Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser:innen hat wieder einmal einen traurigen Höhepunkt erreicht. Neu dabei ist, dass die Gewalt auch in Akko oder Haifa um sich greift. Unsere Autorin erzählt, wie sie ihre Stadt nicht wiedererkennt.
Seit vergangenem Sonntag finden wir kaum Schlaf. Wie gebannt starren wir auf unsere Bildschirme, durchsuchen unsere Kanäle in den sozialen Medien, telefonieren mit unseren Freund:innen und unserer Familie. Wir, das sind mein Partner Osama und ich. Normalerweise leben und arbeiten wir in Haifa. Er als Kinderarzt, ich als Wissenschaftlerin an der Universität.
Im Dezember 2020 sind wir schweren Herzens in die USA aufgebrochen, um dort für ein halbes Jahr an der Emory Universität in Atlanta zu forschen. Wir waren neugierig, eine neue Welt zu entdecken, Aktivist:innen der „Black Live Matters“-Bewegung kennenzulernen und dabei mehr über die tiefe, soziale Spaltung im Land zu erfahren.
Der Abschied aus Haifa fiel uns schwer. Wir lieben diese lebendige Hafenstadt im Norden des Landes mit all ihren Ecken und Kanten: den akkurat gepflegten Bahai-Gärten, dem quirligen Markt-Viertel Wadi NisNas, dem etwas in die Jahre gekommen Hippster-Viertel Hadar und der frisch aufpolierten Hafenzeile. Ganz bewusst habe ich mich vor einigen Jahren entschieden, hierhin zurückzukehren. Zuvor hatte ich bereits 2008 während meines Studiums in Ost-Jerusalem gelebt.
Die ständig aufflammenden Konflikte, der fehlende Alltag, die tägliche Ungewissheit über das, was vor der eigenen Haustür passiert, waren zermürbend. Wenn es mich je wieder in die Region zieht, so dachte ich damals, dann nur an einen Ort, an dem man atmen kann: Haifa. Hier, so schien es mir, sei die Lage weitaus ruhiger, die Menschen entspannter und die Polizei schlichtend und deeskalierend.
Während meine Annahmen in den ersten Jahren durchaus zutrafen, hat sich die Lage in den letzten Monaten drastisch verschlechtert. Bereits im Januar 2021 fand eine große Verhaftungswelle statt. Unsere Freund:innen wurden früh morgens aus ihren Häusern geholt und verhört. Wohnungstüren wurden aufgebrochen, Zimmer durchsucht, Computer beschlagnahmt. Grund: unbekannt. Wir ahnten nichts Gutes.
Raketenbeschuss und rechte Parolen auf der Straße
In der letzten Woche dann spitzte sich die Lage zu. Eine Demonstration in Haifa gegen die Vertreibung von Palästinenser:innen aus ihren Häusern in Sheikh Jarrah in Jerusalem endete mit einem massiven Polizeieinsatz, vielen Festnahmen und Verletzten. In der Deutschen Kolonie, auf der Prachtstraße unterhalb der beleuchteten Bahai-Gärten, auf der einst Kaiser Wilhelm westlich nach Haifa einzog, fuhren Wasserwerfer und berittene Polizei in schwerer Kampfausrüstung auf.
Diese Szenen kannte ich bisher nur aus Jerusalem. Die Menschen stoben auseinander und flüchteten in die Seitenstraßen oder die umliegenden Restaurants. Oft wurden sie von rechten Gegendemonstrant:innen verfolgt, die Israel-Flaggen schwenkten und „Fang die Araber“ schrien.
Am nächsten Abend versammelt sich am selben Ort ein rechter Mob, angeführt von einer Gruppe, die sich selbst „La Familia“ nennt und öffentlich über die sozialen Medien dazu aufruft, sich zu bewaffnen und gemeinsam im ganzen Land „den Arabern eine Lektion zu erteilen“. Wie diese Lektion aussehen soll, wird in den Aufrufen in klare Worte gefasst: „Wir müssen die Araber erstechen und ihnen alle Knochen brechen.“
Wer diese Menschen sind, ist schwer einzuschätzen. Sie kleiden sich schwarz, kommen oft mit Pistolen und Maschinengewehren bewaffnet, weshalb davon auszugehen ist, dass sie Teil der Siedlerbewegung in den besetzen Gebieten sind. Denn nur diesem Personenkreis ist es erlaubt, in der Öffentlichkeit Waffen zu tragen.
In Haifa ziehen die Anhänger von „La Familia“ durch das von Palästinenser:innen bewohnte Viertel „Wadi NisNas“. Sie schlagen Fensterscheiben ein und zertrümmern Autos. Als sich eine Gruppe jugendlicher Wadi-Bewohner zusammenschloss, um die Nachbarschaft gegen die Schlägertrupps zu schützen, tauchte die Polizei auf und feuerte Blendgranaten und Tränengaskanister ab.
Zur selben Zeit setzt die Hamas den Beschuss von Tel Aviv fort. Hunderte Raketen fliegen auf die Stadt. Das sonst so unfehlbare Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ hält diesem Beschuss nicht stand. In mehreren Vororten von Tel Aviv gibt es seither Einschläge. Der einzige Flughafen des Landes wird geschlossen. Ich greife zum Telefon. Meine Kollegin sitzt mit ihren beiden Kleinkindern im Treppenhaus: „Hier heulen schon zum dritten Mal die Sirenen, aber wir sind ok, glaube ich.“ Auch sie wird in dieser Nacht kein Auge zutun.
Kaum habe ich aufgelegt, erreicht uns der nächste Anruf. Osamas Schwester ist den Tränen nahe. Auch für Haifa ist jetzt Raketenalarm ausgerufen. In ihrem Haus gibt es keinen Schutzraum. Auf die Straße zu gehen, um einen der öffentlichen Bunker zu erreichen, traut sie sich nicht: Dort wütet immer noch der Mob.
Osamas Mutter schaltet sich dazu. Sie lebt in einem palästinensischen Dorf im Norden Haifas. Ganz allein in einem Haus, angrenzend an ein jüdisches Kibbuz fühlt sie sich nicht mehr sicher: „Ganz ehrlich: Ich habe das erste Mal in meinem Leben Angst. Was, wenn sie das Haus angreifen?“, sagt Osamas Mutter. Wir beschließen, dass Osamas Schwester trotz Straßensperren früh am nächsten Morgen ins Dorf fährt.
Bürgerkriegsähnliche Bilder
In den israelischen Hauptnachrichten wird inzwischen live gezeigt, wie in Bat Yam ebenfalls ein Mob der „La Familia“ einen Palästinenser auf offener Straße bis zur Bewusstlosigkeit prügelt. Anschließend geht in Akko das Restaurant des bekannten jüdischen Kochs Uri Buri in Flammen auf. Mir fehlen inzwischen die Worte. Nur ein Begriff schießt mir durch den Kopf: Bürgerkrieg.
Aus der Ferne betrachtet sind die Bilder unglaublich surreal. Sie erinnern an eine längst vergangene Zeit, die Zeit der ersten und zweiten Intifada. Haifa, mein Haifa, den Ort, an dem ich lebe, erkenne ich nicht wieder.
Es ist eine gewaltige Kraft, die sich da gerade auf den Straßen im Land entlädt. Eine hasserfüllte Kraft, die große Angst verbreitet. Insbesondere in einer Zeit, in der es – Israel steht kurz nach den Wahlen und hat es noch nicht geschafft, eine neue Regierungskoalition zu bilden – keine stabile Regierung, keinen klaren Ansprechpartner gibt. Eine Angst, die über lange Zeit gewachsen ist. Geschürt von faschistischen Parolen rechter Politiker:innen auf beiden Seiten. In Israel untermauert durch ein 2018 erlassenes Nationalstaatsgesetz, das sich klar gegen die palästinensische Minderheit im Land richtet. Ein solcher Hass, der tiefe Wunden in die Stadt Haifa reißt und offenbart: Die Idee einer Ko-Existenz, eines friedlichen Miteinanders ist gescheitert.
Es ist schwer einzuschätzen, wie es in den nächsten Tagen weitergeht. Klar ist aber: Es ist etwas zerbrochen. Das zu heilen, die Angst und die Traumata zu überwinden, wird nach der Corona-Pandemie die neue große Aufgabe aller Bürger:innen Israels sein. Wir schauen mit gemischten Gefühlen unserer Rückkehr entgegen, in eine Stadt, in der nichts mehr ist, wie es war.