Wenn die Bundesregierung ein Land für sicher erklärt – ist dann dort automatisch Frieden? Die Lage in Afghanistan und die Situation von Afghanen in Deutschland waren Thema einer Alsharq-e.V.-Veranstaltung am vergangenen Samstag. Dabei wurde deutlich: Es gibt viel zu tun – in doppelter Hinsicht.
„Die Frage ist sehr gut“, findet Thomas Ruttig. Er muss es wissen, gilt der Analyst und Autor doch als einer der angesehensten Afghanistan-Experten in Deutschland. Und die Frage, auf die er sich bezog, lautete: „Wie sicher ist Afghanistan und wer bestimmt das eigentlich?“ Es war die Leitfrage zur Veranstaltung „Afghanistan – Exilistan“, zu der Alsharq e.V. in Kooperation mit der Newsgroup Afghanistan am vergangenen Samstag in Berlin einlud.
Die Frage nach der Sicherheit Afghanistans ist hochaktuell, wenn sie auch hierzulande nur darüber diskutiert wird, ob es zumutbar ist, abgelehnte Asylbewerber_innen abzuschieben – die Bundesregierung meint ja bekanntlich, in manchen Regionen Afghanistans sei das zumutbar. Bei der Veranstaltung „Afghanistan – Exilistan“ ging es daher zum einen um die Lage vor Ort, zum anderen aber auch um die Situationen von Afghan_innen in Deutschland. Dazu zeigte die Newsgroup Afghanistan die Ausstellung „Welcome in Exilistan“, das Ergebnis eines journalistischen Projekts Berliner und afghanischer Jugendlicher.
„Der Konflikt eskaliert Jahr für Jahr“
Dem ersten Teil der Frage – wie sicher ist Afghanistan? – widmete sich Ruttig im ersten Vortrag des Tages gleich selbst. „Es herrscht dort sehr viel Alltag“, berichtete er den etwa 100 Teilnehmer_innen. „Man stolpert über Krieg, aber nicht überall.“ Dennoch: In Afghanistan tobe derzeit einer der vier oder fünf schlimmsten bewaffneten Konflikte der Welt. Und: „Der Konflikt eskaliert Jahr für Jahr.“ Aktuelles Beispiel: Laut einer UN-Statistik starben im ersten Halbjahr 2016 etwa 5.000 Menschen bei bewaffneten Kämpfen, allein im Oktober 2016 waren es nach einer Zählung einer afghanischen Nachrichtenagentur schon 3.285. Der nach wie vor größte Faktor für die Gewalt seien die Taliban, die ihr Operationsgebiet ausgeweitet hätten. Der sogenannte „Islamische Staat“ werde in dem Land dagegen hochgeredet.
In drei Bereichen machte Ruttig dabei existenzielle Krisen für Afghanistan aus: neben der Sicherheit auch in den Bereichen politische Institutionen sowie Wirtschaft. Eine „Einheitsregierung ohne Einheit“ sei im Amt, die Wahlen auf unbestimmte Zeit verschoben, und 80 bis 95 Prozent der Wirtschaftsleistung hänge von ausländischen Quellen ab.
Aber, und da kam Ruttig schon auf den zweiten Punkt zu sprechen: „Das Interesse der Bundesregierung an unabhängigen Informationen ist sehr gering.“ Zudem gebe es zwar eine sehr gute Medienberichterstattung, aber die sei schwer zu finden – vieles laufe unter Katastrophenberichterstattung (Hinweis: Ausgewählte Berichte über Afghanistan sammelt und kommentiert Ruttig auf seinem Blog thruttig.wordpress.com, zudem veröffentlicht das von Ruttig mitgegründete Afghanistan Analysts Network regelmäßig Berichte – durchklicken lohnt sich).
„Es gibt schon längst eine Entscheidung für eine Obergrenze"
Die Haltung der Bundesregierung war dann auch das Thema von Nicolas Chevreux. Chevreux ist Mitarbeiter von Amnesty International Deutschland, sprach allerdings als Privatperson. Und er zeichnete mit Zahlen und Politikerstatements ein Bild der Situation afghanischer Geflüchteter in Deutschland, das enorm verstörend ist: Afghanistan ist das zweitgrößte Herkunftsland von Flüchtlingen in Europa – und in Deutschland. Doch Afghanen haben immer weniger Chancen darauf, dass ihr Antrag anerkannt wird. Die allermeisten werden abgelehnt oder erhalten eben noch ein Abschiebeverbot. Denn laut Bundesregierung hat sich die Bedrohungslage für afghanische Zivilisten im Vergleich zum Vorjahr nicht verschlechtert.
„Das ist politisch gewollt“, sagte Chevreux, „denn sinkende Anerkennung bedeutet weniger Maßnahmen. Und Maßnahmen kosten Geld.“ Durch das Abschiebeverbot erlaube man den Menschen, in Deutschland zu bleiben – aber könne diese Entscheidung jederzeit revidieren. Bisher gab es zwar noch wenige Abschiebungen, doch das ändere sich momentan – Hamburg, wo es eine sehr große afghanische Community gebe, hat die sogenannte „Senatoren-Regelung“ aufgehoben. Somit ist, ebenso wie in Berlin, die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge grundsätzlich erlaubt. So komme es, dass viele Afghanen angeblich „freiwillig“ zurückkehren. Chevreux vermutet: „Es gibt schon längst eine Entscheidung der Regierung für eine Obergrenze, aber wenn Syrer nicht abgeschoben werden können, müssen eben andere gehen.“
(Die Präsentation, die Chevreux vorstellte, können Sie hier als PDF herunterladen – alle Rechte liegen bei Nicolas Chevreux)
Wie sich Afghan_innen in Deutschland gegen diese Behandlung wehren, stellten Mitarbeiter zweier Initiativen exemplarisch vor: Omed Arghandiwal vom Verein Yaar e.V. berichtete von „viel Angst und Sorge“ in der Community, von schlechten Dolmetschern und miesen Wohnsituationen afghanischer Geflüchteter, von denen die Menschen krank würden und die Familien zerstörten. Diesen Problemen versucht der Verein mit Sprachvermittlung, Beratung und Integration entgegenzuwirken (Mehr zu Yaar e.V. auf der Website des Vereins.
Mit Fußball fing alles an bei Itehad e.V., einem Verein, den Soltan Akbari vorstellte (hier der Link zur Facebook-Seite). Mittlerweile geht es aber um mehr: großes Ziel ist die Vernetzung der Afghan_innen untereinander und mit Menschenrechtsorganisationen, um gemeinsam politisch aktiv zu werden. Denn bisher findet dieser Austausch gerade in Berlin viel zu wenig statt, zu viele ähnliche Initiativen arbeiten parallel statt gemeinsam. Aus diesem Grund ist für den 10. Dezember übrigens eine große Demonstration in Berlin geplant, um auf die Situation der Afghanen in Deutschland aufmerksam zu machen (ja, das ist ein versteckter Demo-Aufruf…).
In Arbeitsgruppen diskutierten die Teilnehmer_innen schließlich gemeinsam mit Expert_innen, was man konkret unternehmen kann, in den Feldern Aktivismus, Advocacy und Wissenschaft. Auch hier wurde wieder klar: Das Grundproblem in Afghanistan ist die Sicherheit, in Deutschland mangelt es dagegen an Vernetzung und Austausch – ein Mangel, der mit dieser Veranstaltung zumindest ansatzweise angegangen wurde. Es gibt also viel zu tun, in doppelter Hinsicht: Zwar muss man für eine Verbesserung der Lage einen langen Atem haben, aber es gibt jede Menge Aufgaben, die auch nicht-Exptert_innen gut übernehmen können.
Was die Sicherheitslage in Afghanistan betrifft, blieb lediglich eine Erkenntnis: Wie wenig es bringt, wenn die Bundesregierung ungelöste Probleme für gelöst erklärt, war spätestens beim NSA-Skandal zu sehen. Genauso wenig wird Afghanistan per Kabinettsbeschluss auf einmal ein sicheres Land – auch wenn die Regierung das gerne anders sehen würde.