17.07.2020
Klischee „Bauchtanz“ – Queere Revolution statt Orientalismus
"Bauchtanz" – eine Kunstform zwischen orientalistischen Klischees und revolutionärem Protest | Grafik: Paul Bowler
"Bauchtanz" – eine Kunstform zwischen orientalistischen Klischees und revolutionärem Protest | Grafik: Paul Bowler

Halbnackte Schönheiten, Sinnlichkeit und Exotik: Orientalistische Klischees prägen unser Bild vom „Bauchtanz“. Der Realität des Tanzes wird das nicht gerecht. Und es vergisst das emanzipatorische Potential dieser Kunstform, meint Sherin Striewe.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Leicht bekleidet steht sie auf der Bühne. Sinnlich bewegt sie ihre Hüften zu rhythmischer Musik. Das Licht ist gedämmt. Wer in Deutschland an „Bauchtanz“ denkt, hat höchst wahrscheinlich gleich Bilder von 1001 Nacht, halbnackten arabischen cis-weiblichen Schönheiten und Erotik im Kopf. Denn die Vorstellung von Raqs Sharqi (arab. für „Der Tanz des Ostens“), den manche gerne „Oriental Dance“ nennen, ist so orientalistisch wie der Begriff „Bauchtanz“ selbst.

Während frühe Kolonialist*innen wie Vivant Denon[1] den Tanz als obszön abstempelten, inszenierten Hollywoodfilme wie „Der Scheich“ (1921) oder „Cleopatra“ (1963) den Tanz später als „exotische Erotik“. Dabei hat der Raqs Sharqi in WANA eigentlich gar nichts Exotisches, sondern ist so alltäglich, dass er meist einfach als „Tanz“ bezeichnet wird. Aktuell wird er vor allem von und unter Frauen in WANA getanzt – Zuhause, auf Hochzeiten oder zu Henna-Nächten. Doch die koloniale und orientalistische Linse machte ihn zu einem sexualisierten, fetischisierten und schlecht konnotierten „orientalischen Brauch“, den, wenn ich auf Queer-Parties Musik auflege, weiße Menschen gerne lustig nachäffen.

Die koloniale Neubesetzung des Tanzes ging so weit, dass sogar in den Herkunftsregionen das Tanzen des Raqs Sharqi in der Öffentlichkeit mittlerweile als anstößig gilt. Auch in WANA selbst dominieren weiße Frauen aus Russland heutzutage die Branche. Die anrüchige Konnotation speist sich auch aus einem alten Anti-Romanismus und einer Anti-Sexarbeit-Haltung. Mohammed Ali, der von 1805 bis 1848 Gouverneur der osmanischen Provinz Ägypten war, verbannte 1834 Rom*nja-Tänzer*innen von den ägyptischen Straßen. Allerdings zeugt das Bild der erotischen Freizügigkeit auch von einer Generalisierung, die den vielfältigen Ursprüngen und Traditionen sowie der Realität des Tanzes nicht gerecht wird. Der Tanz und die für ihn verwendeten Kostüme variieren von Region zu Region.

Männliche Bauchtänzer waren der Standard

Auch die Idee, dass der Raqs Sharqi ein reiner Tanz für Frauen ist, widerspricht der langen Tradition von männlichen Bauchtänzern, die Ghulam oder Khawal genannt wurden. Nachdem Mohammed Ali die Rom*nja-Tänzer*innen verbannte, setzte er Männer, die lange Zöpfe und viel Schmuck trugen und sich Hände und Arme mit Henna bemalten, zum Tanzen auf der Straße ein. Heute gilt das Wort Khawal als Schimpfwort und Raqs Sharqi wieder als Frauendomäne. Dabei waren männliche Bauchtänzer im osmanischen Reich, als Tanzen in der Öffentlichkeit für Frauen verboten war, der Standard. Doch das Tanzen widerspricht dem heutigen Männlichkeitsbild – nicht nur in WANA.

Professionelle zeitgenössische Tänzer wie Yousef Iskandar, Saif Al-Huriyya, Khalil Khalil oder Zadiel brechen mit diesem Bild. Entgegen jeglicher Erwartungen und gesellschaftlichen Standards tanzen sie Raqs Sharqi, weil sie es lieben. Der in Berlin lebende Libanese Yousef Iskandar spielt mit den Stereotypen um „Oriental Dance“, indem er vermeintlich männlich assoziiertes Auftreten mit weiblich gelesenen Bewegungen verbindet. So bringt Iskandar nicht nur sein Publikum, sondern auch sich selbst zur Auseinandersetzung mit gender-Normen und Konstruktionen. Elegant bricht er das traditionelle Bild des „arabischen Mannes“ auf – und sorgt so für konstruktive Irritierung. Sowohl in queeren Communities als auch in der heteronormativen Dominanzgesellschaft gilt diese Art von Tanz immer noch als besonders feminin und verführerisch. Dabei gibt der Tanz keine Körperformen oder mit Weiblichkeit assoziierten Rundungen vor und basiert stark auf Technik. Im früheren Osmanischen Reich traten aufgrund des Tanzverbots für Frauen tatsächlich jahrhundertelang junge Männer für Paschas auf, und das sogar teilweise in „Frauenkleidern“.

Raqs Sharqi als Form des Protests

Während Frauen aus WANA wie die Pariser Choreografin Leila Haddad oder die Autor*in und Seminarleiter*in Dr*in Rosina-Fawzia B. Al-Rawi versuchen, das Bild des Raqs Sharqi durch Repräsentation zu entsexualisieren, nutzen queere Künstler*innen Tanz als Form des Protests. Ein bekanntes Beispiel dafür bietet die libanesische Band Mashrou' Leila, die in ihrem Musikvideo „Lil Watan“ 2014 eine Transgender-Frau für knapp vier Minuten in ihrem Video tanzen ließ.

Auch Shrouk El-Attar, eine in Wales sesshafte queere Person, die aus Ägypten geflohen ist, tritt unter dem Namen „Dancing Queer“ auf, um gegen Ägyptens Kriminalisierung von Homo-, Bi- und Pansexualität sowie Transgeschlechtlichkeit zu protestieren. El-Attars Raqs Sharqi-Drag-Show ist sichtbar queer und bricht sowohl mit heteronormativen Standards als auch mit dem Label der machtlosen geflüchteten Person. Für Shrouk El-Attar bietet der Tanz einen Ausweg aus dem Ohnmachtsgefühl, sowohl im Herkunftsland als auch in der weiß-dominierten queeren Community in Wales nicht reinzupassen.

Ein revolutionäres Potential

Auch aus meiner eigenen Erfahrung kenne ich das emanzipatorische Potenzial des von Musik und Tanz. Wenn ich als DJ sherryaeri Hip-Hop mit ägyptischem Shaabi und Melodien aus Percussions und Flöten mische, eröffnen sich für Menschen mit WANA-Migrationsgeschichte, besonders auf queeren Parties, sicherere Orte. Oft werden dort dann die von Zuhause erlernten kreisenden Bewegungen des Raqs Sharqi ausgepackt, die so oft keinen Platz in deutscher und/oder queerer Feierkultur finden. Durch die Musik eröffnet sich ein Raum der Zugehörigkeit, der Anerkennung und des Freiseins.

Ähnliche Beispiele bieten die Veranstaltungsreihen Queer*Syria und Queerberg-Soliparty, bei denen geflüchtete Personen aus WANA sich selbst eine Bühne in Deutschland schaffen, um anmutig Raqs Sharqi zu tanzen. Tänzer*innen wie Prens Emrah und Dalaa Alsham legen eine beeindruckende technische Versiertheit an den Tag, die den Anmut und Respekt des Tanzes verdeutlicht, und kombinieren ihn mit queerer Ästhetik. All diese Tänzer*innen zeigen das ermächtigende und revolutionäre Potential dieser Kunstform. Sie dekonstruieren das orientalistische Bild des „Bauchtanzes“, das von Kairo über Hollywood verbreitet wurde. So führen sie vergessene Traditionen fort und vereinen sie mit Kritik und Protest – von Beirut bis Wales.

 

[1] Vivant Denon war einer der Gelehrten, die Napoleon im Jahre 1798 nach Ägypten begleiteten.

 

Sherin Striewe ist Aktivist*in, DJ, Spoken Word Künstler*in, Trainer*in in der politischen Bildungsarbeit, Teil feministischer Community-Projekte und studiert an der Goethe-Universität Frankfurt Main Soziologie im Master. Als mehrgewichtige, nicht-binäre queer femme mit ägyptischer Migrationsgeschichte setzt sich Sherin auf künstlerische und...
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Magdalena Süß