Muslim*innen und ihre Religion stehen im öffentlichen Scheinwerferlicht. Sogenannte Islamexpert*innen sprießen aus dem Boden. Neben Akademiker*innen und Journalist*innen schalten sich nunmehr auch verstärkt Blogger*innen und Politiker*innen in den Diskurs ein. In diese Konstellation hinein veröffentlichte die Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Schirin Amir-Moazami (Freie Universität Berlin) nun einen Sammelband zur Frage, wie dieses Wissen über Muslim*innen in Europa eigentlich generiert wird und zur Anwendung kommt.
Die Publikationsfülle zu Muslim*innen ist für Studierende kaum noch überschaubar. Wissenschaftler*innen aus den unterschiedlichsten Disziplinen setzen sich mit dem Thema auseinander und untersuchen Muslim*innen und ihre Religion. Die Ergebnisse beziehen sich dann vor allem darauf, was Muslim*innen sagen und stellen diese Aussagen als Wahrheit dar. Meist folgen diese Forschungsergebnisse den vorausgegangenen Diskussionen in der Öffentlichkeit.
Genau hier setzt nun Amir-Moazamis Sammelband „Der inspizierte Muslim: Zur Politisierung der Islamforschung in Europa“ an. Muslim*innen sind stets aufgerufen, sich als solche zu äußern – eine Definition von Muslim*innen wird dabei jedoch unterlassen. Die Herausgeberin bezieht sich auf Michel Foucault und erklärt, dass eine „Ambivalenz von Diskursanreizung und –verknappung“ besteht. Amir-Moazami erläutert den stets bestehenden Zusammenhang zwischen Wissen und Macht.
Der Sammelband untersucht also nicht, ob die unzähligen Forschungsergebnisse zu Muslim*innen nun der Wahrheit entsprechen oder nicht. Vielmehr liegt das Ziel des Buches darauf, unter welchen Voraussetzungen dieses (vermeintliche) Wissen über Muslim*innen in Europa geschaffen wird und inwieweit es selbst schon eine „politische Intervention“ darstellt.
Beispielsweise wirft der Band die Frage auf, welche Funktion die Vermessung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe erfüllt und „wie sie mit politischen Bedarfen korreliert.“ Denn selbst wenn die Wissenschaft sich als neutral darstellt, gebe es auch dort keinen objektiven Blick auf Muslim*innen.
Die Kopftuchdebatte stehe symbolhaft für die fehlende Neutralität seitens der Wissenschaft, so Amir-Moazami. Der Säkularismus stellt dabei den Rahmen, innerhalb welcher der Diskurs stattfindet. Somit haben auch die Begründungen für oder gegen das Kopftuch ihre Grenzen. In „dem Fall freie Wahl, Geschlechtergleichheit und allgemeine liberale Freiheiten“. Eine Muslimin, die in diesem Rahmen sich dafür rechtfertigt, ihr Kopftuch zu tragen, verfalle daher schnell in eine apologetische Haltung wie „Kopftuch tragende Frauen sind emanzipiert“.
Buchbeiträge im Sammelband
Der Band enthält eine Vielzahl an Beiträgen, die zum Nachdenken anregen. Im ersten Beitrag geht die Soziologin Anna Daniel der Frage nach, welche Religion als modern gilt. Sie greift dafür unter anderem auf Max Weber zurück. Dabei zeigt Daniel auf, dass eine moderne Religion im europäischen Verständnis eine ist, die von anderen gesellschaftlichen Bereichen getrennt ist. Am Ende ihres Beitrags betont Daniel, dass sie diese Einstellung nicht kritisieren möchte. Jedoch sei es wichtig, dieses Denkmuster offen zu legen, wenn es auf den Islam übertragen wird.
Es folgt ein Beitrag der Soziologin Manuela Boatcă zu „»Vom Standpunkt des Deutschtums«: Eine postkoloniale Kritik an Webers Theorie von Rasse und Ethnizität. Boatcă kritisiert, dass die von Weber entworfene Soziologie von einem europäischen Standpunkt heraus die Welt erklären möchte. Sie plädiert hingegen für die Etablierung einer globalen Soziologie.
Die Herausgeberin Schirin Amir-Moazami beschäftigt sich in ihrem Buchbeitrag mit den „Epistemologien der »muslimischen Frage« in Europa“. Darin arbeitet sie heraus, dass wissenschaftliche Fragen oft politisch beeinflusst sind. Als Beispiel nennt sie die Deutsche Islam-Konferenz und die darauffolgende Frage, wie der Islam sich als eine Ressource zur Integration verwenden lässt.
Der Aufsatz „Die Vermessung der Muslime“ von Birgitte Schepelern Johansen (Department of Cross Cultural and Regional Studies, Uni Kopenhagen) und der Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus (Uni Göttingen) arbeitet heraus, wie Forschungsdesigns dazu beitragen, dass eine Kategorie „Muslim_innen“ entsteht.
Im nächsten Kapitel untersucht der Islamwissenschaftler Frank Peter (Uni Qatar) das Verhältnis von Islam und Laizität in Frankreich. Peter verdeutlicht in seinem Beitrag, dass der Säkularismus – wie auch Forschungsdesigns – die Kategorie „Muslime und Islam“ erst konstruiert.
Der Politikwissenschaftler Tobias Müller (Uni Cambridge) geht im darauffolgenden Kapitel der Frage nach, wie „der Staat zwischen »extremistischem« und »nicht-extremistischem« Islam“ unterscheidet, auf welchen Argumentationslinien diese beruhen und welche Auswirkungen eine solche Unterscheidung durch staatliche Akteure hat.
Einem sicherlich sehr emotionalen Thema widmet die Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze ihren Buchbeitrag mit dem Titel „Sexualitätsdispositiv Revisited“. Dietze geht darin der Frage nach, wie und warum die Sexualität des „Arabischen Mannes“ zum Problem gemacht wurde und welche Schlüsse man dadurch über diejenigen, die es problematisieren, ziehen kann.
Im nächsten Kapitel beschäftigen sich die Soziologinnen Sarah Bracke (Uni Amsterdam/ Brüssel) und Nadia Fadil (Uni Leuven) mit der Frage „Ist das Kopftuch unterdrückend oder emanzipatorisch?“ Darin zeigen sie auf, wie die Frage selbst schon den Diskurs beeinflusst und wie Wissenschaftler*innen durch ihre Forschung an dieser Beeinflussung mitarbeiten.
Anschließend schreiben die Anthropologin Sultan Doughan und Hannah Tzuberi (Professorin für Judaistik und Islamwissenschaft) über „Säkularismus als Praxis und Herrschaft: Zur Kategorisierung von Juden und Muslimen im Kontext säkularer Wissensproduktion“. Doughan und Tzuberi analysieren anhand der Beschneidungsdebatte und des Karikaturenstreits, „welche unterschiedlichen Logiken und Befindlichkeiten auf die Wissensproduktion zu jüdischen und muslimischen Körpern einwirken.“
Aus einer pädagogischen Perspektive betrachtet Julia Franz „Verfremdungen“ von Muslim*innen. Franz skizziert, wie die Pädagogik muslimische Weltbilder, Werte und Normen erschließen möchte, während „die Frage nach deren Vereinbarkeit mit den gesellschaftlichen Institutionen [...] aber zumindest im Hintergrund mitgeführt“ wird.
Den letzten Beitrag mit dem Titel „Ethnographie und der Sicherheitsblick: Akademische Forschung mit »salafistischen« Muslimen in den Niederlanden“ verfasste Martijn de Koning. Der Anthropologe forschte 2011 über salafistische Gruppen in den Niederlanden und wurde später durch die niederländische Justiz befragt, da 22 seiner Befragten in Syrien kämpften. In seinem Beitrag reflektiert de Koning daher die ethischen und methodologischen Dilemmata seiner Forschung.
Pflichtlektüre für Islamwissenschaftler*innen
Der Sammelband „Der inspizierte Muslim“ erfüllt seine Versprechen. Die einzelnen Inhalte sind dicht und tiefgehend, weshalb viel Aufmerksamkeit und Konzentration von Leser*innen gefordert wird. Das Buch belohnt mit seiner Aufdeckung bestimmter Denkmuster und wirkt damit als Beweis, dass es keinen neutralen Blick auf Muslim*innen gibt. Auch die Wissenschaft ist nur vermeintlich objektiv – Recherchierende haben immer eine bestimmte Perspektive und es ist wichtig, dass die eigene Rolle als forschende Person kritisch hinterfragt wird.
„Der inspizierte Muslim“ ist somit Pflichtlektüre für alle, die zum Islam forschen und über Muslim*innen schreiben – seien es Studierende, Wissenschaftler*innen oder Journalist*innen. Für sie ist es unabdingbar, sich kritisch mit den Voraussetzungen (ihrer) Wissensproduktion zu befassen. Der Sammelband bietet die Möglichkeit, sich die Zusammenhänge von akademischem Wissen und politischem Eingriff zu verdeutlichen. Gerade im Bezug zum Thema Islam wird allzu oft „über die anderen“ geforscht und geschrieben. „Der inspizierte Muslim“ regt dazu an, sich kritisch und ethisch mit Wissensproduktion über Muslim*innen zu befassen und sich dessen bewusst zu werden, wie groß das politische Kalkül ist, welches hinter dieser Produktion von akademischem Wissen liegt.