23.10.2025
Die Rede, die nie gehalten wurde
Unteilbar-Demo mit 250.000 Teilnehmenden in Berlin (2018). Foto: Andi Weiland | www.andiweiland.de CC BY-NC 2.0
Unteilbar-Demo mit 250.000 Teilnehmenden in Berlin (2018). Foto: Andi Weiland | www.andiweiland.de CC BY-NC 2.0

Friedrich Merz‘ Stadtbild-Aussage vertieft die Enttäuschung aller, die an die postmigrantische Gesellschaft glauben. Erdal Ahlatçı liefert einen Gegenentwurf – eine Rede über den Zusammenhalt und das Versprechen einer gemeinsamen Zukunft.

Ich habe lange auf diese Rede gewartet – eine Rede über Migration, Zugehörigkeit und Zusammenhalt. Eine Rede gegen Spaltung und Angst. Eine Rede, wie sie von der Spitze dieses Landes kommen müsste. 

Sie kam nie. Also steht sie hier:

Liebe Bürgerinnen und Bürger unseres Landes,

wir erleben in den letzten Jahren eine gefährliche Entwicklung. Es wird gespalten, wo wir zusammenhalten müssten. Es wird polarisiert, wo wir zuhören sollten. Es wird gegen Schwache gehetzt, wo Stärke gebraucht wird – die Stärke der Menschlichkeit.

In unserer Gesellschaft gibt es immer noch Menschen, die die deutsche Identität völkisch definieren, die Zugehörigkeit über das Aussehen bestimmen, die glauben, Deutschsein ließe sich an Hautfarbe oder Namen erkennen.

Für sie ist Zugehörigkeit zu Deutschland ein Privileg und ein Bonus, der nur ihnen zusteht. Ein Ausweis der Herkunft, nicht der Haltung. 

Zugehörigkeit ist aber kein Bonus – sie ist die Voraussetzung. Voraussetzung für Integration. Voraussetzung für ein gemeinsames Wir. Voraussetzung dafür, dass dieses Land zusammenhält.

Denn wenn ein Teil der Menschen sich nicht zugehörig fühlt, weil sie zu den „Anderen“ gemacht werden, entsteht auch kein Wir-Gefühl. Und ohne dieses Wir gibt es kein Vertrauen, keine Gemeinschaft, keine Demokratie, die trägt.

Deutsche Staatsbürger:innen – die erkennt man nicht am Gesicht. Nicht an der Religion. Nicht am Dialekt. Nicht am Namen. Man erkennt sie nur am Pass. Und selbst der Pass ist nur ein Symbol – für ein Versprechen auf gleiche Rechte, gleiche Würde, gleiche Chancen.

Dieses Land ist kein Museum der Vergangenheit. Es ist ein lebendiges Versprechen an die Zukunft. An alle, die hier leben – mit oder ohne deutschen Pass.  An alle, die hier arbeiten, lieben, hoffen, streiten. An alle, die geflüchtet sind, weil sie Schutz suchten – und in diesem Land Demokratie fanden.

Deutschland ist stark, weil es vielfältig ist. Weil hier aus Fremden Nachbar:innen werden. Weil wir wissen, was Abschottung anrichtet. Weil wir gelernt haben, was Hass zerstört.

Die Identität Deutschlands ist nicht Blut, nicht Boden, nicht Herkunft. Die Identität Deutschlands ist Offenheit. Ein Land, das aus der Barbarei des Faschismus hervorgegangen ist, kann keine andere DNA haben als Antifaschismus.

Das ist unser Erbe. Das ist unsere Verantwortung. Das ist unser Stolz.

Wir sind nicht das Land der Reinheit. Wir sind das Land des Widerspruchs, der Vielfalt, der zweiten Chancen. Und genau das macht uns menschlich.

Deshalb werden wir nicht zulassen, dass Menschen wieder in „echte“ und „unechte“ Deutsche geteilt werden. Wir werden nicht schweigen, wenn aus Angst Politik gemacht wird. Und wir werden uns jedem entgegenstellen, der aus Herkunft eine Hierarchie macht.

Denn ein Deutschland, das Menschen ausschließt, verliert sich selbst. Aber ein Deutschland, das Menschen einschließt, gewinnt die Zukunft.

 

Diese Rede veröffentlichte der Autor zuerst auf seinem Instagram-Profil.

 

 

Erdal Uğur Ahlatçı spricht in seinem Podcast „Woher kommst du wirklich?“ mit Menschen über Identität, Herkunft und ihre Perspektiven auf Zugehörigkeit in Deutschland. Auf Instagram und LinkedIn teilt er regelmäßig Inhalte über soziale Gerechtigkeit, Vorurteile und Rassismus. Er ist außerdem Gründer und Geschäftsführer eines Tech-Startups.