06.07.2013
Presseschau zum Sturz Mursis: "Ägypten droht die Militärdiktatur"
Plakat bei den Anti-Mursi-Demonstrationen vergangene Woche. Foto: Schluwa Sama
Plakat bei den Anti-Mursi-Demonstrationen vergangene Woche. Foto: Schluwa Sama

Nicht nur in Europa, auch im Nahen Osten sind sich die Zeitungen uneins, was die Ereignisse in Ägypten nun bedeuten. Während manche einen Bürgerkrieg oder eine zu große Macht für das Militär befürchten, sehen die anderen das Volk als Sieger und Mursis Sturz als Fortführung der Revolution von 2011. Eine Presseschau.

Kamal Ben Younes blickt in der tunesischen Tageszeitung al-Sabah höchst pessimistisch in die ägyptische Zukunft. Realistisch seien derzeit zwei Entwicklungen – das „Algerien-Szenario“ und das „Gaza-Szenario“. Als 1991 das Ergebnis der algerischen Parlamentswahl annulliert wurde, endete das mit 250.000 Toten, zehntausenden Verletzten und Kosten in Höhe von 50 Milliarden Dollar, rechnet Ben Younes vor. Gemäß dem Gaza-Szenario könnten Ägyptens Muslimbrüder dazu verleitet werden, ähnlich wie die Hamas nach der Aberkennung ihres Wahlerfolgs 2006 zu reagieren, die in Gaza einen eigenen Proto-Staat errichtete und so die palästinensischen Autonomiegebiete zerfielen. Auch Ägypten könne über kurz oder lang in einen koptischen Staat und einen islamistisch-salafistischen Staat zerfallen, fürchtet der Tunesier. „Ägypten ist auf dem Weg Afghanistans, Pakistans oder Somalias – mit einem schwachen Zentralstaat, der nur noch formell existiert und revolutionären Emiraten der Rebellen.“ Mehr und mehr stelle sich heraus, dass es den Politikern, die nach dem Arabischen Frühling an die Macht kamen, an Erfahrung, Effizienz und Bescheidenheit fehle.

Nicht ganz so skeptisch ist Fayçal Métaoui im Nachbarland Algerien, gibt in der el-Watan allerdings zu bedenken: „Nichts deutet darauf hin, dass Mursis Anhänger schweigen werden. Und nichts deutet darauf hin, dass ein neuer demokratischer Prozess in Gang gebracht wird. Die Armee kontrolliert Ägypten jetzt seit mehr oder weniger sechzig Jahren.“ Der Fall der arabischen Diktaturen habe leider nicht zur längst überfälligen Debatte über die Rolle der Armeen im politischen Leben der Länder geführt. „Diese Rolle muss unbedingt korrigiert werden, um zu verhindern, dass Staatsstreiche zur Volksgewohnheit werden und damit das politische Urteil wieder zu den zivilen und demokratisch gewählten Institutionen zurückkehrt.

Issa Goreib beschäftigt sich in der libanesischen Tageszeitung Orient le Jour mit der auch in deutschen Medien viel diskutierten Frage, wann ein Militärputsch kein Militärputsch sei. „Es bleibt nur zu hoffen, dass die Armee nicht lange in der Rolle des Schiedsrichters bleibt, die sie sich auferlegt hat – sonst geht es Ägypten wie Syrien: Zwischen Diktatur und Theokratie, wo soll die Demokratie da ihre Nische finden?“ Was die Muslimbrüder betreffe, so habe sich gezeigt, dass sie keinen dauerhaften Ersatz für die klassischen Diktaturen bieten könnten. „Sich auf Gott zu berufen macht aus ihnen keine Engel, sondern noch stumpfere und ineffektivere Diktaturen als die zuvor.“

Ebenfalls im Libanon erscheint der Daily Star, der unter dem Titel „Ein epischer Fehlschlag“ kommentiert: Die Muslimbrüder hätten jahrzehntelang auf die Chance gewartet das Land zu regieren, doch als sie diese endlich bekamen, hätten ihr Dogmatismus und ihre Ignoranz gegenüber anderen Meinungen ihre insgesamt enttäuschende Leistung nur abgerundet. Ihr Sturz sei nur eine Frage der Zeit gewesen, da sie noch im „prä-arabischer-Frühling-Modus“ regiert hätten, jedoch sei die „Mauer der Angst“, welche die Araber so lange gelähmt habe, seit den Ereignissen in Tunesien 2011 eingestürzt. Der Kollaps des ägyptischen Experiments sei für die Führer islamischer Bewegungen in der Region eine Warnung, dass der Islam nicht automatisch ein erfolgreiches politisches Format darstellt. Die Hoffnung Baschar al-Assads, die Ereignisse in Ägypten werde die Syrische Opposition diskreditieren, sei jedoch nur ein frommer Wunsch.

In der staatlichen syrischen Zeitung al-Thawra kommentiert Nasser al-Munzar, dass Mursis Sturz erwartbar gewesen sei. „Mursi hat sich als neuer Pharao dargestellt und vergessen, dass sich das ägyptische Volk niemals von einem Einzelnen erniedrigen und unterdrücken lässt“, schreibt der Autor. Auch „Mursis blinder Gehorsam gegenüber dem Weißen Haus und seine enge Freundschaft mit dem Präsidenten des zionistischen Gebildes“ hätten zu dem Umsturz geführt. Ebenso habe sich der Staatschef mit dem Abbruch der Beziehungen zum schlagenden Herz des Arabismus – Damaskus – den Zorn des Volkes auf sich gezogen, schreibt Munzar und schließt mit den Worten: „Verdientermaßen haben sich die Ägypter nun Freiheit und Würde zurück erkämpft.“

Die iranische Presse sieht die Schuld bei Mursi

Im mit Syriens Regime verbündeten Iran bereiten sich die Zeitungen auf einen langfristigen Umsturz der Muslimbrüder vor. Die großen Demonstrationen, die verschiedenen politischen Fraktionen und der sich seit langem angebahnte Widerstand gegen Mursi in der Bevölkerung finden außer in der reformorientierten Etemad keinen Raum in der Presse, die in den letzten Jahren unter starker Zensur litt. So bemängelt die iranische Hamshahri das Eingreifen des Militärs in politische Prozesse. Sie sieht Ägypten in einer Krise, in der die Muslimbrüder vom Militär unterdrückt und vor allem deren Anhänger festgenommen werden.

Die rechte Keyhan beschreibt einen Coup d‘Etat. Obwohl sie für gewöhnlich die USA und Israel als die Verantwortlichen für politische Umbrüche im Nahen Osten heranzieht, hält sie sich dieses Mal mit Anschuldigungen zurück. Stattdessen sieht sie als Ursachen für Mursis Scheitern die Aufrechterhaltung des Camp-David-Vertrags mit Israel und die fehlende Unterstützung Syriens.

Die große Nachrichtenagentur ISNA der „Studenten Irans“, eine der wichtigsten des Landes, hebt ebenso die Rolle des Militär in den Vordergrund, das einen Militärputsch verübte, wobei die Muslimbrüder bis zur Rückkehr Mursis weiter demonstrieren werden.

Die reformorientierte Zeitung Etemad sieht Mursis „unstetigen“ und „unsicheren“ Führungsstil für sein Scheitern verantwortlich. Auch Bashar al-Assad wird mit den Worten zitiert, dass dieser Umsturz den politischen Islam verändern wird und jeder, der die Religion für politische Zwecke missbrauchen wird, gestürzt werde. Besonders dies scheint eine für die iranische Presse erstaunliche Aussage, da die Islamische Republik eben genau die Symbiose zwischen Politik und Religion verwirklichen möchte. Doch ist dies einerseits eher als Warnung an den Westen zu lesen, in Syrien die falschen Kräfte zu unterstützen, und anderseits ist die iranische Position diesbezüglich, dass die Gründung der Islamischen Republik auf den Volkswillen beruhe und daher der Revolutionsführer nur den Willen des Volkes ausführe.

Die Teheran Times sieht Mursis ständigen Kampf mit dem Militär, seine gebrochenen Versprechen im Bezug auf die neue Verfassung  und die  schlechte Wirtschaftliche Lage Ägyptens als Gründe für Mursis Sturz. Zusätzlich hätten Salafisten und andere Radikale, sowie der Druck westlicher Regierungen,  Ägyptens erste post-revolutionäre Regierung geschwächt. Doch trotz all seiner Defizite hätte Mursi den Schlüssel besessen, um die Krise zu lösen und den Militärputsch zu verhindern. Dazu hätte auch die Bildung einer neuen Regierung unter Einschluss von Oppositionspolitikern wie Mohammed El Baradei  und Amr Moussa gehört. So jedoch stehen „in diesem kritischen Moment  die Ägypter  vor der schwierigen Aufgabe, einen starken Führer zu finden, der in der Lage ist, die Ziele der Revolution zu verwirklichen. Gelingt dies nicht, drohen Ägypten dunkle Tage der Militärdiktatur.“

Jubel am Arabischen Golf

Auf der anderen Seite des Golfes jubelt dagegen Anwar Abd al-Rahman in seinem Kommentar für Akhbar al-Khaleej aus Bahrain: „Der arabische Riese Ägypten ist erwacht!“ Dieselben Menschen, die Husni Mubarak stürzten, seien nun für den Sturz Mohammed Mursis erneut auf die Straßen gegangen. Ägypten habe wegen der Inkompetenz des Präsidenten einen Punkt erreicht, an dem es keinen anderen Ausweg als den Volksaufstand gegeben habe. Dann habe das Militär richtigerweise seine historische Verantwortung wahrgenommen. Abd al-Rahman ist überzeugt: „Die Armee ist in jedem Land – und besonders in arabischen Ländern – der wahre Beschützer des Staates und der Gesellschaft. Die Armee ist die einzige Institution, auf die sich das Volk in Krisenzeiten verlassen kann.“

Zwar könne es problematisch sein, wenn das Militär ins zivile Leben eingreift, schreiben die in den Vereinigten Arabischen Emiraten erscheinenden Gulf News; jedoch könnten diese Sorgen durch die Berufung des Verfassungsgerichtspräsidenten zum Interims-Staatschef gedämpft werden. „Mursi und die Muslimbruderschaft haben sich ihr Schicksal selbst zuzuschreiben“, urteilt die Zeitung. Letztlich entscheidend gewesen seien Mursis Unfähigkeit, der Opposition mit bedeutenden Konzessionen entgegenzukommen, sein systematischer Versuch, sämtliche staatlichen Institutionen mit Muslimbrüdern und ihren Unterstützern zu besetzen, sowie der katastrophale Umgang mit der ökonomischen Krise Ägyptens. Von höchster Wichtigkeit sei es im nun folgenden Transformationsprozess, dass dieser einem klaren Plan folge und unverzüglich Wahlen abgehalten werden. Auch der palästinensische linke Intellektuelle und Journalist Nassar Ibrahim sieht das Scheitern der Regierung Mursis darin begründet, dass sie lediglich eine Interessenspolitik der Muslimbrüder verfolgt hätte.

Für das israelisch-palästinensische Aktivistenprojekt Alternative Information Center schreibt Ibrahim: „Ägypten hat eine lange Staatsgeschichte und kann folglich nicht von einer Gruppe oder Partei alleine regiert werden. Genau dies versuchten jedoch die Muslimbrüder. Mit diesem Ansatz widersprachen sie den Ägyptern und ihren nationalen Interessen.“ Zudem habe Mursi eine Chance vertan, als sie sich an die USA gewandt und deren bereits zu Sadats und Mubaraks gescheiterten sozio-politische und wirtschaftliche Strategien übernommen habe. Stattdessen hätte er beispielsweise bei den BRICS-Staaten „neue Antworten“ für die Überwindung der Krise finden können. Schließlich wirft Ibrahim Mursi vor, in Ägypten und der Region des Nahen Ostens eine “Kultur des Konfessionalismus” befördert zu haben. Regionale Probleme würden von den Muslimbrüdern verzerrt und vereinfachend als Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten dargestellt. Die Beförderung einer solchen Kultur sei wiederum eine Strategie der USA, die Region besser kontrollieren zu können.

"Der Aufstand verdient Lob und Bewunderung"

"Mursis Sturz - gut für die Juden" titelt Israels meistgelesene Tageszeitung Israel Hayom. Obgleich Israel sich mit der Regierung der Muslimbruderschaft gut arrangiert habe – gar besser als mit dem Militärregime Mubaraks – müsse Israel Mursi keine Träne nachweinen, meint Kommentator Dan Margalit. Der Sturz der Muslimbrüder sei gut für Israel und seine Alliierten, nicht nur, weil Ägypten damit für absehbare Zeit keine militärische Bedrohung darstelle, sondern auch, weil sich der Trend hin zu extremistischen Regimen nun umkehre. Dass Israel sich in die aktuellen Ereignisse nicht einmische, sei weise.

Dagegen sieht Alon Pinkas von Israels zweitgrößter Tageszeitung Yediot Ahorot die passive Haltung des Landes kritischer. Obgleich sich keine unmittelbaren Folgen für Israel abzeichneten, müsse man sich aktiv mit der Situation auseinandersetzen: "Es ist nicht wahr, dass uns die Umwälzungen in der arabischen Welt nicht betreffen. Es ist nicht wahr, dass sich so das Kernproblem Israels mit den Palästinensern löst. Das ist der Kern von Israels Leugnung."

Die linksliberale Ha'aretz findet in einem Leitartikel vom Freitag begeisterte Worte für den Sturz Mursis. Die Demonstranten hätten deutlich gemacht, dass Ägypten sich nicht mit einer bloßen "Wahl-Demokratie" zufrieden gebe, sondern wahre Demokratie fordere, in der die Regierung dem Wohl des Volkes verpflichtet sei. Mit Mursi seien die Menschen mit dem Dilemma konfrontiert gewesen, einerseits den demokratischen Prozess zu respektieren und andererseits der Repression zu begegnen, die dieser hervorbrachte. Der Aufstand verdiene "Lob und Bewunderung". In einem weiteren Kommentar merkt Amos Harel an, dass der erzwungene Abgang der Muslimbrüder durchaus Gewalt mit sich bringen könne und die wirtschaftlichen Probleme Ägyptens nicht löse. Da der kalte Friede mit Israel aber im Interesse der US-gestützten Armee liege, habe man in Israel zunächst nichts zu befürchten. Das nächste Regime werde wahrscheinlich die Israel-Politik Mursis fortführen, das Land also öffentlich anprangern, aber in Sicherheitsfragen im Geheimen Absprachen treffen.  

Sein Journalistik-Studium führte Bodo vor einigen Jahren in den Libanon. Es folgten viele weitere Aufenthalte im Libanon und in anderen Ländern der Levante, auch als Reiseleiter für Alsharq REISE. Bodo hat einen Master in Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und arbeitet heute als Journalist, meist für die Badischen...
Hat Politikwissenschaft mit Fokus auf Westasien und Nordafrika in Marburg studiert und arbeitet als Radio-Journalist in Potsdam. Für dis:orient bespricht er Romane und Sachbücher. Foto: Jörg Pitschmann