ihrer gesellschaftlichen und politischen Rolle historisch ein ähnlich unschönes Bild ab wie die englische oder französische. Es ist an der Zeit, diese Geschichte mit etwas Ruhm zu bekleckern.

Dieser Artikel erschien zunächst in der Zeitschrift Jusur. Er wurde für dis:orient redaktionell bearbeitet und stark gekürzt. In der ungekürzten Version finden sich auch ausführliche Belege und Verweise.

 

[1] Neben der Abkürzung MENA für „Middle East / North Africa“ wird mittlerweile auch der weniger eurozentrische Begriff WANA, für „West Asia / North Africa“, benutzt.

[2] Ludmila Hanisch, Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Wiesbaden, Harrassowitz 2003), S. 36.

[3] Gerhard Selter u.a.: Die Sektion Afrika- und Nahostwissenschaften der Karl-Marx-Universität Leipzig im 25. Jahr der Deutschen Demokratischen Republik, in: Afrika, Asien, Lateinamerika 2 (1974) 5, S. 755.

[4] Edward W. Said: Orientalismus (Frankfurt am Main, S. Fischer 2009), S. 11.

Leon studiert Geschichte und Orientalistik/Islamwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum mit den Schwerpunkten Politik und Neuere und Neueste Geschichte. Bislang besuchte er Ägypten, die Türkei, Iran, Israel, Palästina und Oman.
Redigiert von Christopher Resch