31.07.2020
Ein internationales Straftribunal für Shingal
Sechs Jahre nach dem Genozid in Shingal, wird es höchste Zeit das Leid der Ezid*innen nicht mehr unbeantwortet zu lassen, findet Bîşeng Ergin. Grafik: Paul Bowler
Sechs Jahre nach dem Genozid in Shingal, wird es höchste Zeit das Leid der Ezid*innen nicht mehr unbeantwortet zu lassen, findet Bîşeng Ergin. Grafik: Paul Bowler

Sechs Jahre nach dem Genozid in Shingal müssen sich IS-Rückkehrer*innen vor deutschen Gerichten verantworten – und das ist auch gut so. Für eine umfassende Gerechtigkeit braucht es jedoch ein internationales Straftribunal, meint Bîşeng Ergin.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Am 3. August jährt sich der Genozid an den Ezîd*innen in der Sindschar-Region im Nordirak zum sechsten Mal. Mit dem Ziel die Bevölkerung samt ihrer Religion, Kultur und Lebensweise zu vernichten, drangen bewaffnete Terroristen des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) in die ezîdischen Hochgebirge ein. Sie verschleppten und töteten tausende Menschen. Dies beklagen Ezîd*innen als den „74. Ferman“ – ein Begriff, der im Osmanischen Reich Verordnungen bezeichnete, sich in der Sprache der Ezîd*innen dann aber durchsetzte als Bezeichnung für Massaker und Pogrome. Der Ferman in Shingal ist das neueste Kapitel in einer langen historischen Reihe – insbesondere islamisch begründeter – Vernichtungsangriffe gegen ihre ethnisch-religiöse Minderheit.

Im März 2019 verlor der IS seine letzte Enklave im syrischen Baghus an die kurdisch-amerikanische Koalition. Seitdem gilt er als militärisch zerschlagen. Der UN-Sicherheitsrat könnte ein internationales Straftribunal für die Verbrechen des IS einrichten, wie in den 1990er Jahren für die Kriege in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien. Dabei handelte es sich um jeweils speziell eingerichtete Strafgerichte, um schwere Tatbestände wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen. Für solch ein Tribunal fehlt es jedoch an Unterstützung der Vetomächte, insbesondere von Russland. Die Forderung muss dennoch gestellt werden, zum Beispiel von Deutschland.

Eine internationale Lösung muss her

Weil sich noch immer zahlreiche europäische IS-Anhänger*innen im syrisch-irakischen Krisengebiet aufhalten, geraten Staaten wie Deutschland unter Druck, ihre Bürger*innen zurückzuholen und ihnen den Prozess zu machen. „Rojava“, die kurdische Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, ist damit überfordert, zehntausende IS-Gefangene zu versorgen, darunter auch zahlreiche aus dem Ausland herbei gereiste Dschihadist*innen. Doch selbst ohne diese wären die campartigen Gefängnisse massiv überfüllt. Der anhaltende völkerrechtswidrige Krieg gegen Rojava durch den NATO-Partner Türkei intensiviert die Instabilität der Region.

Von der kurdischen Autonomieregion Iraks ist ebenfalls nicht viel Hilfe für Rojava zu erwarten. Sie ist bereits ausgelastet mit der Versorgung von fast einer Millionen Geflüchteten und Vertriebenen – zumeist Ezîd*innen. In Assads Syrien herrscht Bürgerkrieg, und die Zentralregierung des Irak führt bereits täglich Gerichtsprozesse gegen IS-Anhänger*innen. Sowohl die Infrastruktur als auch die Kompetenzen vor Ort sind erschöpft.

Ein internationales UN-Tribunal würde die Krisenregionen entlasten, da es nicht an einen Ort gebunden ist. Das Strafgericht könnte auch ohne das Einverständnis des Iraks oder Syriens Beweise beschaffen oder Täter*innen verhaften. Zudem würde das einheitliche völkerrechtliche Gesetzeswerk der UN greifen, sodass Angeklagte nach internationalem Völkerrecht und nicht nach nationalen Regelungen bestraft würden. Im Irak wurden gegen IS-Anhänger*innen bereits Todesstrafen verhängt.

Die Verantwortung Deutschlands

Da ein solches Tribunal aber fehlt, wäre in der Zwischenzeit zumindest geboten, dass einzelne Staaten zumindest IS-Mitglieder mit eigener Staatsbürger*innenschaft strafrechtlich verfolgen - so wie es beispielsweise in Deutschland bereits geschieht. Nach Angaben der Bundesregierung reisten mehr als tausend Deutsche in das „Kalifat“ in Syrien und im Irak. Von diesen seien bislang etwa ein Drittel zurückgekehrt. Bei über 100 Rückkehrer*innen wissen die Ermittlungsbehörden, dass sie sich aktiv an Kämpfen beteiligt haben oder dafür ausgebildet wurden. Die Gerichtsprozesse gegen sie häufen sich. Allein seit Oktober 2019 wurden Ermittlungsverfahren gegen 17 mutmaßliche IS-Unterstützer*innen eingeleitet. Mehr als 450 deutsche Islamist*innen halten sich laut Bundesregierung weiterhin im Ausland auf (Stand: Juli 2020).

Einige Prozesse gegen IS-Rückkehrer*innen haben viel mediale Aufmerksamkeit erhalten. Da wäre zum Beispiel der Fall Omaima A., der in Hamburg unter anderem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem berüchtigten Denis „Deso Dogg“ Cuspert, hatten sie eine minderjährige Ezîdin zeitweise als Sklavin in ihrem Haushalt gehalten. Jennifer W. wiederum steht derzeit in München vor Gericht. Der heute 29-jährigen, die dem IS auch nach ihrer Rückkehr nach Deutschland treu blieb, wird nicht nur vorgeworfen, die Ezîdin Nora T. versklavt zu haben. Sie soll auch eine Mitschuld daran tragen, dass ihr Ehemann Taha Al J. deren kleine Tochter Rania gefoltert und getötet haben soll.

Auch ihm wird nun in Deutschland der Prozess gemacht. Selbstverständlich ist das nicht, denn eigentlich hat dieser weder die deutsche Staatsbürgerschaft noch hat er jemals in Deutschland gelebt. Doch das Weltrechtsprinzip ermöglicht den historisch einzigartigen Prozess gegen ihn vor einem Frankfurter Gericht. Was seinen Fall von allen anderen unterscheidet: Es ist das einzige Gerichtsverfahren, das den Genozid an den Ezîd*innen explizit als Anklagepunkt listet. Darunter fällt auch der Aspekt der geschlechtsbezogenen Verfolgung von Ezîdinnen als Frauen durch Versklavung und sexuelle Misshandlung.

Ein Weltgericht für die Opfer des IS

Diese Prozesse rekonstruieren die Gräueltaten von Einzelpersonen, stellen dabei jedoch die Täter*innenperspektive in den Vordergrund. Sinn und Zweck der Verfahren bleibt die Beweisführung gegenüber individuellen Angeklagten. Im Fall von Taha Al J. muss ihm die tatsächliche Absicht zum Genozid mit taggenauen Details bewiesen werden, damit er dafür verurteilt werden kann.

Ehemalige IS-Mitglieder kommen in diesen Prozessen zu Wort, doch sie schützen sich und ehemalige Gefährt*innen, indem sie schweigen oder Erinnerungslücken vorschieben. In der Verhandlung gegen Taha Al J. in Frankfurt,  die ich als Prozessbeobachterin begleite, inszeniert sich zum Beispiel die ehemalige IS-Anhängerin Annette L. auf dem Zeugenstand als ein Opfer des IS. Ihre Erinnerungslücken seien eine Folge ihres Traumas. Den Opfern des IS hingegen bleibt nichts anderes übrig als öffentlich und vor ihren Peiniger*innen höchsttraumatische Erlebnisse zu schildern, wie dies Nora T. in der Verhandlung gegen Taha Al J. machen musste. Für Zuschauer*innen ist es unerträglich zu sehen, wie die Verteidigung des Angeklagten immer wieder nach Details der Sexualverbrechen und der Tötung ihrer Tochter Rania fragt, um Nora T. zu irritieren und ihre Glaubwürdigkeit zu hinterfragen.

Bei einem Tribunal könnten Zeug*innen in speziellen Anhörungen ihre Geschichte erzählen, ohne im Kreuzverhör zu landen. Es wäre ihnen möglich, eigene Forderungen zu formulieren, den Genozid öffentlich anzuprangern und auf ungeklärte Fragen hinzuweisen. Anders als in deutschen Gerichten würden sie dort eine internationale Bühne erhalten: es würde in unterschiedliche Sprachen übersetzt werden, damit so viele Menschen wie möglich zuhören können. Die Prozesse in Deutschland werden dagegen nur auf Deutsch geführt. Dabei sind Übersetzungen enorm wichtig für die Dokumentation der gesammelten Informationen. In einem Tribunal könnten sie zentral gesammelt und im Internet zugänglich gemacht werden. So könnten auch spätere Generationen die Stimmen der Überlebenden hören.

Während es einem UN-Tribunal gelingen könnte, die Betroffenenperspektive von Ezid*innen und anderen Opfern des IS in den Fokus zu stellen, geht es in Deutschland bislang hauptsächlich um die Beweisführung gegen einzelne Täter*innen. In einem internationalen Sondertribunal könnten Sprechräume geschaffen werden, um die Ideologie und Taten des IS in angemessener Härte öffentlich zu verurteilen. IS-Mitglieder auf der Weltbühne zur Rechenschaft zu ziehen würde zumindest symbolisch Gerechtigkeit herstellen und das Leid der Ezid*innen nicht unbeantwortet lassen. Sechs Jahre nach dem Genozid in Shingal wird es höchste Zeit dafür.

 

 

Bîşeng studiert im Master „Internationale Studien / Friedens- und Konfliktforschung“ mit regionalem Schwerpunkt auf WANA. Zuvor absolvierte sie einen Bachelor in Soziologie und Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt auf Gender Studies sowie Rassismustheorien und Postkoloniale Studien. Einige Zeit ihres Studiums verbrachte sie an der Aix-...
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Hannah el-Hitami