03.06.2017
Kabul zwischen Schock und Protest. Deutschland setzt Abschiebungen aus, aber wie lang?
Eine Frau protestiert in Köln diese Woche auf einer Demonstration des Forums Afghanischer Migranten. Foto: Martin Gerner
Eine Frau protestiert in Köln diese Woche auf einer Demonstration des Forums Afghanischer Migranten. Foto: Martin Gerner

Ein Anschlag in Kabuls Botschaftsviertel und die Abschiebung eines jungen Afghanen in Nürnberg heizen die Debatte um die Abschiebungen nach Afghanistan als vermeintlich sicheres Herkunfstsland an.

Das nimmt etwas Druck von mir, diese Entscheidung“, sagt Ehsan vom Forum afghanischer Migranten in Köln. Sein Netzwerk demonstriert am Tag nach dem Anschlag in Kabul, der über 100 Tote und mehr als 500 Verletzte gefordert hat nach vorläufigen Bilanzen, vor dem Kölner Hauptbahnhof gegen Abschiebungen nach Afghanistan.

Die Meldung verbreitet sich rasch am Nachmittag, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Bundesländer vorerst von erzwungenen Abschiebungen (‚Rückführungen‘ im offiziellen Sprachgebrauch der Bundesregierung) absehen wollen. Die Regelung soll gelten, bis ein neuer Bericht des Auswärtigen Amtes vorliegt zur Frage, wie sicher Afghanistan ist.

Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) war aufgrund des verheerenden Anschlags in Kabul zwei Tage zuvor und angesichts des von der Detonation weitgehend zerstörten deutschen Botschaftsgebäudes in Kabul offenbar zur Einsicht gelangt, dass ein Zuwarten bis November nicht mehr vermittelbar ist.

Am gleichen Tag gingen auch Fernsehbilder der gewaltsamen Festnahme eines 20 Jahre alten Auszubildenden aus Afghanistan in Nürnberg viral. Die Bilder zeigen Polizeikräfte, die versuchen, den sich wehrenden Afghanen im Würgegriff abzuführen. Mitschüler und junge Aktivisten, die sich dagegenstellten, wurden ebenfalls Opfer der Gewalt. Es sind Bilder ungewohnter Roheit für deutsche Verhältnisse, wie Politiker quer durch die Parteien wenig später kritisierten. Der junge Afghane soll später mit Gewalt und Rache gedroht haben, kam vorübergehend in Haft, ist aber, nach Angaben des Bayerischen Flüchtlingsrats, inzwischen wieder frei.

All das ließ der Bundeskanzlerin am Ende wenig Wahl. Merkels Entscheidung, einer Neubewertung der Sicherheitslage am Hindukusch, ist ohne große Alternative. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte Stunden zuvor den Druck auf die Kanzlerin erhöht, indem er öffentlich einforderte, was Angela Merkel dann erklärte und damit nachzog: Aussetzen der Zwangs-Abschiebungen, mit Ausnahme von Straftätern und sogenannter „Gefährder“.

Es geht um nicht weniger als das Selbstbild der Kanzlerin (und Deutschlands) als Führungskraft mit humanem Antlitz. Dabei hatte es den Anschein, dass Merkel in den letzten Monaten das Heft des Handelns jenen in ihrer Partei überließ, die wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière harte Hand gegenüber Asylbewerbern und anhand von Abschiebungen nach Afghanistan beweisen wollten.

Ob die Bundesregierung allerdings einen Flug allein mit Straftätern und sogenannten „Gefährdern“ chartern wird in den nächsten Tagen, erscheint überaus fraglich. Die Diskussionen, die dies auslösen würde, dürften Merkel und ihrer Partei eher schaden.

Verschobene Wahrnehmungen

Aktuelle Zahlen zeigen übrigens, dass die deutliche Mehrheit der bisher abgeschobenen Afghanen nicht straffällig geworden ist. In Afghanistan, so ein FAZ-Bericht, hat dagegen die wiederholte Darstellung aus Deutschland, unter den Abgeschobenen seien zahlreiche Straftäter, unerwünschte Nebenwirkungen. Mehrere der abgeschobenen Asylbewerber beklagten sich demnach, sie seien nach ihrer Ankunft in Kabul unter Generalverdacht gestellt worden oder von der eigenen Familie oft fälschlich verdächtigt, in Deutschland eine Straftat begangen zu haben. „Das“, so der Bericht, „erhöhe das Stigma, das ohnehin mit der Abschiebung einhergeht.“ Das Misstrauen unter den Abgeschobenen sei so groß, dass einige sich sogar „gegenseitig verdächtigten, Straftäter zu sein.“

„Bis Juli“, heißt es jetzt, soll „Provinz für Provinz“ ein neues Lagebild über die Situation in Afghanistan erstellt werden. Wenngleich in der Sache zu begrüßen, setzt sich die Bundesregierung damit unter Zeitdruck. Denn viele Provinzen, in denen Aufständische aktiv sind, lassen sich wegen der bekannten Sicherheitsprobleme wie auch aufgrund fehlender Infrastruktur kaum binnen Monatsfrist zweifelsfrei und flächendeckend bereisen und analysieren. Auch verfügen Sicherheitsorganisationen und Geheimdienste erfahrungsgemäß nicht überall über ein engmaschiges Netz verlässlicher Informanten.

Im deutschen Wahlkampf wird derweil schärfer polarisiert. In Afghanistan gebe es sichere Provinzen so groß wie Bayern, Baden-Württemberg und Hessen zusammen, behauptet der Unions-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl. Belegt hat Uhl das nicht. Er gilt nicht als Experte für afghanische Verhältnisse, eher als Zuspitzer bei Fragen der inneren Sicherheit.

Bewohner stehen unter Schock

Viele Bewohner in Kabul stehen derweil unverändert unter Schock. Der Trauer sind seit Donnerstag eine Vielzahl an Demonstrationen und Versammlungen gefolgt, zum Teil unmittelbar um oder in Nähe des Anschlagsortes und zunehmend von Gewalt geprägt.

Weil Teile aus dem Lager der Regierung der nationalen Einheit auf den Straßen gegen die Regierung selbst protestieren, weitet sich der Anschlag so zu einer innenpolitischen Krise aus. Ein Teil der Proteste folgt bekannten politisch-taktischen Linien (und spielt dabei mit Menschenleben). Ein anderer Teil ist spontan und entspringt aus den in den letzten Jahren gewachsenen Organisationen der afghanischen Zivilgesellschaft. Fakt ist: Das Misstrauen vieler Menschen in Kabul und landesweit gegenüber der Regierung um Präsident Ashraf Ghani und ihren staatlichen Institutionen nimmt immer deutlichere Ausmaße an. Ein Kippen der Regierung ist zwar nicht unmittelbar in Sicht. Aber Gesprächsangebote und alle Ankündigungen der Regierung für mehr Sicherheit seit Mitte 2015, als die Taliban die Stadt Kunduz vorübergehend zurückeroberten und so eine politisch-psychlogische Schockwelle auslösten, haben sich für viele als Worthülsen erwiesen.

Auch drei Tage nach dem Anschlag kamen am Samstag in Kabul zahlreiche Menschen bei einer Trauerfeier ums Leben, als der Sohn eines Senats-Abgeordneten beerdigt wurde, der bei Protesten ums Leben kam. Am Tag davor fanden mindestens sieben Demonstranten bei Zusammenstössen mit der Polizei und Sicherheitskräften des Präsidentenpalastes den Tod. Aber auch Fotos von bewaffneten ‚Demonstranten‘ machten die Runde. Es könnten nicht die letzten Tage des Protestes sein.

Daneben hat sich in den vergangenen Tagen eine Welle sowohl spontaner ziviler Proteste wie auch politisch organisierter Aufmärsche ausgeweitet. Zunächst friedlich, mittlerweile aber auch zunehmend gewaltsam. Berichte sprechen seit Freitag von über einem Dutzend toter Demonstranten bei Zusammenstößen mit der Polizei und Sicherheitskräften des Präsidentenpalastes.

In Slogans wird der Rücktritt von Präsident Ghani und seiner Regierung der nationalen Einheit gefordert. Die Menschen wollen, dass Staat und Behörden die Bürger endlich effektiver schützen. Sie fordern außerdem, dass die mutmaßlichen Täter verurteilt und zur Strecke gebracht werden.

Die Regierung hat das Haqqani-Netzwerk in „direkter Kooperation mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI“ als Urheber ausgemacht. Das Haqqani-Netzwerk hat bereits früher größere Anschläge in Kabul verübt. Seine Kontakte zum ISI sind ein Resultat des Kampfes gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans von 1979-89. Der Chef des Haqqani-Netzwerks ist zugleich einer der beiden Stellvertreter von Taliban-Führer Mulla Achundsada.

Die Einwohner in Kabul, die ich sprechen konnte in den letzten Tagen, berichten, dass und wie der Anschlag von Mittwoch sich nachhaltig auf ihre Psyche und Sicherheitsbefinden auswirkt.

Enayat, ein junger Angestellter der Regierung, der unlängst seinen Master an einer englischen Universität absolviert hat, ist dem Anschlag knapp entkommen. „Ich war auf dem Weg zur Arbeit. Wäre ich fünf Minuten später am Tatort vorbeigekommen, wäre ich jetzt tot“, sagt er nachdenklich. „Ein roter, relativ neuer Tanklaster stand dort. Zur Trinkwasserversorgung, dachte ich. Später sah ich die TV-Bilder und verstand, dass es der Laster mit dem tödlichen Sprengstoff war.“

Enayat und seine Familie sind seit drei Tagen nicht mehr aus ihrem Haus gegangen. Höchstens abends, um Brot zu holen für das Fastenbrechen im Ramadan. Am Tag der Explosion habe er den ganzen Tag unter Schock gestanden „Drei, vier Sekunden lang dachte ich an ein Erdbeben. Dann kam die Druckwelle und fegte alles hinweg. Im Umkreis von einem Kilometer hat es Scheiben von Büros und Geschäften zerstört, Mobiliar flog durch die Gegend. Überall war Zerstörung“, erinnert sich Enayat. „Ich war wie betäubt. Rauch hat minutenlang den Himmel verdeckt. Apokalyptisch. Überall war Durcheinander. Woher kommt die Explosion? Was tun? Wen zuerst anrufen?“ Seine Schwester saß fast 10 Kilometer entfernt, im anderen Teil der Stadt, in der Schule. Selbst sie habe die Detonation gespürt, sagt sie ihm am Telefon.

Zwei von Enayats Kollegen haben nicht überlebt. Als er von ihrem Tod erfährt, macht er sich auf den Weg ins Emergency Hospital, das nächstgelegene Krankenhaus. Mit Kollegen bekundet er der Familie der Verstorbenen sein Beileid. Nachts findet er keinen Schlaf. Kann nicht vergessen. Er hat überlebt. Warum nicht die anderen? Die quälende Frage der Überlebenden im Angesicht der Opfer.

Eine zerstörte deutsche Botschaft

Derweil untersuchen deutsche Experten die zerstörte deutsche Botschaft in Kabul. Berichten zufolge sind die Schäden so groß, dass eine Sanierung wohl nicht in Frage kommt. Von einem Neubau ist die Rede. Das könnte Jahre dauern. Wenn es für deutsche Diplomaten in Afghanistan keine Sicherheit gibt, trotz massiver Schutzvorkehrungen, wie, so fragt sich, können Afghanen ohne Schutz Sicherheit finden?
Das Sicherheits-Konzept für Diplomaten und Hilfsorganisationen am Hindukusch wird nun einmal mehr überdacht werden. Aber was, wenn am Ende erneut höhere Mauern stehen, und noch mehr Abschottung gegenüber der afghanischen Zivilbevölkerung und ihrem Alltag, den positiv zu beeinflussen man vorgibt und angetreten ist? Diese Negativ-Spirale erschien in den letzten Jahren kaum noch steigerbar. Womöglich ist sie es doch.

So hat die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ, offenbar fast alle ihre Beschäftigten aus Afghanistan abgezogen. Nur rund zehn von etwa 100 internationalen Mitarbeitern bleiben im Land. Der Rest wurde nach Dubai ausgeflogen. Die rund 1.400 afghanischen GIZ-Beschäftigten bleiben derweil im Land, wo sie eine Zielscheibe für terroristische Gruppen bleiben.
Die Diplomatie nimmt jedenfalls, ob sie will oder nicht, in solchen Momenten eine Zwangspause. Das lässt sich unter anderem daran erkennen, dass von US-amerikanischer Seite von einer erneuten Truppen-Verstärkung die Rede ist. Nach derzeitigem Stand und unter den bisher bekannten Vorzeichen würde diese allerdings vor allem Gefahr laufen, die Fehler der vergangenen Jahre zu wiederholen.

Soldaten in Kabul nach der Explosion in der Grünen Zone. Die USA denken darüber nach, ihre Präsenz in Afghanistan wieder zu verstärken. (U.S. Navy photo by Lt. j.g. Egdanis Torres Sierra, public domain) Soldaten in Kabul nach der Explosion in der Grünen Zone. Die USA denken darüber nach, ihre Präsenz in Afghanistan wieder zu verstärken. (U.S. Navy photo by Lt. j.g. Egdanis Torres Sierra, public domain)

 

Am Anschlagsort, wo der Sprengstoff zunächst einen mehrere Meter tiefen Krater gerissen hatte, war die Straße am Freitag wieder repariert, berichten Anwohner. Aber die Gesichter der Menschen, die vorübergehen am Tatort, tragen unverändert Spuren der Angst.

Glas- und Fensterscheiben-Lieferanten sind jetzt gefragt. „Sogar gepanzerte Gläser in Bank-Filialen einen halben Kilometer entfernt hat es in Mitleidenschaft gezogen. Wir sind umgehend in unseren Sicherheitsbunker, als wir die Detonation gehört haben“, so der langjährige Angestellte einer deutsch-afghanischen Hilfsorganisation. In Sharak Aria, einem Viertel Kabuls außerhalb des Zentrums bebten Lehmbauten und Holzhütten durch die Erschütterungen. „Meine  Frau und Kinder fürchten sich bislang, auf die Straße zu gehen. Es wird immer schlimmer. Deutschland sollte das alles bedenken und von Abschiebungen hierher absehen“, sagt er.

Der erneute Anschlag in Kabul kommt nicht überraschend. Er zeigt auch, dass Leidtragender erneut vor allem die Zivilbevölkerung ist. Und dass es keinen Sinn macht, die Opfer nach Diplomaten und staatlichen Beamten einerseits und der übrigen Bevölkerung andererseits zu trennen, wie Bundesinnenminister de Maizière dies unlängst getan hatte.

Die deutsche Regierung kommt auch in Folge der Affäre um den radikalisierten Bundeswehroffizier Marco A. immer mehr unter Druck, der sich lange als syrischer Flüchtling ausgegeben hatte. So musste de Mazière gravierendere Mängel und Fehler des BAMF bei der Annahme, Beurteilung und der finalen Entscheidung von Asylanträgen, darunter vieler Afghanen, eingestehen. Inzwischen ist die Überprüfung und Korrektur mehrerer tausend Fälle und Bescheide aus den letzten beiden Jahren angekündigt.Ergebnis auch des Protestes von Amnesty International, Pro Asyl und zahlreicher Verbände, die systematischen Mängel kritisiert hatten. Angesichts der lange Zeit defensiven Haltung vieler Verantwortlicher in Regierung und Behörden kommt dies einem Offenbarungseid gleich.

Zurück nach Köln. Auf der Demonstration vor dem Hauptbahnhof am Donnerstag wendet sich Massoud, ein Musiker, der seit 2016 in Deutschland und inzwischen anerkannt ist, an die rund 100 deutschen Zuschauer: „Viele afghanische Asylbewerber werden bei der Anhörung gefragt, warum sie nicht in ihrer Heimat in einen sichereren Landesteil ausgewichen sind. Spätestens mit dem Anschlag von Kabul jetzt ist klar, dass sichere Gebiete in Afghanistan nicht existieren.“ Er erwarte, dass Bundesregierung und die übrigen europäischen Regierungen Abschiebungen sofort einstellten. „Das ISAF-Militär und die NATO selbst sind für die Militarisierung Afghanistan, wie wir sie heute vorfinden, mitverantwortlich“.

Martin Gerner ist freier ARD-Korrespondent und Alsharq-Autor. Er berichtet regelmäßig aus Konflikt- und Krisengebieten, Nahen und Mittlerem Osten, der arabischen Welt und Afghanistan. Sein Dokumentarfilm „Generation Kunduz“ wurde international ausgezeichnet.