Ein führender kurdischer Politiker wird auf türkisches Betreiben in einem Prager Hotel festgenommen – und kommt bald darauf wieder frei. Doch viele Fragen im Fall Salih Muslim bleiben ungeklärt.
Tschechische Medien erreichte am Sonntagmorgen eine brisante Agenturmeldung. Laut der türkischen Anadolu Agency (AA) hatten Polizisten im Prager Marriott-Hotel den ehemaligen Ko-Vorsitzenden der syrisch-kurdischen Partei der demokratischen Union (PYD), Salih Muslim, festgehalten. Eine Überraschung, denn Salih Muslim war in den vergangenen Jahren mehrfach durch Europa gereist, trotz lautstarkem Protest der türkischen Behörden ohne Einschränkungen.
Da erste Meldungen nur von anonymen Quellen in Sicherheitskreisen ausgingen oder sich auf die Version von AA beschränkten, begannen Nutzer in den sozialen Medien wild zu spekulieren, wie es dazu gekommen war. Hatte Interpol eine Red Notice, also ein Ersuchen um Festnahme und Auslieferung, veröffentlicht? Oder hatte man Muslim gar zum Schutz vor einem Attentat des türkischen Geheimdienstes festgehalten?
Etwas Klarheit brachte eine polizeiliche Stellungnahme am Vormittag, in der es hieß, dass „die Prager Polizei in der Nacht von Samstag auf Sonntag mit der vorläufigen Zustimmung eines Staatsanwaltes einen 67-jährigen Ausländer, der im Fadenkreuz (sic!) des türkischen Interpol war, festgehalten habe“. Zu Anschuldigungen äußerte man sich jedoch nicht und verwies lediglich darauf, dass man die türkischen Behörden informiert habe und ansonsten regulär nach gesetzlichen Bestimmungen zur Auslieferung verfahren würde.
Diplomat für die „Föderation Nordsyrien“
Schon am selben Nachmittag kam es in Prag zu Spontandemonstrationen von Salih Muslims Unterstützern. Denn Muslim ist nicht nur der Ex-Ko-Vorsitzende der PYD, sondern gegenwärtig auch ein wichtiger Diplomat für die neu entstehende „Föderation Nordsyrien“, zu deren Streitkräften die mit den USA verbündeten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) gehören. Als solcher ist Muslim ein auf Konferenzen gern gesehener Gast. So trat er im September 2016 auf einer Tagung im Europäischen Parlament auf und nimmt regelmäßig an nicht-öffentlichen Veranstaltungen europäischer Think-Tanks teil. Wahrscheinlich war eine ähnliche Tagung auch der Grund für Muslims Reise nach Prag.
Salih Muslim. Foto: Rojava und Kobané, Rosa Luxemburg Stiftung/Flickr , Lizenz: cc-by 2.0
Am Freitag zuvor veröffentlichte die türkische Beyaz Gazete, eine regierungsnahe Zeitung, ein Foto, das Muslim mit Begleitung im Foyer eines Hotels zeigt. Wer die Tagungsteilnehmer fotografierte, ist nicht klar. Einige Quellen sprechen von einem Hotelgast, der seine Tischnachbarn fotografierte. Doch auch eine Mitwirkung des türkisch Geheimdienstes MIT wird nicht ausgeschlossen. Das tschechische Nachrichtenportal Info.cz sprach am Tag nach der Festnahme mit einer Quelle aus tschechischen Geheimdienstkreisen, der zufolge Salih Muslim auf jeden Fall unter Beobachtung der türkischen Geheimdienste stehe. Man würde, mutmaßte die Quelle, unter Umständen bis zu zehn Personen für die Überwachung einer Person von Interesse abstellen.
Einen Tag später, in der Nacht vom 24. auf den 25. Februar, betrat die tschechische Polizei das Marriott-Hotel und bat den Empfang, den syrisch-kurdischen Politiker in die Lobby zu rufen. Nach Angaben von Salih Muslims Begleitung folgte dieser dem Ersuchen und wurde nach kurzer Erklärung festgenommen. Obwohl eine Red Notice zur Person von Muslim in der öffentlichen Datenbank von Interpol nicht zu finden ist, ist nicht ausgeschlossen, dass die Türkei die Festnahme tatsächlich auf diesem Wege veranlasste. Denn Staaten, die ein Ersuchen veröffentlichen, können darüber entscheiden, ob eine Red Notice der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird oder nicht.
Erwartet wurden tausende Kurden aus ganz Europa
Da in Tschechien innerhalb von 48 Stunden darüber entschieden werden muss, ob ein Festgenommener in Untersuchungshaft genommen wird, brachen organisierte kurdische Unterstützer von Muslim noch in derselben Nacht nach Prag auf, alarmiert von Muslims Begleitung. In Tschechien leben im Gegensatz zu den Nachbarländern sehr wenige Kurden. Dem Onlinemagazins A2larm sagten Demonstranten deshalb, sie wären aus Deutschland, Österreich, Schweden und Frankreich angereist. Man munkelte auch, dass im Falle einer Ingewahrsamnahme mehrere tausend Kurden aus ganz Europa organisiert mit Bussen anreisen könnten, so wie es regelmäßig der Fall bei Massendemonstrationen in Köln oder Straßburg ist.
Darüber hinaus spekulierten tschechische Medien, warum gerade hier ein kurdischer Politiker auf Geheiß der Türkei festgenommen wurde. Noch 2016 hatten die sogennanten Volksverteidigungseinheiten (YPG), der bewaffnete Arm der PYD, in Prag eine Vertretung eröffnet, um Kontakte mit tschechischen Abgeordneten und Bürokraten zu knüpfen. Zwar schlug der Versuch, feste Beziehungen mit tschechischen Rüstungsunternehmen zu schmieden, fehl und das Büro schloß nach einigen Monaten. Aber dennoch sollen Waffen aus tschechischen Beständen über die US-Luftwaffenbasis im rheinland-pfälzischen Ramstein zu YPG und SDF nach Syrien geflossen sein.
Die zwei Probleme Tschechiens im Umgang mit der Türkei
Eine unter Kommentatoren verbreitete Meinung ist, dass Tschechien von der Türkei als schwaches Glied in der europäischen Gemeinschaft gesehen wird. Man habe zwar keine bedeutende türkische oder kurdische Diaspora, wäre aber trotzdem im Umgang mit der Türkei untentschlossen. Außerdem plagen die tschechische Außenpolitik zwei Probleme: Zum einen gab es Uneinigkeiten um einen Millionenbetrag, der einem tschechischen Investor beim Bau eines Kraftwerks in der Türkei durch undurchsichtige Strukturen und Verstaatlichung des türkischen Partnerunternehmens abhandengekommen war. Außerdem waren kurz vor der Schließung der YPG-Vertretung in Prag zwei tschechische Staatsbürger an der türkisch-irakischen Grenze verhaftet worden.
Markéta Všelichová und Miroslav Farkas waren zuvor mehrfach nach Nordsyrien gereist, wo sie nach nicht übereinstimmenden Berichten entweder lokale Sicherheitskräfte besuchten oder sogar zeitweilig in deren Reihen kämpften. Als das Paar 2016 aus Jordanien ausgewiesen worden war, da es versucht hatte, in die von Rebellen kontrollierten Gebiete in Südsyrien zu reisen, flog es nicht etwa, wie geplant, über Istanbul nach Prag, sondern verließ den Flughafen in Richtung Südosttürkei. Die türkischen Grenzer ließen sie nicht in den Nordirak einreisen und nach einigen Monaten in Gewahrsam verurteilte sie ein Gericht zu sechs Jahren Haft.
Freilassung unter Auflagen
Wilde Spekulationen über einen Austausch von Salih Muslim gegen die inhaftierten Tschechen wurden am Dienstag durch einen Gerichtsbeschluss beendet. Laut Muslims Anwalt akzeptierte das Prager Gericht ein Versprechen, dass der Politiker die Europäische Union nicht verlassen würde und an weiteren Anhörungen zur Auslieferung freiwillig teilnehmen werde. In einem ersten Statement für das syrisch-kurdische Ronahî TV erklärte Muslim: „Meine Inhaftierung erfolgte aufgrund einer Anordnung des vierten Obersten Gerichts der Türkei. Aber das tschechische Gericht glaubte, dass alles, was die türkische Regierung behauptet, nichts als eine Lüge ist. Die europäischen Gerichte sind von den türkischen Vorwürfen und Lügen nicht überzeugt.“
Die türkischen Behörden, die Muslim die Planung eines Attentats im Jahr 2016 in Ankara vorwerfen, zeigten sich indes verärgert. Der türkische Botschafter Ahmet Bigalı bezeichnete die Freilassung als Terrorunterstützung und Außenminister Çavuşoğlu sprach von einem Rechtsbruch. Ironischerweise veröffentlichte das Portal al-Monitor am Tag nach der Festnahme ein Interview von Amberin Zaman mit Salih Muslim, in dem der Politiker detailliert beschreibt, wie er in den Jahren 2012 bis 2015 als wichtige Kontaktperson zwischen hochrangigen türkischen Politikern und der nordsyrischen Verwaltung vermittelte.
Für die Tschechische Republik war die Festnahme von Salih Muslim ein vermeidbarer Fehler, der Konsequenzen hat. Wäre Muslim nicht festgehalten worden, hätten türkische Behörden womöglich protestiert, aber nicht öffentlich, und die Beziehungen zwischen den Staaten hätten wohl kaum Schaden genommen. Jetzt müssen tschechische Politiker damit leben, dass sich gefährdete Personen womöglich zweimal überlegen, ob sie nach Tschechien reisen, und dass eine vorzeitige Freilassung der zwei inhaftierten Tschechen in noch weitere Ferne rückt. Vielleicht sollte man sich überlegen, wie schnell man zukünftig auf dringende türkische Anliegen reagiert.