15.10.2018
Jüdisch, muslimisch, fremdgemacht
Illustration: Moshtari Hilal
Illustration: Moshtari Hilal

Der Sammelband „Fremdgemacht & Reorientiert – jüdisch-muslimische Verflechtungen“ will vorherrschende Erzählungen über jüdisch-muslimische Beziehungen aufbrechen, Wechselwirkungen von antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus aufzeigen und marginalisierten Perspektiven eine Stimme geben. Das gelingt. Ein bisschen mehr Reibung hätte dem Buch trotzdem gutgetan. Eine Rezension von Charlotte Wiemann.

Dies ist ein Beitrag unserer Alsharq-Reihe Re:zension. Seit Mai stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

„Fremdgemacht & Reorientiert – jüdisch-muslimische Verflechtungen“ handelt von einer Dreiecksbeziehung: „der Jude, der Araber und Europa“. Beziehungsstatus: Kompliziert. Das Verhältnis von Jüdinnen*Juden und Muslim*innen sei ein sensibles Feld, warnt so auch Dr. Yasemin Shooman, Historikerin und Leiterin der Akademieprogramme des jüdischen Museums Berlin, bereits auf der ersten Seite des Vorwortes. Jüdinnen*Juden in Deutschland äußerten sich derzeit besorgt über den vermehrt von ihnen wahrgenommenen muslimischen Antisemitismus. Gleichzeitig könne ein Anti-Antisemitismus von rechts beobachtet werden, der bisweilen von Jüdinnen*Juden mit antimuslimischen Ressentiments unterstützt werde. Dennoch, so die These Shoomans und des gesamten Buches, vereine die jüdische und muslimische Minderheit in Deutschland mehr, als das sie trenne. Der derzeitige Rechtsruck in Europa stelle beide in Frage. Vor diesem Hintergrund gelte es, die jüdisch-muslimischen Beziehungen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu stärken.

Die Stärkung emanzipatorischer Perspektiven ist so auch das explizite Ziel der Herausgeber Ozan Zakariya Keskinkılıç und Ármin Langer. Ihr Sammelband soll „,abendländische’ Erzählungen herausfordern und Grenzen irritieren“. Die wohl prominenteste Erzählung, mit der aufgeräumt werden soll: die Mär vom „christlich-jüdischen Abendland“ im Konflikt mit dem „muslimischen Morgenland“. Um dieses und weitere Narrative aufzubrechen, sollten Jüdinnen*Juden und Muslim*innen sich „Gehör verschaffen und miteinander solidarisch sein“. Die Herausgeber fordern dazu auf, Handlungsstrategien und Gegen-Erzählungen zu entwickeln – um letztlich marginalisierende Strukturen der europäischen Mehrheitsgesellschaft herauszufordern.

Zur Untermauerung dieser Forderungen geben Keskinkılıç und Langer in ihrem Werk Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Künstler*innen eine Stimme. Wer eine Aneinanderreihung wissenschaftlicher Aufsätze erwartet, wird positiv überrascht: Neben entsprechenden Abhandlungen finden sich auch Interviews, Redebeiträge, Gedichte und eine Karikatur.

Komplizierte Dreiecksbeziehung

Inhaltlich machen sich die ersten Beiträge des Buches sogleich daran, die Beziehung von Jüdinnen*Juden und Muslim*innen zum „europäischen Dritten“ zu ergründen. Die Sozialpädagogin Iman Attia beschreibt beispielsweise die Wechselwirkungen zwischen Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus. Auch wenn es wichtig sei, die konkrete und spezifische Gewalt an einzelnen marginalisierten Bevölkerungsgruppen anzuerkennen, müsse ebenso ihre Beziehung zueinander und zu den ausgrenzenden Mehrheitsgesellschaften stärker erforscht werden. Ozan Zakariya Keskinkılıç konzentriert sich in seinem Beitrag auf Debatten über „No-Go-Areas“ für Jüdinnen*Juden in einigen Stadtteilen Berlins. Er legt in diesem Kontext dar, dass die nicht-muslimische Mehrheitsgesellschaft sich selbst vom Vorwurf des Antisemitismus befreie, indem sie sich auf muslimischen Antisemitismus fokussiere. Dieser würde als Charakter-Eigenschaft den „ewig Anderen“ zugeschrieben. 

Der zweite Teil des Buches widmet sich verstärkt den historischen Beziehungen von Jüdinnen*Juden und Muslim*innen. Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler und Publizist, beschreibt die Beziehungen beider Religionsgemeinschaften in Al-Andalus und macht anhand dieses Beispiels deutlich, dass gewissen judenfeindlichen Überlieferungen und gelegentlichen Gewalthandlungen zum Trotz die negative Auseinandersetzung mit dem Judentum nie ein Kernthema des islamischen Selbstverständnisses war. Für ein gelungenes Zusammenleben gelte derweil für alle monotheistischen Religionen, sich auf die universalistischen Züge ihrer Glaubensgrundlagen zu orientieren. Die Beiträge von Ármin Langer und Patrick Brooks widmen sich der theologischen Haltbarkeit von muslimischem Antisemitismus und jüdischem antimuslimischem Rassismus durch eine Auswertung der jeweiligen religiösen Quellen. Während Brooks eher defensiv argumentiert und die Uneindeutigkeit antisemitischer Äußerungen in Koran, Hadithen und Sira betont, ist Langers Fazit eindeutig: „Das traditionelle Judentum hat (...) ein durchaus positives Bild vom Islam. (...) Tatsächlich ist der Islam die einzige Religion neben dem Judentum, deren observanten Anhänger*innen nach der normativ-jüdischen Auffassung ein Anteil an der kommenden Welt garantiert ist.“

Im dritten Teil des Buches werden die Alltagserfahrungen von Muslim*innen und Jüdinnen*Juden dargestellt, die versuchen, vorherrschende Narrative aufzubrechen. Jo Frank, Geschäftsführer des jüdisches Bildungswerkes ELES und Hakan Tosuner, in gleicher Position beim muslimischen Avicenna-Studienwerk tätig, erklären, wie sie mit Kooperationsprojekten versuchen, Vorurteile abzubauen. Shlomit Tulgan berichtet in kurzweiligen Sequenzen von skurrilen Begegnungen mit Menschen, die ihre Herkunft als türkische Jüdin maximal zu überfordern scheint. Und der Autor Shai Hoffmann und die Satirikerin İdil Baydar sprechen im Interview mit der Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus über Humor als Mittel im Dialog und dessen Grenzen.

Raum für nicht-gehörte Stimmen

„Fremdgemacht & Reorientiert“ hält, was es verspricht: Es zeigt vielfältige Verflechtungen der jüdischen und muslimischen Minderheit in Deutschland in Beziehung zu der oftmals ignoranten Mehrheitsgesellschaft auf. Türkische Jüdin? Irakischer Jude? Wie geht denn das? Das Buch gibt Menschen eine Stimme, die in Diskurse über „den Islam“ und „das Judentum“ nicht hineinpassen, weil sie z.B. keinen aschkenasischen Familienhintergrund mit Holocaust-Erfahrung haben und schlicht nicht dazu passen, was sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft unter einer „jüdischen Familiengeschichte“ vorstellen mag. Das ist eine klare Stärke des Buches. Auch wird durch die Vielzahl persönlicher Schilderungen wieder einmal deutlich, dass Minderheiten in ihren Erfahrungen mit der stigmatisierenden Mehrheitsgesellschaft mehr eint als trennt – eine Feststellung, die angesichts derzeit laufender Debatten anscheinend immer wieder betont werden muss.

Ein Wehmutstropfen bleibt, dass das Buch trotz gelegentlicher stilistischer „Auflockerungen“ kaum ein breiteres Publikum erreichen dürfte – zu tief stecken die meisten Autor*innen in postkolonialen, antirassistischen Diskursen, die nicht jeder*jedem Leser*in geläufig sein dürften. Das ist schade, weil natürlich die Mehrheitsgesellschaft der Ort ist, an den sich das Buch eigentlich richten sollte.

In diesem Sinne hätte „Fremdgemacht & Reorientiert“ auch ein bisschen mehr innere Streitkultur gutgetan. Dass dies nicht das Anliegen eines Buches ist, das bisher ungehörte Perspektiven stärken will, ist klar. Dennoch hätte das Werk sich so vielleicht stärker von Thesen emanzipiert, die, obwohl nicht das eigentliche Thema des Buches, nach dem Lesen doch sehr präsent zurückbleiben und einen unangenehmen Beigeschmack hinterlassen: Die israelische Regierung ist böse, Antizionismus ist kein Antisemitismus und muslimischer Antisemitismus ist zu vernachlässigen, da die meisten Übergriffe gegen Jüdinnen*Juden von rechts erfolgen. Dadurch, dass diese Themen am Rand diverser Beiträge aufgegriffen, aber nicht weiter (und vor allem nicht kontroverser) debattiert werden, entsteht hier unweigerlich der Eindruck einer bestimmten allgemeingültigen Grundhaltung, ganz nach dem Motto: „da sind wir uns ja einig“. Diese Positionierung stärkt die Kernargumente der einzelnen Autor*innen, die ja eigentlich andere sind, nicht. Und Menschen, deren Haltungen insbesondere in Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt anderswo verortet sind, dürfte ein solches Narrativ nicht gerade zur Auseinandersetzung mit den Thesen der Autor*innen bewegen.

Wer über diese Positionierung hinwegsieht und Lust hat, persönliche Erfahrungen und wissenschaftliche Einschätzungen zur Dreiecksbeziehung „Jude-Araber-Europa“ genauer zu ergründen, der*dem sei die Lektüre von „Fremdgemacht & Reorientiert“ ans Herz gelegt. Das Buch regt an, die aufgezeigten Perspektiven in die breitere Öffentlichkeit zu tragen und dort zu diskutieren.

 

Ozan Zakariya Keskinkılıç und Ármin Langer (Hg.): Fremdgemacht & Reorientiert – jüdisch-muslimische Verflechtungen. Berlin, Verlag Yilmaz-Günay, 292 Seiten. 18 €.

Charlie hat 2017 das erste Mal für das Magazin geschrieben und ist seit Anfang 2018 fest dabei. In ihrem Studium der Politik- und Nahoststudien hat sie sich schwerpunktmäßig mit der Innen- und Siedlungspolitik Israels befasst. Bei dis:orient schreibt und redigiert sie und ist Teil des Rezensionsteams.
Redigiert von Brandie Podlech