Als Rivka ihre Führerscheinprüfung machte, wurde sie fristlos entlassen, weil Frauen in der ultraorthodoxen Welt nicht Autofahren sollen. In den israelischen Parlamentswahlen setzte sie sich für Frauenrechte ein.
Vielen Israelis sind die Ultraorthodoxen ein Dorn im Auge. Die strengsten der gläubigen Juden machen etwa 800.000 Menschen aus, zirka 10 Prozent der israelischen Bevölkerung. Meist verweigern die Männer den obligatorischen Militärdienst und widmen ihr Leben nur dem Thora-Studium, während die Frauen Geld verdienen; gleichzeitig haben Frauen aber so gut wie keine gesellschaftlichen Rechte.
Seit einigen Jahren beginnen die alten Strukturen langsam zu bröckeln. Immer mehr Frauen verlangen politisches Mitspracherecht und erheben ihre Stimme gegen diejenigen Männer, die sie am liebsten hinten im Bus oder auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehen wollen. 2015 trat mit Ruth Kolian erstmals eine Frau als Parteivorsitzende einer ultraorthodoxen Frauenpartei an. Nach zahlreichen Drohungen und Hasstiraden aus den ultraorthodoxen Reihen erhielt sie schließlich nur 0,04 Prozent der Wählerstimmen und verpasste den Einzug in die Knesset, das israelische Parlament.
Der Wahlkampf für die Wahlen 2019 wird dafür umso erbitterter geführt. Wir haben bei einer ultraorthodoxen Aktivistin nachgefragt, wie die Chancen für eine politische Revolution von ultraorthodoxen Feministinnen stehen. Rivka* ist siebenfache Mutter, verhandelt in ihrer Freizeit aber mit Parlamentsmitgliedern in der Knesset über Frauenthemen.
Für unser Interview treffen wir uns in einem Café in einer religiösen Gegend Ostjerusalems, die nach internationalem Recht als illegale Siedlung gilt. Gemäß den Regeln im ultraorthodoxen Judentum tragen Frauen hier entweder Perücke oder Kopfbedeckung; das Menü ist streng koscher. Auch Rivka trägt eine Perücke. Bei meinem Anblick begrüßt sie mich mit einer Umarmung, meinem männlichen Kollegen verweigert sie den Händedruck – Berührungen mit dem anderen Geschlecht seien nicht erlaubt, erklärt sie.
Alsharq: Im israelischen Parlament sind drei ultraorthodoxe Parteien vertreten. Bisher durfte keine einzige Frau Mitglied einer ultraorthodoxen Partei werden, die männlichen Anführer haben das verhindert. Wie bewertest du die aktuelle politische Lage für ultraorthodoxe Frauen?
Rivka: Ich bin Feministin und setze mich für Rechte von Menschen mit Behinderungen ein, da ich selbst in meiner Familie davon betroffen bin. Wir haben eine Lobbyvereinigung von ultraorthodoxen Frauen gegründet, die sich spezifisch für Interessen von Frauen stark macht und der Ball ist in den letzten Jahren wirklich ins Rollen gekommen. Ich bin überzeugt davon, dass bei den Wahlen 2019 eine Frau ins Parlament gewählt werden wird. Wir waren noch nie so nahe dran.
Wie ist der Ball ins Rollen gekommen?
Vor den Parlamentswahlen 2012 hat die ultraorthodoxe Journalistin Esti Shoshan die Bewegung Lo nivherot, lo bohrot (Deutsch: "Wer nicht gewählt wird, wählt auch nicht") gegründet. Das ist eine Kampagne, die unsere Frauen dazu auffordert, nicht unhinterfragt ultraorthodoxen Männern im Parlament ihre Stimme zu geben. Diese Kampagne hat sehr viel Lärm gemacht.
Die meisten Frauen wählen wie selbstverständlich, was ihnen von ihrem Mann aufgetragen wird. Der wiederum tut, was sein Rabbiner sagt. Diese Männer sind es, die uns unsere politische Kraft rauben, die mehr Schaden anrichten als Gutes tun für uns Frauen.
Es ist paradox, dass ich mich in der Knesset von niemandem aus den ultraorthodoxen Reihen repräsentiert fühle. Dort sitzen nur Männer, die ihre eigenen Interessen vorantreiben und weibliche Anliegen ignorieren. Mir stehen die Frauen in der Arbeiterpartei viel näher, da gibt es gute Leute, die sich für meine Interessen politisch einsetzen. Sie empfangen uns in der Knesset und freuen sich, wenn wir unsere Anliegen äußern.
Wie stehst du zu zionistischen Nationalreligiösen im Parlament, sind die dir politisch nicht näher als die linke Arbeiterpartei?
Innerhalb der national-religiösen Partei herrscht hoher Fraktionszwang. Als Politiker kann man dort nicht wirklich seine Meinung äußern, sondern richtet sich immer nach der Parteispitze, also Naftali Bennett. So etwas kommt für mich nicht in Frage. Politiker wie er, die eine kompromisslose Siedlungspolitik betreiben, zerstören unser Land. Traditionell sind ultraorthodoxe Juden nicht zionistisch eingestellt. Wir feiern auch nicht den israelischen Unabhängigkeitstag, genauso wenig wie die arabische Bevölkerung im Land.
Es gibt viele Elemente, die uns mit den Arabern in Israel verbinden. Wir sind beides Minderheiten in einer säkularen Gesellschaft und leben in einer patriarchalischen Gemeinschaftsstruktur. Als ich vor einigen Jahren einen Kurs in Tel Aviv absolvierte, wurde eine arabische Frau zu meiner besten Freundin. Wir haben festgestellt, dass es viele Parallelen zwischen der arabischen und der ultraorthodoxen Welt in Israel gibt. Mit der säkularen Welt verbindet uns weniger.
"Säkulare Menschen sehen uns als Außerirdische."
Was unterscheidet die ultraorthodoxe Welt von der säkularen?
Die meisten säkularen Menschen sehen uns als Außerirdische und auch in unserer Gemeinschaft wird oft abfällig über Säkulare gesprochen. Viele Außenstehende denken, Frauen bei uns sind eingesperrt und haben keine Rechte. Oder dass wir unsere Kinder nicht wirklich lieben können, weil wir so viele haben. Andersrum ist es ähnlich. Meine Tochter sagte neulich: "Die säkularen Menschen mögen keine Kinder, denn sie haben ja nur eins oder zwei." Aber in Wahrheit lebt man einfach in unterschiedlichen Realitäten und es gibt sehr wenige Menschen, die Brücken zwischen diesen Welten bauen.
Die ultraorthodoxe Welt ist sehr im Wandel, sie ist viel dynamischer und vielschichtiger als man von außen ahnt. Vor 10 Jahren gab es in unserer Gegend kaum Frauen am Steuer. Heute sind es beinahe mehr Frauen als Männer. Ich bin wahnsinnig glücklich über diese Veränderungen. Aber gleichzeitig wurde ich an dem Tag, an dem ich meine Führerscheinprüfung gemacht habe, von meiner Lehrtätigkeit entlassen – man wollte keine Lehrerin, die Auto fährt. Das war gesetzeswidrig, aber das ist irrelevant. Bei uns gelten andere Gesetze. Die Situation ist also ambivalent. Im Haus haben sowieso Frauen das Sagen. Mein Mann ist der größte Feminist, er kocht auch viel besser als ich. Er hält mir immer den Rücken frei und unterstützt mich in allem; Hauptsache, ich bin glücklich.
Wie habt ihr zueinander gefunden?
In der ultraorthodoxen Gesellschaft wird man verkuppelt: Als ich 20 war, haben wir geheiratet. Zuvor waren wir uns einmal flüchtig begegnet, aber nicht alleine. Die Heirat war für uns beide ein Glückstreffer, deshalb unterstütze ich auch diese Tradition des Verkuppeltwerdens. Dass ein Junge und ein Mädchen sich vor der Hochzeit alleine treffen, das kommt sehr selten vor, nur bei bestimmten Gruppierungen. Meistens äußern beide Seiten ihre Wünsche und dann sprechen sich die Familien ab.
Meine Tochter ist jetzt 20. Aussehen spielt für sie keine Rolle. Sie möchte jemanden heiraten, der nicht arbeitet und der sich stattdessen in der Yeshiva dem Talmud-Studium widmet und Gott nahe ist. Wenn Männer arbeiten statt zu beten, werden als zweitklassig gewertet. Das wird ihnen in der Schule so beigebracht. Ich habe versucht, ihr das auszureden, sie ein bisschen zu mäßigen. Mein Mann arbeitet ja auch, anders könnten wir nicht für unseren Unterhalt aufkommen, denn ich kann nicht so viel arbeiten.
Aber wir werden schon merkwürdig angeschaut, weil wir zwei Autos besitzen. Ich habe 15 Geschwister und von meinen Geschwistern hat beinahe niemand auch nur ein Auto. Dass wir für ultraorthodoxe Verhältnisse so liberal sind, hat auch direkte Konsequenzen für unsere Kinder: Wir werden viel mehr Mitgift geben müssen als Ausgleich, wenn unsere Tochter heiratet.
"Früher haben wir in einer rein ultraorthodoxen Gegend gewohnt, aber dann wurde es uns zu anstrengend, immer beobachtet zu werden."
Findest du das in Ordnung?
Gottes Existenz ist für mich die einzige Tatsache auf dieser Welt. Ich glaube an Gott und definiere mich als ultraorthodoxe Jüdin. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, oft werden hier Gottes Gebote und kulturelle Interpretationen vermischt und das gefällt mir nicht. Ich versuche, das auseinanderzuhalten, aber natürlich ecke ich damit an, nicht alle wollen das. Zum Beispiel habe ich ein koscheres und ein nicht-koscheres Telefon: Das koschere hat eine bestimmte Vorwahl, mit der man erkennt, dass ich zur ultraorthodoxen Gemeinschaft gehöre. Das ist ganz simpel, man kann damit also keine sogenannten unkoscheren Sachen machen: Keine Kamera, kein Internet, kein WhatsApp.
Dieses Telefon benutze ich, um innerhalb unserer Welt zu kommunizieren, zum Beispiel wenn ich die Lehrerin meiner Kinder anrufe. Aber das Smartphone, das ist mein Zugang zur Außenwelt, damit stehe ich mit meinen Freundinnen in Tel Aviv in Verbindung, oder gehe meinen politischen Aktivitäten nach. Lustigerweise habe ich das System ausgetrickst und jetzt auch WhatsApp auf dem koscheren Telefon installiert, heimlich. Wenn wir eine passende Partie für meine Tochter suchen, darf natürlich niemand von diesem Smartphone etwas wissen, sonst wird das problematisch.
Kann man so etwas verheimlichen?
Früher haben wir in einer rein ultraorthodoxen Gegend gewohnt, aber dann wurde es uns zu anstrengend, immer beobachtet zu werden. Wir wollten mehr Privatsphäre und sind in ein gemischtes Viertel gezogen. In unserem Wohnhaus sind die Hälfte der Familien Ultraorthodoxe wie wir, die andere Hälfte nicht. Bevor wir eingezogen sind, hatten diese zwei Welten keinen Kontakt zueinander. Mir war wichtig, das zu ändern, Verbindungen zu schaffen.
Im Grunde sind wir ja auch eine Familie wie jede andere. Nur dass wir eben nicht auswärts essen gehen, denn wie soll man sich so etwas mit sieben Kindern leisten? Oder dass wir keine Kinos haben, sondern manchmal Filmvorstellungen auf einer Leinwand unter freiem Himmel mit Filmen, die für unsere Gesellschaft geeignet sind. Wir verlassen Israel auch nicht und fliegen nicht ins Ausland. Das ist ein Prinzip – die wenigsten ultraorthodoxen Familien tun das. Unser Leben ist also etwas anders als das von anderen Familien, aber irgendwie auch sehr ähnlich.
* Name von der Redaktion geändert.
Marina Klimchuk wurde in der Ukraine geboren und kam als Kind jüdischer Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Nach ihrem Soziologiestudium in München zog sie nach Tel Aviv, wo sie multi-narrative Bildungsreisen nach Israel und Palästina organisiert.
Dieser Text erschien zuerst bei VICE.