17.06.2020
Dossier: Deutsche Außenpolitik in WANA
Illustration von Milad Nemati
Illustration von Milad Nemati

Die Welt ist im Umbruch – und mit ihr die deutsche und europäische Außenpolitik. Welche Interessen geben in Westasien und Nordafrika den Ton an? Wo steht Deutschland und wo soll es hingehen? Das wollen wir in unserem Dossier beleuchten.

Dieser Text ist Teil des Dossiers „Deutsche Außenpolitik in WANA. Alle Texte des Dossiers finden sich hierDas Projekt wurde durch das Grow-Stipendium von Netzwerk Recherche e.V. und der Schöpflin Stiftung gefördert. 

„Welt in Gefahr: Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten, so der Titel eines aktuellen Spiegel-Bestsellers vom Doyen der deutschen Diplomatie, Wolfgang Ischinger. Der Grundsound des Buchs ist ein beunruhigter Bass. Sein Tenor: Deutschland müsse lernen, ein autonomer und verantwortungsvoller Akteur auf der Weltbühne zu werden. Was das aber konkret bedeuten soll, verbleibt, wie der Buchtitel, oft im Ungefähren.

Mehr Konkretheit wagen

Vier Jahre zuvor hatte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck auf der von Ischinger organisierten Münchner Sicherheitskonferenz den Boden für die Debatte bereitet. Deutschland müsse „mehr Verantwortung“ in der Weltpolitik wahrnehmen, forderte Gauck in seiner Rede, die eine breite Diskussion auslöste. Denn die Formulierung „mehr Verantwortung“ klingt in den Ohren Vieler schnell verdächtig. Dient sie nicht einfach als Schleier für eine altneue deutsche Machtpolitik, gar für eine Wiederkehr des Militarismus? Wer so denkt, denkt zu kurz.

Im Jahr 2011 war es ausgerechnet der damalige polnische Außenminister Radosław Sikorski , der im Rahmen der Eurokrise sagte, mehr als die deutsche Macht fürchte er deutsche Zurückhaltung. Die USA fordern einen höheren europäischen und deutschen Beitrag zur NATO nicht erst seit Präsident Trump. Und seit der Wahl Donald Trumps sehen sich viele Meinungsmacher*innen zu der Aussage hingerissen, die deutsche Bundeskanzlerin sei nunmehr „leader of the free world. Angela Merkel selbst ist das eher peinlich, so Ischinger in seinem Buch.

Auf Fukuyamas Welle surfen

Anfang der 1990er-Jahre war der Optimismus groß. Auch das Auswärtige Amt glaubte an die den Zeitgeist auf eine Formel bringende These des US-Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, so Fukuyama, hätten Demokratie und Kapitalismus gesiegt, die Zukunft gehöre damit dem Liberalismus. Natürlich ist das auch das perfekte Weltbild für einen Staat, dessen außenpolitisches Ziel mit „Exportweltmeister“ schon in guten Teilen beschrieben ist. Die These vom Ende der Geschichte war bequem, half sie Deutschland doch Macht auszuüben, ohne sich die Machtfrage stellen zu müssen.

Die Tage, in denen sich Deutschland in derlei Gedankenhäusern einrichten konnte, sind allerdings vorbei. In der außenpolitischen Berliner Blase fragen sich die Expert*innen und Politiker*innen, ob der Bruch mit der Finanzkrise 2008 kam, mit der russischen Krim-Annexion, dem Brexit, oder der Wahl von US-Präsident Donald Trump. Einig ist man sich aber darin, dass deutsche Außenpolitik kein Selbstläufer mehr im Windschatten amerikanischer Weltpolitik ist.

Deutschland in WANA

In Wahrheit endete die Geschichte natürlich nirgends, vor allem nicht in Westasien und Nordafrika (WANA). Dort wurde sie, wie gehabt, maßgeblich von außen weitergeschrieben.

Das Ende des Kalten Krieges markierte den Beginn amerikanischer „Unipolarität“ oder, wer es kritischer mag, „globaler Hegemonie“. Diese Vormachtstellung wurde im geostrategisch so wichtigen „Middle East“ im Golfkrieg von 1991 demonstriert. Die gerade um die DDR größer gewordene Bundesrepublik beteiligte sich nicht an der Intervention von George Bush, finanzierte sie dafür aber maßgeblich mit. Klassische Scheckbuchdiplomatie.

RAND, ein Think Tank, der die amerikanischen Streitkräfte berät, notierte damals einigermaßen verwundert, dass Deutschland, wenn es um innereuropäische Interessen geht, nicht zimpert, aber dass es schnell wolkig wird, wenn die Rede auf WANA kommt. Das trifft auch heute noch zu. So zögerte Deutschland zum Beispiel nicht, in der Eurokrise eine harte Austeritätspolitik durchzusetzen. Kommt aber die Rede auf die mehrheitlich arabische Nachbarschaft, wird es schnell unklar, was Deutschland möchte, und wie es das zu erreichen gedenkt. Die Rede von außenpolitischen Werten, die noch jedem Toten im Mittelmeer trotzt, überzeugt kaum mehr.

Die breiten deutschen und europäischen Interessen in WANA sind schnell benannt: Terrorismusbekämpfung, eine unbestimmte „Stabilität“ um Fluchtbewegungen zu unterbinden, die geregelte Energiezufuhr, das Erschließen von Absatzmärkten. Laut dem European Council on Foreign Relations (ECFR) jedoch spielen die EU oder ihre Mitgliedstaaten keine Rolle zur Lösung der vielen, miteinander verwandten Krisen, die die Region so stark prägen. Auf die Aufstände seit 2010/11, die auf historisch tiefgreifende sozioökomische und politische Probleme in der Region verweisen, fand Europa bis heute keine Antwort.

Besonders deutlich wurde das im Syrien-Krieg, dem Europa machtlos von außen zusah. Dabei hätte Europa die politischen und ökonomischen Instrumente, auf seine so wichtige Nachbarregion einzuwirken. Deutschland, dem machtpolitischen Kern der EU, käme dabei eine Schlüsselrolle zu.

Das Dossier

In unserem Dossier werfen wir ein paar Schlaglichter auf bekannte und weniger bekannte Bereiche der deutschen und der damit verbundenen europäischen Außenpolitik in WANA. Weil das Thema so überraschend wenig diskutiert wird, interessieren uns die großen Fragen: Was ist eigentlich die historische und aktuelle Rolle der Bundesrepublik in der Region? Wie sieht WANA aus Berliner außenpolitischer Sicht aus? Was ist der deutsche Einfluss in der Region und wie wird er wahrgenommen? Was ist dabei die Rolle Deutschlands innerhalb der EU?

Zum Auftakt beschäftigen wir uns mit der deutschen Migrationspolitik, die von der europäischen nicht zu trennen ist. Am World Refugee Day, dem 20. Juni, erwartet euch Maximilian Ellebrechts Interview mit der Aktivistin Giulia Tranchina zur europäischen Migrationspolitik in Libyen. Danach wendet sich Daniel Walter einem stark im öffentlichen Interesse stehenden Land zu, nämlich Iran. Er schaut sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Iran an.

Weiter geht’s mit Waffen: Hannah El-Hitami hat mit dem Autor Markus Bickel über deutsche Waffenexporte gesprochen. Von der „hard power“ kommen wir zur „soft power“: Christopher Resch nimmt in seinem Text die deutsche Kulturdiplomatie unter die Lupe.

Danach blickt Daniel Marwecki auf die deutschen Beziehungen zu Israel und den Zusammenhang zwischen Außenpolitik und Erinnerungspolitik. Und auch die Aufstände von 2011 behandeln wir natürlich. Anna-Theresa Bachmann fragt am Beispiel Ägypten, wie sich Deutschland und Europa zu den demokratischen Kräften in der Region verhalten.

„Die“ deutsche WANA-Politik erfassen wir mit unseren Beiträgen nicht. Vor allem, weil es eine solche übergreifende Politik wohl auch gar nicht gibt. Wir hoffen aber, mit unseren Texten einige Antworten auf die oben gestellten Fragen zu liefern und so ein hintergründiges Panorama zu entwickeln. Viel Spaß beim Lesen - und Diskutieren.

Das Dossier widmen wir Christoph Sydow.

 

 

Daniel ist seit 2019 bei dis:orient dabei. Aktuell ist er an der School of History der University of Leeds angestellt und hat Lehraufträge an der SOAS in London, wo er auch promovierte. Zuvor hat er in Bremen, Magdeburg und Montpellier studiert und bei einer deutschen NGO in Jerusalem gearbeitet.
Redigiert von Daniel Walter, Maximilian Ellebrecht