Die zweijährige Talibanherrschaft wird normalisiert, der Medienfokus auf den Jahrestag der Machtübernahme der Taliban gelegt. Das entwürdigt die afghanische Bevölkerung und nimmt den Westen aus der Verantwortung, so Mina Jawad.
In unserem digitalen Zeitalter erwecken Schallplatten eine gewisse Nostalgie. Und doch gibt es eine besondere Frustration, die allen Plattenliebhaber:innen vertraut ist: dieser eine Kratzer, ein wiederkehrendes, störendes Rauschen, das den Fluss unterbricht – oder den Schaden ankündigt. Denn wer die Platte besonders gut kennt, weiß, dass die wiederkehrende Stelle mitunter ein Marker für einen bestimmten Punkt ist. Für Afghanistan ist der 15. August 2021 einer dieser Marker – eine schmerzhafte, zyklische Erinnerung an die Entwürdigung seiner Bevölkerung.
Es scheint nach nunmehr zwei Jahren fast ein Ritual geworden zu sein, ja sogar erwartbar, die ideologischen, legislativen und exekutiven Übertretungen der Taliban durch die Medien an diesem Tag aufzuzählen. Auch wenn es angesichts der begrenzten Möglichkeiten für Beobachter:innen, sich überhaupt zu Afghanistan zu äußern, notwendig erscheint, ist dieser Ansatz von unverhohlenem Zynismus geprägt. Unsere Aufmerksamkeit wird auf diesen Punkt auf der Schallplatte gerichtet, die zu einer Markierung in unseren Kalendern geworden ist. Übersehen wird dadurch, dass die gesamte Platte beschädigt ist.
Schließlich gibt es 365 Tage im Jahr der Taliban. Und ja, es war zu erwarten, dass Afghanistan in den westlichen Medien kaum noch Aufmerksamkeit erhalten wird. Der Krieg in der Ukraine zementiert diesen Umstand gleich doppelt: Die Konkurrenz darum, es wert zu sein, in den Nachrichten zu erscheinen auf der einen Seite, sowie die Abwertung der ebenfalls von Kriegen betroffenen Menschen aus dem Jemen, Syrien, Irak und Afghanistan auf der anderen Seite. Die Begriffe „Zeitenwende“ und „Paradigmenwechsel“, die im Kontext der Ukraine von Kanzler Scholz geprägt wurden, unterstreichen, dass Krieg und Elend außerhalb des Globalen Nordens und Europas offenbar normal sind. Denn derartige „Paradigmenwechsel“ kennt der globale Süden allzu gut. Verdient deshalb der 15. August die Zuschreibung als sogenannter Wendepunkt für Afghanistan?
Weitgefehlt, da sie der Logik der Taliban gleicht und die „westliche Wertegemeinschaft“ und die korrupte Republik aus der Verantwortung nimmt. Die Taliban sehen den „Wendepunkt“ als Rückkehr zur alten Ordnung. Der Westen in ihm eine Abkehr von der Demokratie. Dadurch wird die gefallene Republik als Kohorte der Demokratie stilisiert, die sie nie war. Mutwillig wird übersehen, dass dieser Tag keinen Wendepunkt, sondern einen wiederkehrenden Meilenstein im gewaltvollen Kreislauf der Entmündigung der afghanischen Gesellschaft markiert.
Normalisierung der Gewalt
Um sich noch mehr aus der Verantwortung zu ziehen, verweisen jene Zyniker:innen, Apologet:innen der Republik und westliche Politiker:innen, die den 15. August als einen essentiellen Wendepunkt betrachten, auf die sich wiederholenden Regimewechsel innerhalb der vergangenen 50 Jahre, die meist blutig verlaufen sind. Gerne wird Afghanistan als „Graveyard of Empires“ und seine Bevölkerung als kriegerisches Volk, das aus der Kolonialzeit stammt, bezeichnet. Notwendig wäre klarzustellen, dass die Bevölkerung Afghanistans durchgängig und besonders ausdrücklich ihrer Selbstbestimmung beraubt wurde. Afghanistan ist nicht der Friedhof der Imperien, Afghanistan ist der Austragungsort ihrer Schlachten. Den Preis dafür zahlt seit jeher die Bevölkerung.
In der Tat ist die neue Realität seit dem 15. August 2021 die alte Realität – auch wenn einige Bilder aus der Nähe und Ferne immer noch surreal wirken. Diesen Sommer erhielt ich einen Videoanruf von meinem Bruder aus der Provinz Bamiyan. Wir fingen beide an zu lachen, als ich erkennen konnte, was er mir durch die Smartphonekamera zeigen wollte: Die Taliban auf Schwanentretbooten auf den einzigartigen Band-e Amir-Seen. Ähnliche Bilder gingen kurz nach dem 15. August 2021 durch die Weltpresse. 365 Tage Taliban heißt auch, dass einige Talibankämpfer mal in den Urlaub fahren. Nichts daran ist lustig. Er schwenkte das Telefon. Zu sehen: Familien beim Ausflug, darunter auch Frauen. Keine von ihnen hätte den Nationalpark in der Provinz Bamiyan ohne männliche Begleitung besuchen können. In den Städten dürfen sie nicht einmal mit männlicher Begleitung in Parks.
In Afghanistan ist jeder Tag der 15. August. Die Taliban feiern sich, während die Bevölkerung mit den Konsequenzen ihrer Entmündigung konfrontiert ist. Dass die Diaspora den 15. August als schmerzvoll empfindet, hat legitime Gründe. Weil er für viele alte Wunden der ständig wiederkehrenden Entwürdigung und Heimatlosigkeit aufgerissen hat.
Zeitgleich offenbart der 15. August auch Folgendes: Wir gehen am Vortag unserem Alltag nach und einen Tag später genauso. Die Menschen in Afghanistan haben diesen Luxus nicht. In Afghanistan war es nur eine Frage der Zeit, bis diese neue Surrealität zur „neuen Normalität“ wurde. Der Fokus, der auf diesen einen Tag im Jahr gelegt wird, bestärkt dieses Gefühl. Und deshalb ist es auch generationenübergreifend schmerzhaft, weil dieser unnatürliche Zustand der Gewalt in der Heimat aus der Ferne beobachtend – und das Vorenthalten der Selbstbestimmung der Bevölkerung vor Ort – normalisiert wird. Nichts an dieser Platte ist normal, nichts daran ist gerecht.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.