Präsident Erdogan hat in der Türkei Neuwahlen für den 24. Juni 2018 angekündigt. Kritiker befürchten, dass sie das Schicksal der parlamentarischen Demokratie besiegeln. Svenja Huck analysiert Beweggründe für die eilige Entscheidung.
Dies ist der erste Teil einer zweiteiligen Serie zu den angesetzten Neuwahlen in der Türkei.
Die bisher letzten Parlamentswahlen in der Türkei fanden 2015 statt, damals gleich zweimal. Die Juni-Wahlen waren geprägt vom erstmaligen Einzug der prokurdischen HDP (Halkların Demokratik Partisi „Demokratische Partei der Völker“) ins Parlament mit 13,12 Prozent. Dadurch wäre es für die AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“) theoretisch zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Regierungszeit 2002 nötig gewesen, eine Koalitionsregierung zu bilden.
Neben der Tatsache, dass keine der anderen Parteien, MHP (Milliyetçi Hareket Partisi „Partei der Nationalistischen Bewegung“), und CHP (Cumhuriyet Halk Partisi „Republikanische Volkspartei“), dazu bereit gewesen wären, drückte dies eine Schwächung der AKP aus. Über den Sommer und Herbst verschärften sich die Angriffe auf die HDP. Auf deren Wahlkundgebung in Diyarbakir platzierte der IS-Anhänger Orhan Gönder eine Bombe, die vier Menschen in den Tod riss und mehrere hunderte verletzte. Außerdem griffen Anhänger der rechtsextremen MHP ihre Parteibüros an.
Nach der Wahl beendete die Regierung dann den sogenannten Friedensprozess, der die Verhandlungen mit der PKK und die Integration der kurdischen Bewegung in das politische System der Türkei anstrebte. Die AKP wollte ihre Niederlage keineswegs akzeptieren. Die türkische Armee führte vor allem im Osten und Süd-Osten des Landes massive Angriffe durch, viele hunderte Menschen verloren ihr Leben bei den Militäroperationen und historische Städte wie Diyarbakir, Cizre und Nusaybin wurden dem Erdboden gleich gemacht. Auch der Westen des Landes blieb davon nicht verschont.
Spätestens, als bei dem doppelten Selbstmordanschlag am 10.Oktober 2015 in Ankara auf einer Friedensdemonstration über 100 Menschen ihr Leben verloren, wurde die Krise der politischen Lage deutlich. Zwar konnte sich die AKP bei den Neuwahlen im November desselben Jahres wieder als alleinige Regierungspartei durchsetzen, doch die Wut der kurdischen Bewegung und die starke Polarisierung der Gesellschaft ist bis heute in der Türkei spürbar.
Die kurdische Opposition
Auf Grund vieler Widersprüche in der Gesellschaft der Türkei ist die politische Situation generell stark angespannt, doch der Friedensprozess bot für viele einen Grund zur Hoffnung. Dass die Regierung sich entschied, dem ein Ende zu setzen, hatte sowohl innen- als auch außenpolitische Gründe.
Innenpolitisch will die AKP sich ihre alleinige Herrschaft sichern und setzt dabei neben der Unterstützung durch die neu aufstrebende Unternehmerschicht und die stark religiösen Teile der Bevölkerung auch auf diejenigen, die von der Überlegenheit des Türkentums und der Idee der Assimilation der Minderheiten überzeugt sind. Diese Vorstellung vertritt die rechtsextreme MHP, die der AKP den Friedensprozess als einen politischen Fehler vorwarf.
Außenpolitisch sieht die AKP in der de facto autonom verwalteten, kurdischen Region Rojava in Nord-Syrien eine Gefahr. Würde diese sich mit den kurdischen Gebieten in der Türkei vereinen, stünde die territoriale Integrität der Türkei auf dem Spiel. Die dort regierende PYD (Partiya Yekitîya Demokrat „Partei der Demokratischen Union“) teilt in der Tat ein ähnliches politisches Programm wie die HDP und ihre Solidarität zueinander ist eindeutig.
Der im Januar 2018 begonnene Angriffskrieg der Türkei auf die kurdische Stadt Afrin in Nord-West-Syrien, bei dem deutsche Panzer eingesetzt wurden, ist juristisch gesehen völkerrechtswidrig. Dies findet nicht nur der Jurist Professor Marcel Kau von der Universität Konstanz, sondern auch die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles und sie forderte die Bundesregierung zu Maßnahmen auf. Die Große Koalition ließ sich jedoch bisher zu keiner Stellungnahme bewegen. Doch darüber hinaus ist auch hier der politische Kampf gegen die kurdische Bewegung, ihr Kampf um demokratische Rechte im Nahen Osten und der Wunsch der türkischen Regierung nach stärkerem Einfluss in Syrien zu erkennen.
Vom Putsch zum Ausnahmezustand
Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016, für den die Regierung die Gülen-Bewegung verantwortlich macht, verschärfte sich der Druck auf die Opposition noch einmal. Aber auch innerhalb der AKP und des Staatsapparates wurde umfassend umstrukturiert. Seitdem wurden beispielsweise 151.000 Beamte entlassen, 319 Journalisten inhaftiert und rund 6.000 Akademiker verloren ihren Job. Der Vorwurf lautet in den meisten Fällen Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer „Terrororganisation“ wie der Gülen-Bewegung oder der PKK. Die PKK ist bereits seit den 80ern ein Dorn im Auge der Regierung, doch die Bewegung um Fethullah Gülen, der einst ein enger Verbündeter Erdogans war, geriet erst vor kurzem ins Visier.
Dass diese Vorwürfe meist haltlos sind, zeigen die Gerichtsprozesse, in denen ohne konkrete Beweise absurde Haftstrafen verhängt werden. Wie angespannt die Lage nach wie vor ist, beweist auch die nun siebte Verlängerung des Ausnahmezustandes, welcher dem Präsidenten Erdogan umfassende Befugnisse außerhalb demokratischer Entscheidungen gibt.
Das Präsidialsystem
Um diesen Ausnahmezustand in einen Dauerzustand verwandeln zu können, ließ die Regierung im April 2017 über die Einführung des Präsidialsystems abstimmen. Dies beinhaltet folgende elementare Änderungen des politischen Systems der Türkei:
- Der Ministerrat und damit auch das Amt des Ministerpräsidenten, welches derzeit von Binali Yildirim besetzt ist, werden abgeschafft. Dessen bisherige Befugnisse gehen direkt auf den Präsidenten über.
- Der Präsident kann alle Minister nach seiner freien Entscheidung ohne jegliche Beteiligung des Parlaments ernennen oder entlassen.
- Ebenso kann der Präsident das Parlament nach Belieben auflösen.
- Der Präsident kann Dekrete erlassen, die von Gesetzeskraft sind und nicht einmal nachträglich vom Parlament bestätigt werden müssen, wie es aktuell im Ausnahmezustand noch der Fall ist.
- Der Präsident und das Parlament bestimmen über die Mitglieder des Hohen Richter- und Staatsanwälterats, der wiederum die Richter für die Gerichte in den einzelnen Provinzen bestimmt. Bei einer geplanten Mehrheit der AKP-MHP Koalition im Parlament wird damit die Unabhängigkeit der Justiz weiter untergraben.
Die Opposition wirft der AKP vor, bei dem Referendum massiven Wahlbetrug begangen zu haben, wodurch das knappe Ergebnis von 51 Prozent „Ja“ zu 49 Prozent „Nein“ erzwungen wurde, obwohl eigentlich eine Mehrheit gegen die Verfassungsänderung gestimmt hatte. Bis heute gibt es keine unabhängige Untersuchung dieser Vorwürfe und mit den nächsten Wahlen soll das Präsidialsystem in Kraft treten.
Wirtschaftliche Krise am Horizont
Die Einschüchterung der Zivilbevölkerung durch massiven Druck von Seiten der Regierung, aber auch die gefährdete Sicherheitslage blieben nicht ohne Folgen. Zunächst machte die Tourismusbranche, die eine der zentralen Einnahmequellen der Türkei ist, hohe Verluste. Dies weitete sich nun in den vergangenen Monaten in eine Schuldenkrise aus, die für die türkische Wirtschaft bedrohlich geworden ist.
Die Gesamtschulden türkischer Unternehmer betragen mittlerweile 70 Prozent der Wirtschaftsleistung, und diese Schulden wurden meist in ausländischen Währungen aufgenommen. Mit dem Wertverlust der Lira im Vergleich zu Dollar und Euro, sowie dem Rückgang von Investitionen in die Türkei, wird deutlich, dass die Wirtschaftspolitik der AKP gescheitert ist.
Die Türkei ist theoretisch auf langfristige ausländische Investitionen angewiesen, die jedoch durch die angespannte politische Lage ausbleiben. Während die Inflation momentan bei 10 Prozent liegt, ist auch die Jugendarbeitslosigkeit auf 20 Prozent angestiegen und der Reallohnverlust ist in der Bevölkerung zunehmend spürbar. Viele sehen in der wirtschaftlichen Lage eines der größten Risiken für die AKP-Regierung, während diese ihr Finanzproblem als Intrige ausländischer Mächte diffamiert und die Bevölkerung zu Zusammenhalt und dem Umtausch ihrer letzten Dollar aufruft.
Die internationale Rolle der Türkei
Neben diesem Schuldenproblem brachte auch der Angriff der türkischen Armee auf Afrin die Regierung in internationale Bedrängnis. Die Türkei ist nach wie vor einer der wichtigsten Nato-Mitgliedsstaaten, testet jedoch immer wieder aus, was für ein Bündnis mit Russland möglich wäre. Während Erdogan sich davon erhofft, Druck auf beide Seiten, die EU und Russland, aufzubauen und sich selbst daraus Vorteile verschaffen zu können, versuchen die Großmächte, solche Provokationen zu unterbinden. Dies wurde deutlich, nachdem die Türkei den USA offen damit drohte, sie in Syrien militärisch zu konfrontieren. Der Besuch des Nato-Sekretärs Jens Stoltenberg reichte aus, um Erdogan zu beschwichtigen.
Auch Russland duldet den türkischen Einmarsch in Syrien nur bedingt. Um zumindest einen Vorteil für sich daraus ziehen zu können, wurde während des Afrin-Krieges die Stadt Idlib massiv vom syrischen Regime unter Beschuss genommen. Diese wurde bisher von Teilen der syrischen Opposition kontrolliert, bei denen man Unterstützung aus der Türkei vermutete.
Während diese nun von ihrem vermeintlichen Bündnispartner im Stich gelassen wurden und das Assad-Regime die Stadt wieder unter seine Kontrolle brachte, akzeptierte Russland die Installation einer de facto türkischen Verwaltung in Afrin. Diese Annäherung der Türkei an Russland bedeutet momentan zwar keine ernsthaften Bestrebungen der Türkei, das Nato-Bündnis zu verlassen, jedoch gerät die AKP zunehmend unter Druck, ihre Zugehörigkeit zum „westlichen Block“ zu beweisen.
Am liebsten möchte Erdogan jedoch zeigen, dass er die Türkei in einem erneuten Unabhängigkeitskampf vollkommen aus jeglicher internationaler Abhängigkeit befreien will. Die alleinige Entscheidung, in Afrin einzumarschieren, war ein erstes Kräftemessen in diesem Sinne und die Einführung des Präsidialsystems soll die innenpolitische Lage stabilisieren.
Deswegen können Neuwahlen für die AKP nicht schnell genug kommen. Erdogan äußerte dazu: „Obwohl es scheint, dass wir dank der harmonischen Arbeit von Präsident und Regierung keine ernsthaften Probleme haben, ist die Unzulänglichkeit des alten Systems bei jedem Schritt sichtbar.“ Daher sei es für die Türkei notwendig, „so schnell wie möglich die Ungewissheiten“ zu überwinden.
Per Abstimmung zur Diktatur?
Indem die Macht auf Erdogan in seiner Rolle als starker Präsident konzentriert wird, erhofft er sich, ohne lästige Debatten mit der Opposition die Türkei mit einer harten Hand regieren zu können. Kritiker sehen darin den Übergang zu einer Diktatur und die Abschaffung der letzten Reste einer parlamentarischen Demokratie. Der Jurist Christian Rumpf, Experte für türkisches Verfassungsrecht, kommentierte bereits das Verfassungsreferendum folgendermaßen: „Das wird keine Änderung, sondern die Abschaffung des klassischen Systems einer parlamentarischen Demokratie, der Systemwechsel hin zu einer Diktatur.“
Die Geschichte der Türkei zeigt, dass die parlamentarische Demokratie allein kein Heilmittel ist, da auch die AKP einst durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen war. Erdogan und die AKP wussten, wie sie die undemokratischen Elemente der Verfassung nutzen mussten, um das System für ihre Zwecke zu nutzen. Dies geschah gleichzeitig mit einer rechts-populistischen Mobilmachung großer Teile der Bevölkerung.
Sowohl die Reaktionen der AKP auf ihren Verlust bei den Wahlen im Juni 2015, als auch die massiven Repressionen gegen die Opposition und die Presse der letzten drei Jahre zeigen, dass wohl kaum mit fairen Wahlen zu rechnen ist. Vieles deutet auch hier wieder auf Wahlbetrug hin, beispielsweise, dass 500 Millionen Wahlzettel gedruckt wurden, obwohl es nur 55 Millionen Wahlberechtigte gibt. Außerdem wurde die 10-Prozent-Hürde aufgeweicht, um alleine der MHP, der Koalitionspartnerin der AKP, den Einzug ins Parlament zu erleichtern.
Es ist nun möglich, dass einzelne Parteien Bündnisse schließen, und der Wähler seine Stimme automatisch an die Koalition abgibt. So kann eine Partei, die die 10 Prozent nicht erreicht, durch Stimmen von ihrem Koalitionspartner unterstützt werden und zieht so trotz unzureichender Stimmenanzahl ins Parlament ein.
Praktisch sieht es jedoch so aus, dass keine der Oppositionsparteien ein Bündnis mit der HDP eingehen wird, was ihren Einzug ins Parlament erschwert, falls sie die Hürde nicht noch einmal erreichen kann. In den Umfragen schwankt die HDP stets zwischen acht und elf Prozent. Die Opposition betonte immer wieder, dass die 10-Prozent-Hürde, übrigens eine der höchsten weltweit, auf europäische Standards gesenkt werden müsse, um demokratischere Wahlen zu ermöglichen. Doch mit ihrem Manöver macht die AKP erneut deutlich, dass es ihr nicht um demokratische Wahlen, sondern allein um den Einzug ihres Bündnispartners MHP und die Manifestierung ihrer eigenen Macht geht.
Zum aktuellen Zeitpunkt steht die kurdische Opposition unter massivem Beschuss. Viele tausend Oppositionelle sitzen im Gefängnis, große Teile der Bevölkerung sind im nationalistischen Begeisterungstaumel über den Krieg der türkischen Armee in Syrien, und eine wirtschaftliche Krise rollt auf die Türkei zu. Um diesen Gefahren mit einer harten Hand begegnen zu können, setzt die AKP große Hoffnungen auf die vorgezogenen Neuwahlen. Die überraschende Entscheidung, diese innerhalb von zwei Monaten abzuhalten, drückt die Siegesgewissheit Erdogans aus. Doch noch sind die Wahlen nicht gewonnen und noch ist nicht bewiesen, dass die Mehrheit der türkeistämmigen Bevölkerung unter dem Druck der Regierung deren Herrschaftsträume erfüllen wird.
Mit welchen Strategien die Opposition versucht, die Wahlen für sich zu gewinnen, wer noch zur Opposition gezählt werden kann und welche Konsequenzen der mögliche Wahlausgang für die Türkei haben könnte, sind Fragen, die im zweiten Teil dieser Artikelserie beantwortet werden.