03.11.2018
Ausnahmezustand in Tunesien: „Auch Nostandsmaßnahmen rechtfertigen keine Menschenrechtsverletzungen“
Illustration: © inkyfada.com
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Ein neuer Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisiert Tunesiens Maßnahmen im Ausnahmezustand. Im Gespräch mit Alsharq in Tunis spricht die leitende Forscherin Fida Hammami über menschenrechtliche Auswirkungen, kafkaeske Einzelschicksale und den tunesischen Demokratisierungsprozess. Ein Interview von Maximilian Ellebrecht. 

Der Bericht Arbitrary Restrictions on Movement in Tunisia beleuchtet die menschenrechtlichen Folgen von Maßnahmen, die Tunesien im Rahmen des Ausnahmezustandes ergreift. Was sind diese sogenannten S17-Maßnahmen?

Tatsächlich mussten wir viel recherchieren, um überhaupt zu verstehen, was S17-Maßnahmen sind, denn kein uns zugängliches Rechtsdokument formuliert sie aus. Es ist eine exekutive Maßnahme, die das Innenministerium seit 2013 durchführt. Menschen, die unter diese Maßnahme gestellt werden, bekommen den S17-Code zugewiesen. Wann immer die Polizei ihre Identität überprüft, erscheint der Code im System. Üblicherweise wird er Menschen zugewiesen, die verdächtigt werden, Verbindungen zu dschihadistischen Terrorgruppen zu haben.

Was passiert mit jenen, die den S17-Code zugewiesen bekommen?

Die Betroffenen sehen sich jeder Menge Belästigungen durch die Polizei ausgesetzt. Sie werden stundenlang befragt. Diejenigen, die das Land verlassen wollen, werden häufig ohne jedwede Erklärung abgewiesen. Sie gehen mit ihrem Ticket und Visum zum Grenzübergang oder Flughafen und werden gebeten, zu warten, manchmal für Stunden. Wir haben mit Menschen gesprochen, die zwei Stunden warten mussten, andere haben zehn Stunden gewartet. Sie werden intensiv befragt und dann wird ihnen gesagt, dass sie nicht reisen dürfen.

Diesen Menschen ist also nicht bewusst, dass diese Maßnahme gegen sie verhängt wurde?

Die Betroffenen finden das nur durch Zufall heraus. Wenn sie innerhalb Tunesiens andauernd angehalten werden und immer wieder dieselben Fragen beantworten müssen, fangen sie an, die Polizisten zu fragen, warum das passiert. Manchmal haben die Polizisten ihnen dann gesagt, dass sie diesen Code haben.

Am Flughafen ist es dasselbe: Ihnen wird gesagt, dass sie unter einer „Grenzmaßnahme“ stehen. Die Leute sind dann zu dem Schluss gekommen, dass es dieselbe Maßnahme ist: S17. Die Betroffenen werden also weder darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie unter diese Maßnahme gestellt werden, noch werden sie über die Gründe informiert.

Wie viele Menschen sind von dieser Maßnahme betroffen?

Das ist sehr schwer abzuschätzen. Bisher weigert sich das Innenministerium, darüber Auskunft zu geben. Wir haben einen Antrag gestellt, um Informationen zu erhalten. Doch obwohl uns diese nach dem tunesischen Informationsfreiheitsgesetz zustehen, haben wir keine Antwort erhalten. Auch Journalist*innen haben Informationen eingefordert, sogar Parlamentarier*innen haben nachgefragt, dennoch gibt niemand Auskunft.

Den einzigen Richtwert, den wir haben, ist, dass das Innenministerium angibt, auf Grundlage von S17 seit 2013 insgesamt 29.450 Tunesier*innen davon abgehalten zu haben, in Konfliktgebiete zu reisen. Das bedeutet, dass wesentlich mehr Menschen betroffen sind. Denn diese knapp 30.000 sind ja nur jene Menschen, die überhaupt die Absicht hatten, das Land zu verlassen. Viele andere haben S17, ohne das jemals versucht zu haben.

Dennoch ist islamistischer Terrorismus für Tunesien eine sehr reale Gefahr. Seit 2015 haben Terroranschläge in Tunesien mehr als 80 Todesopfer gefordert. Zwischen 6.000 und 7.000 Tunesier*innen sollen ihr Land verlassen haben, um sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Sind Reiseverbote da nicht durchaus gerechtfertigt?

Die Maßnahme kam, als Tunesien unter starker Kritik stand, weil aus keinem anderen Land so viele Kämpfer nach Syrien, Irak und Libyen gereist sind. Das ist das Narrativ des Innenministeriums. Sie sagen, sie hätten die Pflicht, Terroranschläge innerhalb und außerhalb Tunesiens zu verhindern, und müssten Menschen davon abzuhalten, sich bewaffneten Konflikten anzuschließen. Die S17-Maßnahmen seien aktuell die einzige Möglichkeit, das zu tun.

Ist es denn nicht wichtig, sicherzustellen, dass radikale Tendenzen die junge tunesische Demokratie nicht untergraben?

Doch, das ist es absolut. Wir sagen keineswegs, dass Tunesien nicht das Recht hat in manchen Situationen, gewisse Rechte und Freiheiten einzuschränken. Das macht jeder Staat. Gleichzeitig hat jeder Staat die Verantwortung, internationales Menschenrecht zu achten. In diesem Fall fordert auch die tunesische Verfassung, dass solche Einschränkungen gesetzlicher Grundlage bedürfen und notwendig, verhältnismäßig und gerechtfertigt sein müssen. Auch Notstandsmaßnahmen zur Terrorbekämpfung rechtfertigen keine Rechtsverletzungen.

Inwiefern sind die S17-Maßnahmen menschenrechtlich problematisch?

Die offensichtliche Rechtsverletzung betrifft die Bewegungsfreiheit, insbesondere das Recht, sein Land zu verlassen, sofern dies kein gerichtlicher Beschluss untersagt oder ein solider Grund für ein Reiseverbot besteht. Eine andere Verletzung betrifft das Widerspruchsrecht, denn eigentlich hat jeder das Recht, gegen behördliche Entscheidungen vorzugehen. Die Betroffenen erhalten jedoch keine schriftliche Bestätigung darüber, dass diese Maßnahme gegen sie verhängt wurde. Sie erfahren auch nicht, welche Beweislage dieser Entscheidung zugrunde liegt. Das macht es schwierig, rechtlich gegen die Maßnahme vorzugehen.

Zudem wurden viele Menschen gedemütigt, als sie während intensiver Befragungen sehr private Fragen beantworten mussten, etwa wie sich ihre Ehefrauen kleiden oder welche Bücher sie lesen. Manchmal forderten Polizisten sie dazu auf, ihre Telefone zu entsperren, um ihre Fotos anzuschauen. All das verletzt ihr Recht auf Privatsphäre. Außerdem kommt es während der Befragungen zu Misshandlungen, einige Betroffene haben Gewalt erfahren.

Schließlich gibt es verschiedenste Menschenrechtsverletzungen, die aus der Einschränkung der Bewegungsfreiheit resultieren. Menschen kamen immer wieder zu spät zur Arbeit, weil sie ständig angehalten wurden, und verloren deswegen ihren Job. Dann gibt es das soziale Stigma, das damit einhergeht, von so einer Maßnahme betroffen zu sein. Es hat großen Einfluss auf das persönliche Leben, nicht reisen zu können. Welche Rechte das tangiert, variiert von Fall zu Fall.

Für den Report hat Amnesty International insgesamt sechzig Betroffene interviewt. Gab es eine Geschichte, die Sie besonders berührt hat?

Es gab sehr bewegende Geschichten. Einige handeln von Gewalt. Sie sind vielleicht dramatischer. Aber die Geschichte, an die ich immerzu denken muss, geht darum, wie eine S17-Maßnahme ein Leben auf ganz subtile Art und Weise zerstören kann. Ein junger Mann, den ich interviewt habe, ist Flugzeugingenieur und arbeitet an einem Flughafen, wo er Wartungsarbeiten an Flugzeugen durchführte. Um das zu tun, muss er die Sicherheitsbereiche des Flughafens betreten. Er ist achtundzwanzig Jahre alt, steht am Anfang seiner Karriere und macht seinen Beruf eigentlich leidenschaftlich gern.

Eines Tages geriet er im Eingangsbereich des Flughafens in einen Streit mit zwei Polizisten, die ihn daraufhin des religiösen Extremismus beschuldigten, auch wenn das laut Eigenaussage und meiner eigenen Dokumentation des Falls nicht stimmt. Kurz darauf wurde ihm mitgeteilt, dass er die Sicherheitsbereiche des Flughafens nicht mehr betreten dürfe.

Es hat einige Zeit gedauert, bis er verstanden hat, dass er unter die S17-Maßnahme gestellt wurde. Weil er nun nicht mehr als Flugzeugingenieur arbeiten konnte, wurde er in die Flughafenverwaltung versetzt, wo ihm nicht einmal ein Schreibtisch zugewiesen wurde. Der Mann kommt also jeden Tag zur Arbeit, wird ignoriert, kann seinen Job nicht machen, und weiß nicht, was er machen soll. Das hat ihn komplett zerstört.

Immer wieder hörte ich kafkaeske Geschichten wie diese – Menschen, die sich im Kreis drehen, nicht verstehen, was sie falsch gemacht haben, und nicht wissen, wie sie dieser Situation entrinnen können.

Können die Betroffenen denn wirklich gar nichts machen?

Einige resignieren, andere entscheiden sich, zu handeln. Üblicherweise schreiben sie an das Innenministerium und fordern, dass die Maßnahme aufgehoben wird. Ich habe niemanden getroffen, der eine Antwort erhalten hat.

Der nächste Schritt ist, zum Verwaltungsgericht zu gehen und dort Beschwerde einzureichen. Eine Beschwerde betrifft zwei Ebenen: Zum einen fordern die Betroffenen, dass die Maßnahme aufgehoben wird. Zum anderen verlangen sie, dass die Maßnahme solange ausgesetzt wird, bis eine endgültige Entscheidung vorliegt, denn üblicherweise handelt es sich um dringliche Fälle.

Gibt es bereits Entscheidungen?

Ein Urteil dazu, ob S17-Maßnahmen unrechtmäßig und verfassungswidrig sind, gibt es bisher noch nicht, weil das Verwaltungsgericht bis zu zwei oder drei Jahre braucht, um einen Fall zu bearbeiten. Es hat einige Zeit gedauert, bis sich die Fälle häuften und die Leute verstanden, worum es sich bei dieser Maßnahme eigentlich handelt. Gerichtliche Beschwerden wurden daher erst seit etwa Ende 2016 eingereicht.

Es gab aber bereits viele Entscheidungen zugunsten von Personen, die gefordert haben, die Maßnahme vorübergehend auszusetzen. Das Innenministerium setzt diese gerichtlichen Entscheidungen allerdings nicht konsequent um. Die Betroffenen rufen mich dann an und fragen: „Was nun?“ - Ich habe aber keine Antwort darauf. Uns steht kein anderer Rechtsweg zur Verfügung.

Die tunesische Verfassung gilt als sehr progressiv. Wie passen die S17-Maßnahmen in dieses Bild?

Es ist zweifellos wahr, dass Tunesien die beste Verfassung in der gesamten Region hat. Auch wenn die tunesische Verfassung nicht perfekt ist, garantiert sie grundlegende Menschenrechte. Die Herausforderung besteht darin, diesen Umstand auch tatsächlich in Gesetze und die Praxis zu übertragen. Dass es seit 2013 eine akute Sicherheitsbedrohung gibt, macht diese Herausforderung umso schwieriger.

Doch Rückschläge wie die S17-Maßnahmen sind nicht unbedingt symptomatisch für eine allgemeine Regression von Rechten und Freiheiten in Tunesien. Sie bedeuten nicht, dass Tunesien keine Fortschritte gemacht hat. Dennoch sind sie ein Missstand, der benannt und angegangen werden muss.

Was genau fordert Amnesty International?

Unsere Hauptbotschaft ist, dass alle Notstandsmaßnahmen gesetzlicher Grundlage bedürfen und notwendig, verhältnismäßig und gerechtfertigt sein müssen. Die S17-Maßnahmen sind ein Teil davon, aber im größeren Sinne betrifft das alle Maßnahmen, die im Ausnahmezustand ergriffen werden. Außerdem fordern wir, dass alle S17-Maßnahmen, die willkürlich gegen Personen verhängt wurden, aufgehoben werden, und dass für jedwede Überwachungsmaßnahme eine Rechtsgrundlage geschaffen wird, die der Öffentlichkeit zugänglich ist.

Ebenso sollte die Öffentlichkeit zumindest wissen dürfen, wie viele Menschen von dieser Maßnahme betroffen sind. Wenn Maßnahmen in intransparenter Weise ohne gesetzliche Grundlage ergriffen werden, öffnet das Missbrauch Tür und Tor – und das in einem Land, in dem Sicherheitskräfte immer noch tagtäglich ungestraft Rechtsverletzungen begehen.

Bisher hat sich die tunesische Regierung noch nicht zu Ihrem Bericht geäußert. Kann Ihre Arbeit den politischen Prozess überhaupt beeinflussen?

Wir hoffen, dass unsere Arbeit Teil eines größeren Prozesses ist, in dem Tunesien Fortschritte im Bereich der Menschenrechte macht. Ich glaube, dass das Potenzial dafür da ist. Was jedoch in diesem Fall fehlt, ist ein offener Austausch. Wir haben an vielen anderen Themen gearbeitet, bei denen es leichter war, eine Reaktion von der Regierung zu erhalten, doch dieses Mal will sich niemand äußern.

Wir haben die Regierung mehrfach kontaktiert. Wir haben die Ergebnisse unseres Berichts zusammengefasst und um eine Stellungnahme gebeten. Wir haben um Termine mit Vertretern des Innenministeriums gebeten – ohne Erfolg. Solange wir keinerlei Reaktion erhalten, ist es schwierig einzuschätzen, wie offen die Regierung dafür ist, S17-Maßnahmen zu reformieren. Trotzdem glaube ich, dass wir Tunesien zum Besseren verändern können.

Vielen Dank für das Gespräch.
 

Info: Das Interview wurde geführt, bevor sich vergangenen Montag in Tunis ein Selbstmordanschlag ereignete.

Maximilian hat in Leipzig, Amman und London Politik, Arabisch und internationale Entwicklung studiert. Er lebt in Leipzig, arbeitet mit Geflüchteten und schreibt nebenher als freier Autor. Bei dis:orient betreut er seit 2020 die Kolumne „Des:orientierungen“ und ist unter anderem Teil des Social-Media-Teams.
Redigiert von Andreas Vogl, Julia Nowecki