Am 8. Juni erschossen zwei palästinensische Terroristen im Stadtzentrum von Tel Aviv vier Menschen, 19 weitere wurden teils schwer verletzt. Nach einer Welle von Messerattacken im letzten halben Jahr, ist dieser Anschlag nicht nur von neuem Ausmaß, sondern offenbart auch einmal mehr die Widersprüchlichkeit des stetig schwelenden Nahostkonflikts. Von Katharina Konarek
Es ist ein lauer Sommerabend. Der erste nach einem für Israel ungewöhnlich kühlen Frühling. Der Ramadan hat begonnen, das akademische Jahr an den israelischen Universitäten neigt sich dem Ende zu. Auf dem Campus in Haifa findet an diesem Mittwoch, dem 8. Juni, eine große Abschlussfeier statt. Es spielt die bekannte Rockband Monica Sex. Eng drängen sich die jungen Leute um die Bühne, wippen zu den Beats und singen die eingängigen Texte mit. Die Stimmung ist gelöst, ausgelassen: wir prosten uns zu, wünschen viel Glück bei den anstehenden Klausuren und freuen uns auf den Sommer.
Kurz nach halb zehn kippt die Stimmung. Die Band singt: „Es regnet so stark, ich kann kaum etwas sehen. Ich fahre alleine durch die Nacht Richtung Norden. Ich will einfach nur noch weg von hier!“ In der Menge flimmern die Bildschirme der Smartphones auf. Immer mehr Menschen wenden ihren Blick von der Bühne ab und starren auf ihre Telefone. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht: Schon wieder ein Anschlag in Tel Aviv! Zwei Palästinenser haben im beliebten Ausgehviertel am Sarona Markt um sich geschossen. Drei Menschen sind bereits tot, ein vierter schwebt in Lebensgefahr. Einer der Angeschossenen ist ein Student aus Haifa. Er wurde von zwei Kugeln im Kopf getroffen. Wir telefonieren. Mit unseren Familien in Deutschland, mit unseren Freunden in Tel Aviv. „Geht es euch gut?“ „Wo seid ihr?“ „Was genau ist passiert?“
Am nächsten Morgen erreiche ich meinen Freund Javier, der in Tel Aviv lebt und arbeitet. „Ich saß im Nachbarlokal, als die Schüsse fielen“, erzählt der 27-Jährige hörbar mitgenommen. „Am Anfang wusste ich nicht, ob das jetzt ein Terroranschlag war oder nur irgendein merkwürdiges Geräusch. Doch nach dem vierten Schuss war mir klar: Wir werden angegriffen! Wir haben uns im Lokal verschanzt. Ich habe meine Familie informiert, dass es mir gut geht. Dann haben wir gewartet.“ Nach einer Stunde sind die Attentäter gefasst. Die Menschen dürfen nach Hause.
Und nun? Was jetzt? Einfach so zurück in den Alltag? Bereits am nächsten Tag ist das Café Brenner am Sarona Markt wieder geöffnet. Politiker jeglicher Couleur geben sich die Klinke in die Hand. Sie trinken Eisschokolade, bestellen große Hamburger und hausgemachte Kuchen. Eine demonstrierte Routine, eine erzwungene Gelassenheit. Ein Zeichen an die eigenen Bürger und die ganze Welt: Seht her! Wir lassen uns nicht einschüchtern! Der Terror kann uns nichts anhaben! Doch was bleibt sind viele Fragezeichen. Denn wieder einmal wird deutlich, wie zerbrechlich der Alltag in Israel ist. Wie vielschichtig und verfahren die Situation. Drei kleine Geschichten um diesen Mittwoch, den 8. Juni, lassen dies erahnen. Sie sind Mosaikstücke der Paradoxie des Konflikts.
Die Attentäter
Die Attentäter, das sind zwei junge Männer Anfang 20. Cousins. Nicht vorbestraft, unauffällig. Khalid Al Muhammar arbeitete als Elektroinstallateur, Muhammad Al Muhammar studierte Jura. Bilder im Internet zeigen die beiden Arm in Arm, fröhlich lachend auf einer Hochzeit. Sie sind illegal nach Israel eingereist und kommen aus Yatta. Die palästinensische Kleinstadt liegt rund acht Kilometer südlich von Hebron in den besetzten Gebieten und hat knapp 65.000 Einwohner. Eine alte Stadt, die unter dem Namen Juttah bereits in der Bibel erwähnt wird. Viel zu tun gibt es für junge Menschen in Yatta nicht. Die meisten haben lediglich provisorische jordanische Pässe und können nur über Jordanien aus der Westbank ausreisen. Der größte Arbeitgeber sind die Israelis: 75 Prozent der Arbeitnehmer aus Yatta sind auf dem israelischen Arbeitsmarkt, sprich zumeist im direkten oder indirekten Siedlungsbau, beschäftigt. Israelis kennen Yatta, wenn überhaupt, meist nur aus der Zeit ihres Armeedienstes.
Glaubt man dem Historiker und langjährigen israelischen Präsidenten Yitzak Ben Zvi, so stammt die Hälfte der Familien in Yatta von den Mehamra ab. Die Mehamra waren ein jüdisch-arabischer Stamm und Teil des jüdischen Königreichs der Khaybarer. Die jüdischen Stämme der arabischen Welt waren eine ethnische Minderheit und bewohnten in vorislamischer Zeit die arabische Halbinsel. Laut muslimischen Quellen sprachen diese Menschen eine dem Persischen verwandte Sprache, was auf eine Verbindung zum jüdischen Zentrum in Babylon hindeutet. Auch finden sich jüdische Quellen, die jüdische Nomadenstämme im Nahen Osten beschreiben. Bis heute glauben einige Einwohner Yattas an ihre jüdische Abstammung. Theoretisch könnten sie bei einer solchen Abstammung die israelische Staatsbürgerschaft beantragen. Denn selbst wenn ihre Vorfahren zum Islam konvertiert waren, so gehören sie doch weiterhin zum jüdischen Volk, dem - im historischen Sinne - Volk der Israeliten, das laut Toran von den Gründervätern Abraham, Isaak und Jakob abstammt.
Der Polizist
Die zwei Männer hätten in ihren dunkeln Anzügen ausgesehen wie reiche, italienische Geschäftsleute, beschreiben Augenzeugen die Attentäter. Unauffällig, angepasst. Selbst für erfahrene Augen nur schwer zu erkennen. Ein pensionierter israelischer Polizist genießt den Abend mit seiner Frau vor dem gemeinsamen Apartment in Tel Aviv. Er ist der Schwiegersohn des ranghohen Elitepolizisten Assaf Hefetz, dem Mitbegründer der israelischen Anti-Terror-Einheit Yamam, die darauf trainiert ist, potentielle Terroristen frühzeitig zu erkennen und Anschläge zu verhindern.
Plötzlich hört der Rentner Schüsse. Menschen rennen ihm panisch entgegen. Seine Frau und er flüchten in den Hauseingang, gefolgt von einem fremden Mann. Der Mann trägt Anzug und Krawatte. Er ist verängstigt, fragt in gebrochenem Hebräisch nach Wasser. Der Polizist schickt den Fremden zusammen mit seiner Frau nach oben in die Wohnung. Er selbst schnappt sich die alte Dienstwaffe und läuft Richtung Sarona Markt. „Der junge Mann saß nur da, er sprach kein Wort“, erinnert sich die Ehefrau gegenüber der israelischen Tageszeitung Haaretz. „Er war wie versteinert. Wir standen alle unter Schock.“ Am Tatort trifft ihr Mann auf den ersten Attentäter: Schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte. Genau wie der Fremde bei ihm zu Hause. Wenig später überwältigt der Polizist den zweiten Attentäter in seiner Wohnung, während seine Frau die Einsatzkräfte vom Fenster aus delegiert.
Die Opfer
Nur zwölf Stunden nach dem Anschlag sind die Namen der vier Toten bekannt. Wie in Israel üblich, werden sie in allen Medien veröffentlicht – zusammen mit den Begräbniszeiten. Jeder soll Anteil nehmen. Unter den Opfern ist auch Michael Feige. Feige war Professor für Soziologie und Anthropologie an der Ben-Gurion Universität in Beersheva. Er forschte über die israelische Gesellschaft, das kollektive Gedächtnis und politische Mythen. Sein Leben verbrachte er damit, die Folgen von Krieg und Terrorismus auf die israelische Psyche zu analysieren. Dabei untersuchte er sowohl radikale Siedlergruppen als auch linksgerichtete Friedensbewegungen. Er war dabei, als die israelische Siedlung Yamit auf dem Sinai geräumt wurde. Sein Buch “Siedeln im Herzen. Jüdischer Fundamentalismus in den besetzten Gebieten” wurde mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt beschäftigte sich Feige mit der Ermordung Rabins und dem Einfluss der rechten Siedlerbewegung Gush Emunim.
Seine Kollegin Dr. Sara Hirschhorn beschreibt Michael Feige in der israelischen Tageszeitung Haaretz als “einen Wissenschaftler, der unser Verständnis von Siedlungen revolutioniert hat - durch seine Klarheit und Sensibilität gegenüber Israelis, Palästinensern, der menschlichen Bedingtheit, Mythen und Realitäten.“ Feige wollte dazu beitragen, die Vielschichtigkeit der israelischen Gesellschaft besser zu verstehen und damit die Grundlage für einen Friedensprozess schaffen.
Der Wille, weiterzumachen
Auch über eine Woche nach dem Anschlag, lassen uns die Ereignisse nicht los. Die Fußball Europameisterschaft hat begonnen. Live werden die Spiele auf einer großen Leinwand an der Universität übertragen. Jeden Abend sitzen wir zusammen. Fußball wird schnell zur Nebensache. Wir diskutieren: Was motivierte die Attentäter? Wie soll man jetzt reagieren? Lässt sich die Spirale der Gewalt durchbrechen? Warum wissen wir so wenig über „die Anderen“? Bis spät in die Nacht wird heftig debattiert. Todesstrafe für Terroristen? Völlige Abschottung der Westbank? Oder gerade jetzt mehr Dialog, mehr aufeinander zugehen? Was ist der Weg?
Ich erinnere mich an eine Textzeile von Monica Sex. „Wollt ihr nicht einfach nur weg von hier?“, frage ich in die Runde. Die Reaktion ist eindeutig: „Auf keinen Fall!“ So paradox die Situation oft ist, zumindest in Haifa überwiegt der Wille, weiterzumachen und einen ruhigen Alltag auf beiden Seiten zu finden.
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