Heute startet das Verfahren gegen Selahattin Demirtaş, Ko-Vorsitzender der türkischen Parlamentspartei HDP. Die Vorwürfe gegen ihn sind kafkaesk, er soll nie wieder frei kommen.
Am 4. November 2016 wurde Selahattin Demirtaş und eine Reihe weiterer Abgeordneter der HDP in einer Nacht und Nebel Aktion von der türkischen Polizei festgenommen. Heute, am Donnerstag, den 7. Dezember, fast 400 Tage nach seiner Inhaftierung, steht er wegen «Mitgliedschaft in einer Terrororganisation» vor Gericht. Bis zu 142 Jahre soll der linke Politiker ins Gefängnis, wenn es nach dem Willen der türkischen Staatsanwaltschaft geht.
Doch einen fairen Prozess hat er nicht zu erwarten, genau wie all die anderen tausenden kurdischen und linken Politiker*innen und Aktivist*innen, die seit Monaten und Jahren in türkischen Gefängnissen eingesperrt sind. Im Falle Demirtaş‘ wurde nur drei Tage vor Prozessbeginn einfach der Ort des Verfahrens geändert und ins Innere des Sincan-Gefängnisses verlegt.
Faire Verteidigung wird unmöglich gemacht
Anstatt im Justizgebäude im Herzen Ankaras, findet der Prozess nun am Stadtrand statt, offiziell aus Sicherheitsgründen. Doch damit nicht genug. So wurde in dieser Woche auch noch in das Büro seines Anwalts Mehmet Emin Aktar eingebrochen. Wertgegenstände wurden nicht gestohlen, dafür aber ein Laptop mit Entwürfen der kommenden Verteidigungsrede Demirtaş‘.
Dass dies ein Zufall ist, daran glaubt in der Türkei niemand. Auch dass der kurdische Politiker nicht persönlich am Prozess teilnehmen kann, stellt eine massive Einschränkung des Rechts auf eine faire Verteidigung dar. Das Gericht hält es für ausreichend, dass er per Videostream aus seinem Gefängnis in Edirne, 700 Kilometer von Ankara entfernt, in den Saal übertragen wird. Dies lehnt Demirtaş ab. Ob dies vom Richter akzeptiert wird, ist unklar. Die inhaftierte HDP-Abgeordnete Selma Irmak wurde zum Beispiel Ende November mit Zwang in das Übertragungszimmer ihres Gefängnisses in der Nähe von Istanbul gebracht.
Auch die ebenfalls inhaftierten HDP-Abgeordneten Figen Yüksekdağ und Idris Baluken haben mit unfairen Bedingungen zu kämpfen. Sie hatten ihren Verhandlungstag bereits gestern. Fahrzeuge, die HDP-Vertreter*innen als Prozessbeobachter*innen zum Gericht fahren sollten, wurden von der Polizei beschlagnahmt. Internationalen Beobachtungsdelegationen wurde untersagt, im Gerichtssaal Platz zu nehmen.
Unterstützung ist groß
Vertreter*innen von Syriza, der Französischen Kommunistischen Partei, der SPD und vielen anderen Organisationen mussten draußen bleiben. Dort durften sie nicht einmal eine Kundgebung abhalten. Denn der Gouverneur von Ankara hatte am selben Tag jegliche Solidaritätsbekundungen für Figen Yüksekdağ oder Selahattin Demirtaş verboten, weil «Teilnehmer von Terrororganisationen» zu erwarten wären, die «Aktionen gegen Bürger durchführen» könnten.
Trotzdem ist die Unterstützung groß. So unterzeichneten unter anderem Noam Chomsky, Elfriede Jelinek, Katja Kipping, Slavoj Žižek, Pablo Iglesias, Yannis Varoufakis und Dutzende weitere bekannte Persönlichkeiten einen internationalen Aufruf. Darin heißt es unter anderem:
«In der Türkei Recep Tayyip Erdoğans, ist das Jahr 2017 nicht bunt, sondern schwarz-weiß. Die Welt ist geteilt in diejenigen, die loyal zu Erdoğan sind und diejenigen, die es nicht sind. Letztere werden vom zunehmend autoritärer werden Regime als ‹Terroristen› ‹Verräter› oder ‹Feinde› gebrandmarkt. (…) Es gibt viele Formen des Widerstandes gegen diese Tyrannei – im Parlament und darüber hinaus. Das Ziel ist dabei, zu verhindern, dass die Türkei sich in eine Diktatur der Angst und Repression verwandelt. Diese politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die vom Erdoğan-Regime verfolgt werden, verdienen unseren Respekt, Unterstützung und Solidarität. Wir werden die Türkei nicht Erdoğans Tyrannei überlassen, sondern in Solidarität an der Seite aller demokratischen Kräfte in der Türkei stehen. (…) Wir verlangen die unmittelbare Freilassung der HDP-Ko-Vorsitzenden und den anderen in türkischen Gefängnissen inhaftierten Abgeordneten.»
Nur die Spitze des Eisbergs
Die Verfahren gegen bekannte Politiker*innen wie Demirtaş, Yüksekdağ und Baluken sind dabei nur die Spitze des Eisberges: Ungefähr 10.000 linke Aktivist*innen sitzen mittlerweile in den türkischen Gefängnissen. Manche wurden bereits verurteilt, bei anderen laufen die Prozesse noch. Viele der Inhaftierten kennen aber bisher nicht einmal ihre Anklageschrift.
Unterdessen sind die Vorwürfe gegen Selahattin Demirtaş kafkaesk. Wegen «Gründung und Leitung einer Terrororganisation», sowie «Propaganda» für diese und «Rühmung von Straftätern und ihren Taten» soll Demirtaş fast 150 Jahre ins Gefängnis. Eine absurd hohe Strafforderung. Doch was meint die Staatsanwaltschaft mit «Gründung einer Terrororganisation»? Die Arbeiterpartei Kurdistans wurde am 27. November 1978 in dem kleinen Dorf Fis gegründet. Demirtaş wurde im April 1973 geboren.
Wie er mit fünf Jahren bereits an der Gründungsversammlung der PKK teilgenommen haben soll, bleibt das Geheimnis der Staatsanwaltschaft. «Der Prozess» gegen ihn und all die anderen Angeklagten geht weiter, ohne dass ein Ende in Sicht wäre.
Kerem Schamberger ist politischer Aktiv und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung. Er promoviert zum kurdischen Mediensystem.
Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung der Rosa-Luxemburg-Stiftung zweitveröffentlicht. Der Originalbeitrag findet sich hier.