30.11.2018
Ich bin kein Kanake, und du wahrscheinlich auch nicht

Kolumnistin Moshtari Hilal ist dem Begriff ‘Kanake’ auf den Grund gegangen. Das eigentliche Volk der ‘Kanaken’ kämpft bis heute für seine Unabhängigkeit von Frankreich. Dennoch bezeichnen sich vielen Menschen in Deutschland als „Kanaken“ – das ist ein Problem.

Dieser Text ist Teil der Alsharq-Kolumne „Des:orientierungen“. Alle Texte der Kolumne findet ihr hier.

Kanake und Alman sind zwei Begriffe, in die die deutsche Gesellschaft gerne eingeteilt wird. Seit den 60ern gilt Kanake im allgemeinen Sprachgebrauch als rassistisches Hasswort für dunkelhaarige Migrant*innen und in den 90ern wurde es zur ironischen bzw. widerständigen Eigenbezeichnung der Betroffenen.

Heute nennen sich viele dunkelhaarige Migrant*innen in Deutschland gegenseitig Kanake, aber verbieten den Almans den Begriff zu verwenden, weil er aus ihrem Mund herabwürdigend und diskriminierend gemeint ist.

Das Kanakentum wurde somit zur Protestkultur gegen Almanisierung, gegen Assimilierung in eine homogene Einheitskultur. Diese Begriffsgeschichte war mir bekannt, als ich vor Kurzem in der Bibliothek an einem Buch vorbei lief, das „The Awakening of the Kanaks” hieß.

Spontan griff ich nach dem Buch und erwartete eine Studie zur Einwanderungsgesellschaft in Deutschland. Aber die Monographie handelte von der Widerstandsbewegung in Neukaledonien. Warum hatte ich vorher noch nie etwas von einer echten Volksgruppe gehört, die sich Kanaken nennt?

Wem gehört also der Begriff? Kennen alle die eigentliche Bedeutung von Kanake und spielt das eine Rolle? Inwiefern können Begriffe eine neue und reale semantische Bedeutung unabhängig von ihrem Ursprungskontext erlangen? Noch ist es kein historisch abgeschlossener Diskurs, im Gegenteil, der Gebrauch von Kanake als deutsche Eigenbezeichnung ist noch jung.

Wenn die Aneignung von Kanake die erste politische Intervention der Betroffenen in den deutschen Sprachgebrauch war, dann versteht sich dieser Text als Anstoß zur zweiten Intervention, die zu einer Debatte führen kann, um einige dieser Fragen zu diskutieren.

Wer sind Kanaken?

Laut Wikipedia ist Kanake ein deutsches Schimpfwort für „Menschen mit vermeintlich südländischem Aussehen” entlehnt aus dem poylnesischen „kanaka” für Mensch bzw. der Eigenbezeichnung der indigenen Bevölkerung Neukaledoniens. Im 19. Jahrhundert soll der Begriff ursprünglich unter deutschen Seeleuten im Gebrauch gewesen sein, für die Bezeichnung ihrer Kameraden aus Polynesien oder Ozeanien.

Doch Matthias Heine widerlegt in seinem Buch zum Ursprung deutscher Begriffe diese weitverbreitete Annahme. Stattdessen haben die Briten das hawaiianische Wort für Mensch –Kanaka – für die Arbeiter verwendet, die von den Pazifikinseln unter falschen Vorwänden in prekäre Arbeitsverträge angeworben oder sogar zwangsverschleppt wurden. Diese Praxis wurde „blackbirding” genannt und wurde auch in den deutschen Kolonien im Pazifik ausgeübt, womit Kanaka Teil des Kolonialjargons im Kaiserreich wurde, so auch dokumentiert im „Deutschen Koloniallexikon” von 1920.

Wenngleich ihn später Seeleute verwendeten, hatte der deutsche Gebrauch seinen Ursprung in einer rassistischen Kolonialpraxis für die Anwerbung von prekären Gastarbeitern, einer abgewandelten Form des Sklavenhandels.

Im Laufe der Geschichte, so Heine, wurde er in den beiden Weltkriegen auch zeitweise als Schimpfwort für gegnerische Soldaten gebraucht, aber grundsätzlich sei Kanake beleidigend gemeint für Ausländer als einfältige oder weltfremde Menschen. Um die 1960er-Jahre herum wird Kanake synonym für Einwander*innen und Gastarbeiter*innen aus Südeuropa und vor allem der Türkei. Schließlich wurde er erweitert auf alle, die so aussahen als ob sie aus dem globalen Süden kommen: Menschen mit türkischer, persischer, arabischer, kurdischer, südosteuropäischer Abstammung und so weiter.

Kaum einer erinnert seinen Ursprung in der hawaiianischen Sprache für Mensch. Man könnte sogar meinen, dass Kanake wie wir es heute verwenden und verstehen, die deutsche Kolonialgeschichte leugnet, die rassistische Diskriminierung prekärer Arbeitskraft auf die südeuropäischen Einwander*innen beschränkt. Dabei ist diese Tradition weitaus älter.

Die Kanaken in Neukaledonien

Atai, der Anführer der Kanaken-Widerstandsbewegung von 1878, hat gegen den Landraub französischer Siedler gekämpft und wurde ermordet. Noch bis September 2014 gehörte sein Schädel als Trophäe zur Reliquien-Sammlung im Pariser Naturkundemuseum, bis man ihn Neukaledonien übergab.

Deutschland hat gegenwärtig mit der Übergabe der aus den Kolonialverbrechen in Deutsch-Westafrika Herero-Gebeine ähnliche Schlagzeilen gemacht (Alsharq berichete), während die juristisch wirksame Anerkennung des Völkermords noch aussteht. In diesem Zusammenhang europäischer Kolonialgeschichte steht auch das am 4. November 2018 abgehaltene Unabhängigkeitsreferendum der Kanaken in Neukaledonien.

Das Referendum im französischen Überseegebiet ist knapp gescheitert und damit ein Zeugnis für den anhaltenden Kampf der Kanaken um Souveränität. Doch kaum einer, der heute als Kanake in Deutschland beschimpft wird, weiß von dem historischen Zusammenhang seiner Diskriminierung und seiner gleichzeitigen Aktualität im Leid des Volk der Kanaken. 

Die Kanaken haben nämlich nicht nur Anfang November formal versucht ihre Unabhängigkeit von Frankreich zu erhalten, sondern bereits im 20.Jahrhundert einen antikolonialen Widerstand angeführt. Allerdings wurden sie durch die organisierte Einwanderung von Franzosen mit Hilfe der Kolonialverwaltung marginalisiert und in der eigenen Heimat in die Minderheit verdrängt.

Bis heute sind die Kanaken gegenüber den französischen Siedler*innen stark diskriminiert. Neben der französischen Vereinnahmung ihrer politischen Souveränität, gilt Französisch statt ihrer eigenen Sprachen als Amtssprache und dominiert das Bildungssystem, womit die Kanak-Sprachen kulturell gefährdet sind. Da klingt im Vergleich die Erfindung einer Kunstsprache als Kanak-Sprak fast schon ungewollt morbide, aber dazu kommen wir später.

Wer darf das K-Wort verwenden?

In dem neuen deutschen Talkshow Format BlackRockTalk auf Youtube werden Themen und Gästen Raum geboten, die sonst im deutschen Mainstream entweder nicht vorhanden sind oder als „das Andere” problematisiert werden. Die vierte Episode der Show diskutiert die Verwendung des N-Worts, des Z-Worts und des K-Worts innerhalb und außerhalb des Sprachgebrauchs betroffener Menschen.

Das N-Wort, zum Beispiel, steht im Zusammenhang mit der Entführung von Menschen aus Afrika durch den transatlantischen Sklavenhandel und der Segregation in den USA. Mittlerweile wird das N-Wort vor allem innerhalb der afroamerikanischen  Bevölkerung als Selbstbezeichnung verwendet, unter anderem im HipHop, doch andere lehnen das Wort in jeglicher Form ab.

Im Laufe der Sendung fragt die Moderatorin Esra Karakaya ihre Gäste, ob sie selbstironisch einen eigentlich abwertenden Begriff verwenden würden. Man könnte sagen, dass sie zu dem Fazit gelangen, dass es auch unter den Betroffenen eine Rolle spielt, wie diese Worte verwendet werden. Ihre Wiederholung geht mit der Verantwortung einher, dass man sie am Leben hält und in die Welt hinaus sendet.

Ich denke, dass der Gedanke der Verantwortung besonders interessant ist, weil dabei nicht nur die Intention oder das Publikum ausschlaggebend sind, sondern auch die Begriffsgeschichte. Welche Geschichte schreibe ich fort, welche breche ich und welche überschatte ich? Im Gegensatz zum N-Wort, hat das K-Wort ein ursprüngliches Äquivalent, dass bis heute eine andere politische Bedeutung hat, von der wir jedes Mal ablenken, wenn wir Kanake ironisch meinen.

Wer sind die deutschen Kanaken?

Ein weiteres Beispiel von popkultureller Selbstaneignung ist der Song Kanack” von Haftbefehl und Xatar.

Das Ende der 90er gegründtete und inzwischen nicht mehr aktive deutsche Kollektiv Kanak Attak setzte sich gegen die „Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen” ein. Das Projekt, das im Rahmen eines Festivals entstand, nahm sich vor die deutsche Politik und den Rassismus innerhalb der Einwanderungsgesellschaft aus der Sicht eines „Migranten oder Kanaken” zu kommentieren.

Laut ihrer Website agieren sie dort, „wo rassistische Hierarchien zur Norm erklärt werden.” Weiter lehnten sie den Versuch ab „Migranten anzuglotzen, zu vermessen und in Kategorien zu pressen”. Stattdessen solle der „Blick auf Alemannen, die es für selbstverständlich halten, andere zu prüfen” gerichtet werden.

Im Jahre 2001 berichtete der taz-Redakteur Daniel Bax davon, wie die Volksbühne in Berlin von Kanak Attack bespielt wurde mit u.a. einem Referat zu “Kanak Chic in der Berliner Republik” von Mark Terkessidis oder der Performance “Kanak History Revue” und der finalen Aufforderung “Ausländer in Deutschland, wehrt euch endlich”.

Bax wunderte sich zurecht darüber, wen die Gruppe repräsentiert: “Gegen was sich Kanak Attack richtet, wurde mehr als deutlich. Für wen das Kollektiv spricht, weniger.” Zumal Bax der Meinung ist, dass das Kollektiv kaum Mitglieder hat, die man auf Anhieb mit dem Hasswort Kanake in Verbindung bringen würde. Obwohl Kanak Attack den Versuch einer aktivistischen Intervention in den Sprachgebrauch der Almans und in die strukturelle Ausgrenzung und Diskriminierung verkörperte, blieb unklar, wer die deutschen Kanaken sind.

Bax war empört über die Abwesenheit der authentischen Kanaken-Stimmen: „Ein bisschen Anmaßung ist schon dabei, wenn sich Medienarbeiter, denen bereits alle Kanäle offen stehen, nunmehr „Kanaken“ schimpfen, und damit eine Betroffenenperspektive für sich reklamieren, die sie selbst oft genug auch nur aus zweiter Hand kennen.” Aber welche Stimmen hat Bax erwartet, türkisch-stämmige Jungs aus Neukölln oder Kopftuch-tragende Hausfrauen aus Kiel? Wozu sollten sich diese unterschiedlichen Menschen unter einem Fremdwort vereinen?

Die gleichnamige Verfilmung mit abweichender Schreibweise Kanak Attack (2000) von Lars Becker geht auf einen Roman von Feridun Zaimoglu zurück, der zudem Autor von Kanak Sprak - 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995) ist. Zaimoglu entwickelte hier eine Kunstsprache, die das Duden-Deutsch der Mehrheitsbevölkerung mit türkischen und englischen Einschüben ergänzte.

Damit brachte Zaimoglu Kanake ausschließlich mit der türkisch-stämmigen Einwanderergesellschaft in Verbindung, dabei gibt es weitaus mehr Menschen, die mit dem K-Wort beschimpft werden. Aber die Definitionsmacht bzw. Repräsentation der Nachkommen türkischer Gastarbeiter*innen in Deutschland ist weitaus dominanter als die der anderen Migrant*innen. Somit wird Kanak in gewisser Weise synonym zum Geusenwort oder Trotzwort der Türken in Deutschland und Kanak Sprak zu Türkendeutsch.

Wort-Entfremdung nahtlos übernommen

Das Youtube-Format Germania, das deutsche Menschen mit Migrationshintergrund, in ästhetischen Video-Aufnahmen zu Wort kommen lässt, traf unter anderem Dr. Reyhan Sahin alias Lady Bitch Ray. Die Protagonistin stellt sich vor mit “Meine Eltern sind Kanaken. Genauso wie ich.” Ich habe mich daraufhin gefragt, ob ihre Eltern wirklich von sich selbst als Kanaken sprechen, weil ich diese Entwicklung – vom Schimpfwort zur Selbstbezeichnung – eher von der Generation danach kenne. Offensichtlich meint sie damit nicht, dass ihre Eltern aus Neukaledonien kommen.

An die Stelle von geografischer Herkunft, marginalisierter Kulturpraktiken oder sozio-ökonomischer Informationen wird einfach Kanake gesetzt, als leerer Signifikant. All das, was du glaubst, was Kanake bedeutet, kann eingefügt werden. All das, womit du mich und meine Eltern beschimpfen würdest, nehme ich vorweg und gewinne. Das sagt der Satz von Lady Bitch Ray aus, aber nicht viel mehr.

Dabei wäre es doch interessanter und produktiver, die Dinge beim Namen zu nennen, als auf eine Symbolik zu reduzieren. Kanake ist doch nicht gleich Kanake. Nur weil man als einer beschimpft wurde, teilt man nicht gleich dieselbe soziale Ausgrenzung, die jemand mit einem anderen ökonomischen Status, in der Staatenlosigkeit oder durch seine religiöse Identität erfährt.

Die deutsche Kanakisierung der Migrant*innen hat sich zu einem popkulturellen Stilmittel der aktivistischen Intervention weiterentwickelt, dabei aber die deutsche Wort-Entfremdung nahtlos übernommen. Das obwohl es andere Begriffe gibt, welche die koloniale, imperiale und kapitalistische Politik hinter der eigenen Diskriminierung viel deutlicher machen.

Warum nicht weiterhin Migrationsgeschichte benennen (“meine Familie hat eine Migrationsgeschichte”, statt “Meine Eltern sind Kanaken”), wenn es die Logik von Grenz- und Einwanderungspolitik ist, die weiterhin auf unsere Körper und Leben Gewalt ausübt. Die Beschimpfung als Kanake geht darauf zurück, dass entweder man selbst oder eigene Vorfahren als Eindringlinge, Ausländer und unwillkommene Grenzüberschreiter empfunden wurden.

Warum also den Akt der Migration nicht hervorheben, zum Trotz gegenüber der Logik von arischem Blut und Boden. Dafür brauchen wir das Wort Kanake nicht.

Wem gehört das Wort?

Mittlerweile bezeichnen sich sogar Fußballfans und weiße deutsche Rapper, die sich als sozial benachteiligt identifizieren, selbst als Kanake, wie in dem Neologismus “Ruhrpottkanake”. Die Entfremdung des Begriffs Kanake ist mit den Fans von Schalke 04 offiziell zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Warum also noch verwenden, was uns an erster Stelle sowieso nicht zusteht.

Nur weil die Almans den rassistischen Fehler begangen haben, uns alle über einen Kamm zu scheren, müssen wir ihre Tradition nicht weiterführen. Es gibt Kanaken, sie wurden von den Franzosen kolonisiert und sie haben erst kürzlich ein Unabhängigkeitsreferendum abgehalten.

Das sind meiner Meinung nach genug Gründe, die beweisen, dass das Volk der Kanaken  und ihre politische Agenda mehr Anrecht auf den Begriff haben als subversive Raptexte oder provokante Romane, die dem deutschen Mainstream den Mittelfinger zeigen wollen.

Für viele in Deutschland trägt die Beschimpfung als Kanake und die damit einhergehende Selbstbezeichnung eine gewisse Form von Trauma und Protest. Daher verstehe ich, wenn es zu viel verlangt ist, von einem Menschen, der täglich beschimpft wird, zu erwarten, dass er mal die Begriffsgeschichte reflektieren soll.

Sprachsensibilität ist leider ein Privileg der Studierten und Organisierten unter uns, bis sie alle anderen erreicht und berührt, müssen zuerst Zugänge geschaffen werden. Aber all jene, die gebildet genug sind, imperiale Geschichte und strukturelle Unterdrückung zu verstehen, die sollten auch die eigene Diskriminierung im globalen Kontext reflektieren lernen.

Und so weit ist Frankreich doch gar nicht, formal leben die Kanaken in eben diesem europäischen Frankreich. Wo bleibt da die Solidarität? Zumindest sollten mehr Menschen darüber nachdenken, ob es sich lohnt, an einem leeren Signifikanten festzuhalten, wenn er an einem anderen Ort für andere Menschen eine echte Bedeutung in sich trägt.

Moshtari Hilal ist freischaffende Künstlerin in Hamburg und Berlin.
Redigiert von Lissy Kleer, Daniel Walter