10.08.2023
Rezension: „Natürlich kann man hier nicht leben“
Auf der Fähre zwischen Kadiköy und Karaköy in Istanbul. Foto: Clara Taxis.
Auf der Fähre zwischen Kadiköy und Karaköy in Istanbul. Foto: Clara Taxis.

Özge İnan erzählt in ihrem Debütroman die Geschichte von Nilays Eltern in der Türkei der 1980er- und 90er-Jahren. Ihr politischer Aktivismus zwingt sie nach Berlin. Nilay aber will zurück.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher und Filme vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Nilay will weg. 2013 beobachtet sie aus Berlin die Proteste am Taksim-Platz und im Gezi-Park in Istanbul. Sie treibt das Gefühl um, am falschen Ort zu sein, im falschen Land, unter den falschen Leuten. Sie treibt der Wunsch um, Teil des politischen Geschehens zu sein: nicht in Berlin, sondern in Istanbul. Dass ebendieser politische Aktivismus ihre Eltern damals nach Deutschland gezwungen hat, scheint Nilay dabei außer Acht zu lassen. Ihr Ausbruch ist deshalb nicht Teil der Geschichte.

Stattdessen erzählt uns der Debütroman der Journalistin Özge İnan, der auf Twitter mehr als 78.000 Menschen folgen, die Geschichte von Nilays Eltern Hülya und Selim. Er erzählt uns von ihrem politischen Aktivismus, von ihren Träumen und Wünschen, der Jugend einer ganzen Generation in der Türkei der 1980er- und 90er-Jahre.

Kein Ort zum Bleiben

„Natürlich kann man hier nicht leben“, sagt ihre Mutter Hülya, eine der Protagonist: innen in Özge İnan Roman. „Aber deshalb haut man doch nicht einfach ab.“ Mit diesen Worten will sie ihren Freund Selim zum Bleiben in Izmir überreden: zum Bleiben in einem Land, das bereits in Kindheitstagen ihren Vater weggesperrt hat; ein Land, das manche Freund:innen bereits verlassen haben.

Hülya wächst in Gültepe, einem Arbeiter:innenvorort von Izmir, auf. Dort lebt ihre Schwester ihr vor, was sie nicht will: jung Mutter werden, jung heiraten, als Hausfrau enden. Sie verlässt das Dorf, zieht ins liberale Izmir, studiert Medizin und wird politisch aktiv. Vor patriarchalen Strukturen ist damals wie heute allerdings auch die linke Szene in Izmir wie in Berlin nicht befreit: Hülya fühlt sich von männlichen Studienkollegen bevormundet und eckt auf Demonstrationen an. In ihrem Wunsch, die Dinge anders zu machen als die Frauen ihrer Familie, wird sie von einer Realität eingeholt, der sie weder in linken Kreisen, noch außerhalb ihres Heimatdorfes, ausweichen kann.

„Wofür machen wir das denn hier alles?“

Parallel zu Hülyas wird uns Selims Geschichte erzählt. Bereits während seiner Schulzeit in einem renommierten Internat in Izmir wird er politisch aktiv und knüpft Freundschaften, die seinen Charakter bis in die letzten Seiten des Romans prägen. Gerade seine Figur malt uns einen beinahe chronologischen Verlauf der politischen Entwicklungen in der Türkei der 1980er- und 90er-Jahre auf.

Durch Selim und seine Schulkamerad:innen lernen wir junge Aktivist:innen in Führungsrollen kennen und die Gewalt, die sie erleben. Während mit der Zeit der Umgang immer härter wird, entwickelt sich die Schule zu einem militanten und eintönigen Ort. Als Leser:innen bekommen wir mit, was auf kaum einer Seite des Buches direkt ausgesprochen wird: den türkischen Militärputsch 1980; die politischen und gesellschaftlichen Zustände unter dem daraufhin verhängten Kriegsrecht; die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung.

Nach dem Internat zieht es Selim an die Universität in Izmir, wo auch er Teil der Studierendenbewegung wird. Irgendwann lernt er Hülya kennen. „Wofür machen wir das denn hier alles?“, erwidert Selim in einem Gespräch, als Hülya sich über die Zustände in der Türkei aufregt. Denn zwischen Reden gegen den Nationalismus und über die Kämpfe einer Arbeiter:innenklasse , die kein „Vaterland“ hat, besteht der gemeinsame Wunsch, den Menschen dieses Landes ein besseres Leben zu ermöglichen.

Unendlich mehrschichtig

Özge İnans Roman erstreckt sich, ganz im Stil der Mehrgenerationenerzählung wie etwa „Nachts ist es leise in Teheran“ von Shida Bazyar, über beinahe vier Jahrzehnte. Die Erzählungen sind dynamisch und von Dialogen geprägt: Wie im Film blicken wir von außen auf das Geschehen. Wir können den Protagonist:innen zusehen, zuhören, werden von ihnen durch die Türkei der 1980er- und 90er-Jahre geführt.

Dabei erhalten wir Einblick in die Sichtweisen und Erlebnisse verschiedener Charaktere: Einige von ihnen finden an einem späteren Punkt des Buches zueinander, andere werden zu verblassenden Seitensträngen einer überwältigend großen Erzählung. In den Momenten, in denen auch ihre Geschichten kurz sichtbar werden, möchte ich mehr von ihnen wissen. Dann wünschte ich mir, dass auch ihren Erfahrungen ein ganzer Roman gewidmet wird. Trotz der Vielzahl an Stimmen und Perspektiven wirkt der Roman aber nicht verloren. Vielmehr verwebt er die Geschichten noch rechtzeitig ineinander: Die Teile fügen sich zu einem Bild, das im titelgebenden Satz zusammenfindet.

„Natürlich kann man hier nicht leben“ erzählt nicht nur einen historischen Abriss der 1980er- und 90er-Jahre der Türkei. Der Roman erzählt von der Gegenwart: von Nilay, Hülyas Tochter, die die Entscheidungen ihrer Eltern am liebsten rückgängig machen würde. Denn wo man wirklich leben kann, darauf hat auch Özge İnans Debüt keine Antwort.

Özge İnan: Natürlich kann man hier nicht leben, Piper, 240 Seiten, Deutschland 2023.

 

 

 

 

 

 

 

Sophie Romy studiert Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Von Herbst 2019 bis Herbst 2022 leitete sie das Nerv-Magazin für studentisches Sein. Ihre Texte erschienen in diversen Literaturzeitschriften und Anthologien. Seit Oktober 2022 ist sie Hospitantin beim ZEIT Wissen Magazin.
Redigiert von Bruna Rohling, Regina Gennrich