06.12.2023
Jeder Apfel eine Lebensgeschichte: Die Folgen des Anfal-Genozids im Film
Vier kurdische Männer stehen hinter Kisten voller roter Äpfel. Foto: „1001 Apples“
Vier kurdische Männer stehen hinter Kisten voller roter Äpfel. Foto: „1001 Apples“

Im Rahmen des Kurdischen Filmfestivals 2023 in Berlin wurde der Film „1001 Apples“ von Taha Karimi gezeigt. Er verarbeitet die Folgen des Anfal-Genozids der 1980er-Jahre im Irak, den Kampf um Anerkennung und den Schmerz der Überlebenden.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher und Filme vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Ende der 1980er-Jahre erlebte der Irak unter der Herrschaft von Saddam Hussein ein düsteres und brutales Kapitel seiner Geschichte. In einer Reihe grausamer Angriffe wurde die wehrlose kurdische Bevölkerung in den nördlichen Regionen des Landes gezielt attackiert, um die kurdischen Aufstände für mehr Autonomie in der Gegend zu unterdrücken und jegliche Unterstützung der ländlichen kurdischen Bevölkerung für diese zu eliminieren. Taha Karimi thematisiert in seinem 2013 erschienenen Film „1001 Apples“ die Vorgänge und Folgen des von der Weltgemeinschaft unbeachteten Genozids.

Der Anfal-Genozid im Nordirak

Massenhinrichtungen, Massengräber und die Zwangsumsiedlung zahlreicher Kurd:innen waren Methoden zur Auslöschung Hunderter kurdischer Dörfer mit dem letztendlichen Ziel, die Region ethnisch zu säubern und zu arabisieren. Auf dem Höhepunkt des Völkermords setzte das Regime Chemiewaffen gegen mehrere Dörfer ein – die finale Eskalation. Diese Angriffe führten zu tragischen Todesfällen Tausender kurdischer Menschen, darunter viele Kinder und Frauen.

Die genaue Opferzahl bleibt aufgrund der strengen Geheimhaltung der ethnischen Säuberung unklar. Schätzungen variieren erheblich. Die Kurdische Regionalregierung geht davon aus, dass 180.000 Opfer in den Massengräbern liegen. Die Vereinten Nationen verurteilten seinerzeit zwar die Massentötungen, aber eine Einstufung der Ereignisse als Völkermord wurde nicht vorgenommen, obwohl viele andere internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch das Verbrechen als Genozid bezeichneten.

Filmisch das Leid der Überlebenden begreifen

„1001 Apples” ist ein unabhängiger Dokumentarfilm von Taha Karimi, der kurz nach der Fertigstellung des Films bei einem Autounfall ums Leben kam. „1001 Apples” behandelt die Folgen des Völkermords, auch als Anfal-Kampagne bekannt. Karimi war selbst Teil der kurdischen Gemeinschaft. Auch wenn der Film die Überreste aus den Massengräbern zeigt, die als stille, aber eindringliche Zeugen der Brutalität dieses Genozids durch das Regime Saddam Husseins dienen, will der Film nicht lediglich das Ausmaß dieser Grausamkeiten dokumentieren. Sein Ziel ist es nicht, den Verlust zu quantifizieren oder Zahlen und Statistiken zu liefern. Stattdessen versucht er, das Leiden zu begreifen und die lähmende Trauer sichtbar zu machen, die die Herzen Tausender Trauernder bis heute umtreibt.  

Karimi ist offensichtlich darauf bedacht, nicht den Fehler zu begehen, das Leiden seines Volkes zu benutzen, um Mitleid und Trauer bei den Zuschauer:innen zu erzeugen. Es geht ihm vielmehr um Sichtbarkeit, darum, die systemischen Ungerechtigkeiten, denen sein Volk ausgesetzt war, aufzudecken und greifbar zu machen. Die internationale Gemeinschaft beachtete den Genozid kaum. Die Gräueltaten, die dem kurdischen Volk widerfuhren, sind selbst für die arabischen Nachbar:innen nichts weiter als eine vage und ferne Vorstellung.

Protagonist Faraj kämpft für Anerkennung und Gereichtigkeit

In den Eröffnungsszenen des Films lernen die Zuschauer:innen Faraj und eine kleine Gruppe von Männern kennen, die als einzige Überlebende des Anfal-Völkermords auftreten. Sie befreiten sich auf wundersame Weise aus den Massengräbern, und sie tragen sowohl physische als auch seelische Narben von den erlebten Schrecken.

Die meisten haben während des gnadenlosen Tötungsrausches schwere Verletzungen erlitten, doch gegen alle Wahrscheinlichkeiten gelang es ihnen, dem Griff des Todes zu entkommen und schließlich Zeugnis über den erlebten Schrecken abzulegen. Gemeinsam versuchen sie, ihre Geschichten zu dokumentieren und das internationale Vergessen dieses Völkermordes zu verhindern. 

Obwohl Faraj durch die Hilfe von Human Rights Watch Asyl in den Vereinigten Staaten erhält, entscheidet er sich, in den Irak zurückzukehren. Getrieben von dem unbeugsamen Wunsch, der Welt die weitgehend unbekannten Geschichten des Anfal-Völkermords zu erzählen, schließt er sich anderen Mitüberlebenden an, um eine Initiative zu starten. Mit ihren sehr einfachen und begrenzten Ressourcen arbeiten sie gemeinsam daran, ihre Öffentlichkeitskampagne zu einem ergreifenden Appell für Anerkennung und Gerechtigkeit zu machen. Auch wollen sie die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, die Saddam Hussein und sein Regierungsapparat begangen hatten.

Sie senden unzählige E-Mails an verschiedene Menschenrechtsorganisationen auf der ganzen Welt, aber alles vergeblich. Trotz der sorgfältigen Bezugnahme auf internationales Recht, erhalten sie keine Antwort von internationalen Akteur:innen. Entmutigt und verzweifelt geben sie es auf, E-Mails zu verschicken und hören stattdessen auf ihr Bauchgefühl.

Die Bedeutung der Äpfel: Eine Botschaft an arabische Nachbar:innen

Vor dem Hintergrund der atemberaubenden und rauen Berglandschaft Nordiraks erscheint Faraj in einem Lastwagen, beladen mit Äpfeln, die er an die vielen kurdischen Dörfer verteilt. Die Äpfel sollen nach einer alten kurdischen Tradition mit Nelken geschmückt und verschenkt werden. Dieser Akt symbolisiert dem Brauch zufolge Versöhnung, Freundschaft und Liebe.

Faraj und seine Gruppe bitten jede ihnen bekannte Familie, die einen Familienangehörigen verloren hat, an der Apfel-und-Nelken-Tradition teilzunehmen und den Araber:innen des Iraks die Äpfel anzubieten. Natürlich schafften es nicht alle Betroffenen, auf die arabischen Nachbar:innen zuzugehen und ihnen zu vergeben. Unzählige Familien litten unter der seit Jahrzehnten in ihnen gärenden Wut, die ihre Herzen schwer macht.

Diese Menschen brauchen Versöhnung, um sich von den chronischen und schwer ertragbaren Gefühlen zu befreien, die sie inmitten der Gleichgültigkeit ihrer arabischen Nachbar:innen weiterhin beschäftigen. Die Stille der Apathie hallt mit durchdringender Aggression wider, und der Film arbeitet eindrücklich heraus, dass Menschen ihren Verlust anerkennen und verstehen müssen, bevor sie ihn verarbeiten können.

Szenen roher und intensiver Eindringlichkeit verdeutlichen die Tiefe des Schmerzes

Auch die Kinematografie des Films ist hervorzuheben. „1001 Apples“ schafft es, mit einer Tiefe der sinnlichen Details den Geist des kurdischen Volkes zu vermitteln: die raue Berglandschaft; die mütterlichen liebevollen Hände, die die roten Äpfel mit Nelken schmücken; die lebendige traditionelle Kleidung; die Teekanne, die im Winter faul in den Lehmhäusern pfeift; das Brot, das in den Lehmöfen gebacken wird, und die klagenden Volkslieder von Müttern, deren Trauer nicht versiegt ist. All dies trägt dazu bei, der:dem Zuschauer:in diesen Menschen und die sie belastenden Gefühle, die dieser Völkermord verursachte, näher zu bringen.

In einigen verstörenden Szenen zeigt Karimi Aufnahmen von den schrecklichen Massengräbern, die mit Skeletten und verstreuten Knochen gefüllt sind. Auf diese Weise möchte er dem Publikum die vergangenen Ereignisse näherbringen, das so die Vergangenheit mit nun größerer Kenntnis reflektieren soll. Doch Karimi beendet den Film nicht an dieser Stelle. Vielmehr bemüht er sich darum, dem Leid der noch trauernden Familien und Mütter eine Stimme zu geben.

Eine Szene: Eine trauernde alte Mutter beklagt den Verlust ihres Sohnes. Ihre Augen starren ins Leere, während sie klagende Volkslieder in einer brechenden, schluchzenden Stimme ausstößt. Genau diese rohe und intensive Eindringlichkeit verdeutlicht die wahre Tiefe ihres Schmerzes.

Jeder Apfel steht für die persönliche Geschichte eines Opfers

Am Ende des Films sammelt Faraj die jetzt geschmückten Äpfel von den betroffenen Familien wieder ein; jeder ist versehen mit dem Foto eines Betrauerten: ein Sohn, eine Tochter, eine Mutter und viele andere. Faraj und seine Mitstreiter legen jeden in ein versiegeltes Glas und setzen sie im Beisein der Dorfbewohner:innen im Fluss frei. Sie wissen nur allzu gut, was mit diesen Gläsern passiert, wenn die Strömungen sie nach Bagdad – die irakische Hauptstadt – tragen. Sie möchten, dass ihre arabischen Mitbürger:innen die Gläser sehen. Um ihnen zu zeigen, dass die Opfer nicht nur eine Zahl auf einer Liste sind, dass jedes Opfer eine persönliche Geschichte und einen persönlichen Verlust repräsentiert.

Am Ende des Films treiben unzählige Gläser den Fluss hinunter, jedes geschmückt mit dem Foto eines Anfal-Opfers; jugendliche, schöne Gesichter, die einst auf dieser Erde lebten, gleiten auf der Wasseroberfläche dahin. Jedes der Gläser trägt einen liebevoll und sorgfältig geschmückten Apfel. Die Gläser wollen gesehen werden, sie sehnen sich nach Anerkennung, Versöhnung und Liebe im Angesicht oder trotz der unbeugsamen Trauer.

Noch bis 1. Januar 2024 sind alle Filme des Kurdischen Filmfestivals online verfügbar. So auch „1001 Apples von Taha Karimi.

 

 

Sidan Sayeda hat Literatur und Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel studiert. Ihr Fokus lag auf der Schnittstelle zwischen postkolonialem Erbe und Umweltverschmutzung im globalen Süden. Sie interessiert sich besonders für Menschenrechtsfragen und Umweltthemen im globalen Süden.
Redigiert von Vanessa Barisch, Jana Treffler