Im vergangenen Jahr erschien das Buch »Lieblingsfeind Islam. Historische, politische und sozialpsychologische Aspekte des antimuslimischen Rassismus« von Petra Wild. Leon Wystrychowski hat die Autorin für dis:orient interviewt.
Anm. der Redaktion: Uns erreichten viele kritische Reaktionen und auch innerhalb des Teams wird viel über diesen Text diskutiert. Das Interview spiegelt nicht die Haltung der Redaktion wider. Analysen und Denkanstöße zu antimuslimischem Rassismus sind angesichts täglicher Hassgewalt an Muslim*innen unerlässlich. Wir freuen uns, wenn wir zu (kontroversen) Diskussionen anregen können und sind offen für kritische Gegenstandpunkte in Form von Beiträgen, Rezensionen, Interviews.
Leon Wystrychowski: Zu Beginn Ihres Buches heißt es, es sei Ihnen als Islamwissenschaftlerin nicht leicht gefallen zum Thema »antimuslimischer Rassismus« zu schreiben. Das derzeit vorherrschende Islambild sei derart absurd falsch, dass man gar nicht wisse, wo man anfangen soll. Wieso haben sie es dennoch getan und was unterscheidet Ihr Buch von dem anderer Autor*innen der letzten Jahre?
Petra Wild: Seit ich 2008 meine Magisterarbeit zum Thema antimuslimischer und antiarabischer Rassismus bei den Antideutschen[1]schrieb, habe ich das Thema immer so nebenbei weiter verfolgt. Als ich 2017 auf einer Konferenz in Wien über antimuslimischen Rassismus sprechen sollte, war es an der Zeit, meinen Kenntnisstand zu aktualisieren. Da wurde mir nicht nur bewusst, wie sehr sich die Funktion dieses Rassismus im Vergleich zu den 2000er Jahren verändert hatte, sondern auch, wie stark dieser geworden war. Meine Studien ergaben, dass antimuslimischer Rassismus in der westlichen Welt heute die stärkste rassistische Massenmobilisierung seit dem Faschismus ist. Angesichts dessen erschienen mir viele der Bücher zu diesem Thema als nicht weitgehend und radikal genug in der Analyse. Als besondere Qualität meines Buches betrachte ich zum einen, dass es das Thema in seiner Gesamtheit zu erfassen versucht – historisch, politisch und sozialpsychologisch – und zum anderen, dass es sich auf die Ansätze der Kritischen Theorie[2]stützt.
Es sind verschiedene Begriffe im Umlauf: Islamfeindlichkeit, Islamophobie ... Sie sprechen von antimuslimischem Rassismus. Weshalb?
Rassismus-ForscherInnen[3] sind sich weitgehend einig darin, dass von Rassismus gesprochen werden muss, wenn folgende vier Kriterien gegeben sind: 1. dass bei einer Gruppe von Menschen ein bestimmter Unterschied, der biologischer oder kultureller Natur sein kann, hervorgehoben wird; 2. dass dieser Unterschied negativ bewertet wird; 3. dass dies aus einem Machtverhältnis heraus geschieht und 4. dass Individuen durch kollektive Zuschreibungen definiert werden. Der Rassismus-Forscher Albert Memmi hat Rassismus prägnant wie folgt definiert: »Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden des Opfers, mit der dessen Privilegien oder Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.« Das Phänomen, mit dem wir es hier zu tun haben, anders als Rassismus zu nennen, wäre nicht nur eine Verharmlosung, sondern auch eine Verkennung seines Wesens.
In meinem Buch wird der antimuslimische Rassismus als konkrete Erscheinungsform des allgemeinen Phänomens Rassismus untersucht. Eine Besonderheit an ihm ist sicherlich, dass er neben dem Judentum das älteste und wirkungsmächtigste Feindbild Europas ist, das eine wesentliche Rolle für die Konstruktion der europäischen Identität gespielt hat und offensichtlich weiter spielt. Er vereint Elemente des kolonialen Rassismus und des Antisemitismus in sich.
Die politischen und gesellschaftlichen Funktionen des antimuslimischen Rassismus sind vielfältig. In den 1990er und 2000er Jahren diente er vor allem als ideologische Begleitmusik zur westlichen Kriegspolitik in der arabischen und weiteren muslimischen Welt. In den letzten Jahren sind jedoch seine innenpolitischen Funktionen stärker in den Vordergrund getreten. Die Herrschenden benutzen ihn zum einen, um die autoritäre Formierung des Staates zu legitimieren, und andererseits, um angesichts der immer weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich die wachsende soziale und politische Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung auf einen Sündenbock abzulenken. Die Rechtsradikalen nutzen ihn als Vehikel für ihren Aufstieg, die Antideutschen für die Beförderung ihrer pro-israelischen Agenda.
Muslimische Frauen sind besonders häufig Opfer von Islamfeindlichkeit, sowohl in Form von Gewalt als auch von Diskriminierungen wie Berufsverboten aufgrund von Verschleierung. Sehen Sie darin eine Besonderheit des antimuslimischen Rassismus?
Frauen sind natürlich immer in doppelter Weise von Unterdrückungsstrukturen betroffen, da stets die Dimension der patriarchalen Machtverhältnisse verschärfend hinzukommt. Dennoch würde ich sagen, dass die Hervorhebung von Frauen im antimuslimischen Rassismus hervorsticht. Frauen mit Kopftuch sind für Islamfeinde von rechts oder links zum Symbol der verhassten Religion geworden.
Halten Sie es für möglich, dass rassistische Gewalt gegen Kopftuch tragende Musliminnen nicht nur sexistisch, sondern auch sexualisiert ist? Man denke an Frantz Fanon, der schrieb, das Zerreißen des Schleiers sei symbolischer Auftakt zur Vergewaltigung.
Das würde ich nicht ausschließen, aber ich denke, der Hauptaspekt ist, dass antimuslimische Positionen eine perfekte Trennung für Frauenhass sein können. Dieser ist – zumindest oberflächlich – gesellschaftlich weitgehend geächtet, nur muslimische Frauen werden davon ausgeklammert. Als 2009 die Ägypterin Marwa al-Sherbini am helllichten Tag während einer Gerichtsverhandlung in Dresden von einem Neonazi durch zahlreiche Messerstiche getötet wurde, gab es von allen Seiten nichts als Schweigen. Die Linke, die unablässig gegen Sexismus und Antisemitismus – oder das, was sie dafür hält – mobilisiert, nahm dieses gegen eine Muslimin gerichtete Verbrechen nicht einmal wahr. Das war ein deutliches Signal an Rassisten und Frauenhasser, dass niemand eine Muslimin mit Kopftuch verteidigen oder unterstützen würde.
Ihre ersten beiden Veröffentlichungen behandelten den sogenannten Nahost-Konflikt, den Sie auch in Ihrem neuen Buch aufgreifen. Wo liegen die Schnittmengen zwischen antimuslimischem Rassismus und der Palästina-Frage?
In der Palästina-Frage bündeln sich die ungelösten Probleme der europäischen Geschichte, nämlich die unaufgearbeitete komplexe und komplizierte Geschichte von »Orient« und »Okzident«, der unaufgearbeitete Kolonialismus und der unaufgearbeitete Antisemitismus. Dasselbe gilt auch für den antimuslimischen Rassismus. Eine Folge des unaufgearbeiteten Kolonialismus ist, dass der Zivilisationsrassismus ungebrochen fortbesteht. Er bildet geradezu das Fundament der westlichen Zivilisation.
Die besondere Verbindung von antimuslimischem Rassismus und Palästina-Frage zeigt sich auch darin, dass die glühendsten Unterstützer Israels in der Regel auch antimuslimische Rassisten sind. Das beste Beispiel dafür sind die Antideutschen, aber auch europäische Rechtsradikale wie etwa die English Defense League und Geert Wilders in den Niederlanden.
Sie schreiben, Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus seien historisch und ihrem Wesen nach verwandt. Zurzeit lesen und hören wir aber vor allem von »muslimischem« oder gar »islamischem Antisemitismus«. Was halten Sie von dieser Debatte?
Die Debatte über »muslimischen« oder »islamischen Antisemitismus« ist ein Konstrukt. In ihr mischen sich ideologische Verblendung, Israelverklärung, Unkenntnis der arabischen und weiteren muslimischen Welt und Propaganda. Die Debatte begann schon bald nach dem Eintreffen vieler Flüchtlinge vor allem aus den kriegsgeplagten Ländern Syrien und Irak 2015. Tatsächlich lehnen die AraberInnen Israel nach wie vor ab. Umfragen zeigen, dass etwa 90% der Bevölkerung in den arabischen Ländern gegen die Anerkennung des Staates Israel sind. Diese Position zeigte sich auch während der arabischen Aufstände. Kaum hatten die ÄgypterInnen Mubarak gestürzt, stürmten sie die israelische Botschaft in Kairo und sorgten für deren Schließung. Bei den gegenwärtigen Demonstrationen in Algerien werden kontinuierlich Palästina-Fahnen mitgeführt. Wenn die arabischen Länder demokratisch regiert würden, wäre die Solidarität mit den PalästinenserInnen und der Kampf gegen den Zionismus wahrscheinlich in den meisten Ländern staatliche Politik.
Aber das hat mit »Judenfeindlichkeit« nicht das Geringste zu tun; es als solche zu bezeichnen ist entweder Propaganda oder gründet in ideologischer Verblendung. In Wahrheit handelt es sich hier um Antizionismus, der das Gegenteil von Antisemitismus ist. Antisemitismus ist eine Form des Rassismus, der sich pauschal gegen die Religionsgemeinschaft der Juden richtet. Antizionismus ist eine politische Position, die sich gegen den zionistischen Siedlerkolonialismus in Palästina richtet, der auf die Enteignung, Entrechtung und Vertreibung der einheimischen palästinensischen Bevölkerung zielt. In der arabischen Welt wird der Zionismus seit Beginn der Siedlerkolonisierung Palästinas Ende des 19. Jahrhunderts als Teil des europäischen Kolonialismus angesehen. Die ägyptische Kommunistische Partei verfasste bereits in den 1920er-Jahren eine Schrift zu diesem Thema. Da Siedlerkolonialismus immer mit Rassismus einhergeht, ist der Antizionismus eine dezidiert antirassistische Position.
Israel denunziert diesen Widerstand der Araber seit seiner Gründung als antisemitisch. Die Diffamierung des Antizionismus als Antisemitismus hat die Funktion, die Kriegsverbrechen Israels unsichtbar zu machen. Erst kürzlich erklärte der Menschenrechtsrat der UNO, dass die gezielten Tötungen von Sanitätern, Journalisten, Kindern und Menschen mit Behinderungen während des Rückkehr-Marsches im Gaza-Streifen Kriegsverbrechen gleichkommen. Auch die Ansiedlung von jüdischen Israelis in den 1967 besetzen Gebieten ist nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen. Statt die Kriegsverbrechen Israels zu thematisieren und zu sanktionieren, werden hierzulande diejenigen, die das tun, als »Antisemiten« denunziert. Jeder, das das tut, leistet faktisch Beihilfe zu Kriegsverbrechen.
Möglich ist das nur, weil der Begriff des Antisemitismus in Deutschland oftmals für ideologische oder propagandistische Zwecke eingesetzt wird. Nicht einmal der wissenschaftliche Gebrauch des Begriffs ist seriös, sondern von einer ideologischen Agenda bestimmt. Wie die kritische Theorie aufgezeigt hat, gründet das, was als wissenschaftliche Erkenntnis anerkannt und gefördert wird, stärker in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen als in der Sache selber.
Als Strategie gegen Islamfeindlichkeit wird oft beschworen, Muslim*innen müssten in ihrem Umfeld zeigen, dass sie eigentlich »ganz normale Menschen« seien, um Vorurteile aufzubrechen. Was ist von solchen Antworten zu halten?
Die historische Erfahrung zeigt, dass Aufklärung zur Bekämpfung des Rassismus nicht taugt. Das Problem ist ja nicht so sehr, dass Rassisten uninformiert und verhetzt sind, sondern dass sie das auch genau so wollen. Rassisten sind äußerst aufklärungsresistent. Sie wollen all die Schauermärchen glauben, die in Umlauf gebracht werden, weil das ihrer sozialpsychologischen Disposition entspricht. Das gesellschaftliche Klima ist in den letzten Jahren durch Politik und Kulturindustrie beständig nach rechts verschoben worden. Der antimuslimische Rassismus wird seit Jahrzehnten von oben befördert und durchdringt mittlerweile den Staatsapparat und die Gesellschaft. Die Menschen werden in ihrer Wahrnehmung sehr stark von den Medien gesteuert und die Medien verbreiten nach wie vor – subtil oder offen – Hetze gegen MuslimInnen auf allen Kanälen. Der antimuslimische Rassismus gehört untrennbar zur Rechtsentwicklung in der gesamten westlichen Welt.
Ein wesentlicher Faktor, warum der Rechtsradikalismus immer stärker wird, ist, dass es keine radikale linke Politik mehr gibt – radikal im Sinne von »Radikal sein ist, die Sache an der Wurzel fassen.« Das hieße, wieder antikapitalistische und antiimperialistische Politik zu machen, den geschwundenen utopischen Horizont zurückzugewinnen, wieder über das Bestehende hinaus zu denken, auf die Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse zu zielen, in denen der Mensch »ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist,« mit einem Wort: eine revolutionäre Alternative anzubieten.
MuslimInnen für die Bekämpfung des gegen sie gerichteten Rassismus verantwortlich zu machen, ist in der Tendenz rassistisch, da es impliziert, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimme. Das gilt auch für die nach jedem Anschlag in der westlichen Welt formulierte Aufforderung an MuslimInnen, sich von der Gewalt zu distanzieren, denn das vermittelt ja, dass der Islam das Problem sei und nicht der saudische Wahhabismus und die westliche Kriegspolitik.
Petra Wild stammt aus Hessen und studierte Arabistik und Islamwissenschaften in Berlin, Damaskus, Jerusalem und Leipzig. Sie ist als freie Publizistin tätig und veröffentlichte zuletzt die Monographien »Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina«(2013) und »Die Krise des Zionismus und die Ein-Staat-Lösung«(2015).
[1]Aus der radikalen Linken hervorgegangene politische Strömung, die sich in erster Linie über ihre Gegnerschaft zu einem spezifisch deutschen Nationalismus definiert, was für sie mit einer bedingungsloser Solidarität mit dem Staat Israel und einer pro-amerikanischen Haltung einhergeht.
[2]Auch als »Frankfurter Schule« bekannte interdisziplinäre Wissenschaftsströmung. Prominenteste Köpfe waren Theodor W. Adorno und Max Horkheimer.
[3]Anm. der Redaktion: Frau Wild besteht darauf, dass in ihren Aussagen kein Gendersternchen verwendet wird. Dies widerspricht der Haltung der Redaktion, da wir das binäre Geschlechtsmodell entschieden ablehnen.