Widerstand gegen Israels Besetzung des Westjordanlands, ohne sich auf den Teufelskreis der Gewalt einzulassen – zwei Initiativen erklärten bei einer Alsharq-Veranstaltung, wie das geht. Ein Teilnehmer nannte Gewaltfreiheit „fast schon etwas Spirituelles“. Von Sophie Hoevelmann und Nadine Weimer.
Um den israelisch-palästinensischen Konflikt ist es in letzter Zeit medial ruhiger geworden – die Kriege in den Nachbarländern, Flüchtlingskrise und Populismus in Europa und den USA haben das langjährige mediale Dauerthema in die Kurznachrichten verdrängt. Dabei findet 2017 ein denkwürdiges Jubiläum statt: Im Sechstagekrieg 1967 eroberte Israel das Westjordanland, das seither unter israelischer Militärverwaltung steht. Seit 50 Jahren leben die Palästinenser*innen dort unter israelischer Besatzung, mit Checkpoints, Siedlungen und Baubeschränkungen, mit Erniedrigungen und Gewalt.
Alsharq e.V. nahm das Jubiläum dieses zumindest in Teilen völkerrechtswidrigen Zustands zum Anlass, die Situation in den besetzten Gebieten und die Besatzung selbst wieder stärker ins Zentrum der politischen Debatte zu rücken. Bei der Veranstaltung „Palestine and Israel – 50 years of occupation. What ways forward for non-violent Palestinian and Israeli resistance?” stellten sich zwei Initiativen vor, die sich mit friedlichen Mitteln für die Rechte der Palästinenser*innen und ein Ende der Besatzung einsetzen: Youth Against Settlements und Combatants for Peace. Die zentrale Frage des Abends lautete: Wie ist Widerstand möglich, der sich auf die Spielregeln von Gewalt und Gegengewalt nicht einlassen will?
Sharqist Christoph Sydow begrüßt die Diskutant*innen und die rund 150 Besucher*innen. Foto: Nadine Weimer
Friedlicher Widerstand in der palästinensischen Geschichte
Der ehemalige Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah, René Wildangel, lieferte zum Auftakt der Veranstaltung einen Überblick über die historischen Entwicklungen in Palästina. Wildangel machte deutlich, dass gewaltfreie Aktionen durchaus eine lange Tradition haben. Bereits in den 1920er-Jahren gab es friedliche Massenproteste, wie etwa Großkundgebungen gegen die jüdische Masseneinwanderung und einen Generalstreik. Mit der Gründung der PLO 1964 wurde der Kampf der Palästinenser*innen zunehmend von Militanz bestimmt. Besonders die Zweite Intifada war von Gewalt geprägt. Es gab und gibt jedoch zahlreiche Graswurzel-Bewegungen, die friedlichen Protest organisieren: lokale Widerstands-Komitees, das Protestcamp in Bab Elshams oder BDS (Boykott, Divestment, Sanctions) sind nur einige Beispiele von vielen. In den letzten Jahren stehe auch die PLO diesen Initiativen offener gegenüber, sagte Wildangel, weil sie das große Potential erkenne, das in ihnen steckt: die moralische Überlegenheit der Gewaltfreiheit. Für dieses Menschenrecht kämpfen auch Youth Against Settlements (YAS) und Combatants for Peace(CFP). In jeweils zwanzigminütigen Präsentationen stellten sie ihre Arbeit und Ziele dem Publikum vor.
René Wildangel ordnete den gewaltfreien Widerstand historisch ein. Foto: Nadine Weimer
„Als Palästinenserin habe ich keine Rechte in Hebron“
„Als Palästinenserin habe ich keine Rechte“, beschreibt Sundus Azzeh von YAS das Leben in ihrer Heimatstadt Hebron. Hebron liegt im Westjordanland. Es ist eine durch die israelische Besatzung geteilte Stadt. Um zur Arbeit, zur Schule oder Universität zu gelangen, müssen Sundus Azzeh und Ayatt Jabari, ebenfalls von Youth Against Settlements, israelische Checkpoints passieren. In Hebron leben heute schätzungsweise zwischen 500 und 800 Siedler*innen, genaue Zahlen gibt es nicht. Für ihren Schutz sind ca. 1500 Soldaten durch die israelische Regierung abgestellt worden. „Ich wurde mehrfach festgenommen, beleidigt, mit Steinen oder mit Dreck beworfen”, sagt Sundus. YAS hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und an die internationale Öffentlichkeit zu bringen. Ihre Vision ist eine gewaltfreie palästinensische Massenbewegung des zivilen Ungehorsams. „Kommt nach Hebron. Zeigt Solidarität. Erzählt Freund*innen und Familie von unserer Situation und streut Informationen über Menschenrechtsverletzungen“ – mit diesem Appell richten sich Ayatt Jabari und Sundus Azzeh zum Ende ihrer Präsentation an das Publikum.
„Es gibt keine militärische Lösung. Wir sind beide hier und wir bleiben hier.“
Im Anschluss stellen Suleiman Khatib und Yoni Yahav ihre Organisation Combatants for Peace vor. Ihr Ansatz lässt sich am besten aus ihrer Lebensgeschichte erklären: Der Palästinenser Suleiman ist in der Nähe von Jerusalem aufgewachsen, mit 12-13 Jahren politisierte er sich und nahm an militanten Protesten teil. Mit 14 landete er für 10 Jahre im israelischen Gefängnis. Er nutzte die Zeit, um Englisch und Hebräisch zu lernen, andere Konflikte und die Schriften von Mahatma Gandhi und Nelson Mandela zu studieren – „revolutionary university“ nennt er das. Die Gefangenen organisierten Hungerstreiks. Am Ende seiner Haftzeit stand die Erkenntnis: „Es gibt keine militärische Lösung. Wir sind beide hier und wir bleiben hier.“ Suleiman gründete mit anderen die Combatants for Peace, eine Organisation, die nicht nur kreative Protestformen entwickelt, sondern auch ehemalige israelische und palästinensische Kämpfer*innen zusammenbringt.
Yoni Yahav (rechts) und Suleiman Khatib stellen die Arbeit von Combatants for Peace vor. Links Moderatorin Christiane Gerstetter. Foto: Nadine Weimer
Eine israelische Seite der Geschichte erzählt Yoni Yohav: Auch er ist in Jerusalem aufgewachsen, nur ein paar Kilometer von Suleimans Wohnort entfernt. Während seiner Schulzeit begann er, sich kritische Fragen zu stellen und fing an, Arabisch zu lernen. Mit seinen guten Arabischkenntnissen diente er in der Armee als Offizier im Nachrichtendienst. Danach lernte er Combatants for Peace kennen und beschloss, seine Sprachkenntnisse zu nutzen, um die Perspektive der Anderen kennen zu lernen. Heute unterrichtet er palästinensischen Student*innen Hebräisch und leitet die Jerusalemer Ortsgruppe von CFP.
In der Tatsache, dass die früheren Kämpfer Yoni und Suleiman jetzt gemeinsam friedlich gegen die Besatzung kämpfen, liegt die Radikalität von Combatants for Peace. Eine Aktion macht das besonders deutlich: Jedes Jahr zum israelischen „Tag der Erinnerung“, dem offiziellen „Gedenktag an die gefallenen israelischen Soldat*innen und Opfer des Terrorismus“, organisiert CFP ein eigenes israelisch-palästinensisches Gedenken, bei dem den Opfern und gefallenen Kämpfer*innen beider Seiten gemeinsam gedacht wird. Mittlerweile sind es Tausende, die jedes Jahr gemeinsam trauern. CFP ist in 9 Ortsgruppen aktiv, organisiert Veranstaltungen, Gesprächsrunden ehemaliger Kämpfer*innen, arbeitet mit Theater, Zirkus, Fußball und anderen kreativen Protestformen. Zum 10-jährigen Bestehen wurde die Geschichte seiner Mitstreiter*innen in einem Film dokumentiert: Disturbing The Peace – der Trailer wurde auch auf der Veranstaltung gezeigt.
„Gewaltfreiheit ist viel schwerer als Gewalt“
Im Anschluss an die Projektvorstellungen konnte das Publikum Fragen an YAS und CFP richten. Vor allem der Ansatz der Gewaltfreiheit und der Zusammenarbeit von CFP waren Reibungspunkte. Kritisch äußerte sich beispielsweise ein palästinensischer Aktivist, den es störte, dass ein Israeli gemeinsam mit einem Palästinenser auf dem Podium sitze, da sie so als gleichwertige Opfer erscheinen würden. Ein anderer Aktivist bezweifelte, dass das „Gewaltsystem Israel“ reformierbar sei und befürchtete, dass CFP zum „Whitewashing“ Israels beitrage. Yoni Yohav, der adressierte Israeli, stellte daraufhin zunächst klar, dass er sich nicht als Opfer sehe. CFP sehe seine Aufgabe gerade darin, in Israel über das Ungleichgewicht von Macht und Gewalt aufzuklären. Sein palästinensischer Kollege ergänzt: „Ich sehe mich ebenfalls nicht als Opfer. Wir reden nicht von zwei gleichen Seiten im Konflikt, wir benennen klar die Besatzung. Aber wir verweigern uns auch der Opfer-Stilisierung in unserer eigenen Community.“
Nach der Veranstaltung gab es noch Gelegenheit zur Vernetzung. Foto: Nadine Weimer
Auf die Frage nach der Reformierbarkeit und der Möglichkeit des Zusammenlebens mit Israel antwortete Ayatt Jabari von YAS: „Mit den Siedler*innen können wir nicht zusammenleben, mit Israel schon.“ Das Problem sei, dass die israelische Regierung weiterhin den Siedlungsbau unterstütze, ergänzte Sundus Azzeh. Suleiman Khatib von CFP stimmte zu, dass das „System“ in seiner jetzigen Form „gewalttätig“ sei – „Aber wir wollen nicht den Status quo bewahren. Wir wollen etwas verändern“. Sein Fazit ist: „Am Ende des Tages müssen wir zusammenleben. Weder die Israelis noch die Palästinenser*innen werden das Land verlassen“. Die einzige Lösung sei ein gemeinsamer friedlicher Kampf gegen das bestehende System.
Welches Standing hat man mit so einer Position in Palästina und Israel, will ein Student wissen. Wird ihnen der Vorwurf der „Normalisierung“ der Besatzung gemacht? Suleiman und Yoni schmunzeln. „Man verliert schon ein paar Freunde, wenn man den Feind nicht dehumanisiert.“ Aber der Hintergrund als Kämpfer, die street credibility, helfe ein bisschen – und natürlich die eigene Überzeugung. „Gewaltfreiheit ist viel schwerer als Gewalt. Man braucht viel Geduld und einen Plan. Aber es ist eine Mission, etwas geradezu Spirituelles, von dem ich überzeugt bin,“ sagt Suleiman Khatib.
Die Diskussion fand in einer sehr konstruktiven Atmosphäre statt, im Anschluss wurde in kleinen Gruppen noch weiter diskutiert. Mehr als 150 Menschen besuchten die Veranstaltung, was das große Interesse am Thema verdeutlicht. Auch wenn es keine einfachen Lösungen gibt – die Alsharq-Veranstaltung erinnerte daran, dass es viele Menschen gibt, die mit kreativen und friedlichen Protestformen Tag für Tag gegen die Besatzung ankämpfen.
Beteiligt an der Veranstaltung:
Begrüßung: Christoph Sydow – Alsharq e.V.
Einführung: René Wildangel – ehem. Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah
Diskussion: Sundus Azzeh, Ayatt Jabari – Youth Against Settlements Suleiman Khatib, Yoni Yahav – Combatants for Peace
Moderation: Christiane Gerstetter – EAPPI Netzwerk (ökumenisches Begleitprogramm in Palästina und Israel)