Das algerische Kino hat eine lange Geschichte, die sich bis zu den Anfängen des Unabhängigkeitskriegs zurückverfolgen lässt. Das staatliche Bestreben, Filme als Propagandamittel zu nutzen, stürzte es in eine bis heute anhaltende Krise.
„Geboren aus der Unabhängigkeit wird das algerische Kino stets von seiner Geschichte heimgesucht“, resümierte 2009 der britische Filmwissenschaftler Guy Austin. Dieser Satz könnte über der Cinémathèque von Algier in Stein gemeißelt sein und würde heute, fast sechzig Jahre nach der Gründung des nationalen Filmarchivs, niemandem veraltet erscheinen. Das Erbe des Unabhängigkeitskampfes bleibt wie ein versteinertes Dogma in seiner Filmografie eingemeißelt. In den 70er-Jahren war Algerien noch ein Land, das begeisterte, diverse, überraschende Filme produzierte. Es zählte über 450 Vorführsäle und 1975 bis zu 45 Millionen jährlich verkaufte Kinotickets. Auch produzierte es Filme mit weltweitem Renommee wie „Die Schlacht um Algier“ oder „Z“ von Costa-Gavras, der den Oscar als bester fremdsprachiger Film gewann. Heutzutage ist es ruhig geworden um den algerischen Film und seine ruhmreichen Tage sind weitestgehend in Vergessenheit geraten.
Kalaschnikow und Kamera
Der erste algerische Film unter künstlerischer Leitung eines Algeriers, entstand 1952. „Les Plongeurs du Désert“ (Die Wüstentaucher) von Tahar Hannache markierte den Beginn des algerischen Kinos. Filmproduktionen waren im französisch kontrollierten Algerien den Kolonialbehörden vorbehalten. Erst ab Mitte der 50er-Jahre produzierten algerische Pioniere Filme und verbanden ihre Arbeit mit der Idee der Befreiung.
In den ersten Jahren des Krieges, insbesondere während des Kongresses von Soummane 1956, einem historischen Geheimtreffen der Führung der Front de libération nationale (FLN; dt. Nationale Befreiungsfront), wurde es zum erklärten Ziel, neben dem Militärischen auch einen „Krieg der Bilder“ zu führen. Kamera und Kalaschnikow im Anschlag sollten Filmemacher:innen die Schrecken der Kolonialherrschaft publik machen und gleichzeitig die Errungenschaften der Guerillakämpfer:innen anpreisen.
Dazu bildete sich 1957 die erste algerische Filmgruppe, die aus dem Untergrund operierte, mit dem Ziel das internationale und inländische Bild des Algerienkrieges zu beeinflussen. Die sogenannte Groupe Farid bestand vorrangig aus Algeriern wie Ali Djanaoui, Muhammad Guenez, Djamal Chanderli und Ahmad Rashidi, sowie dem antikolonialen französischen Filmemacher René Vautier. Vautier förderte viele der algerischen Filmemacher und etablierte sogar eine kleine Filmschule, die sich später „aus dem einfachen Grund, dass praktisch alle, die Teil davon waren, getötet wurden“ auflöste.
Der rebellische Film
Ebenfalls Teil dieser Bewegung und enger Mitarbeiter von René Vautier war der junge Mohammed Lakhdar-Hamina, der später einen Film mit dem Namen „Chronique des Années de Braise“ (Chronik der Jahre der Glut) inszenieren sollte, der auf den Filmfestspielen von Cannes 1975 die Goldene Palme errang und damit bis heute der einzige Film der WANA-Region blieb, der diese Auszeichnung erhielt. Lakhdar-Hamina inszenierte zusammen mit Djamal Chanderli zur Zeit des Krieges noch zwei weitere Filme. „Djazaïrouna“ (Unser Algerien) und „Yasmina“ gelten als Meilensteine des frühen algerischen Films: Bei der Uraufführung beider Filme 1960 in New York wurden sie Teil eines diplomatischen Sieges für die algerische FLN, zeitgleich mit der Verabschiedung der historischen UN-Resolution zum Recht auf Unabhängigkeit von kolonialer Herrschaft
Im Auftrag des Staates
Nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 wurde die gesamte Filmproduktion verstaatlicht. Dadurch fungierte das algerische Kino als Stütze der sich neu formenden nationalen Identität. Die Folgen für das Potenzial des algerischen Kinos waren verheerend: nicht nur wurden Filmschaffende durch ein enges System von Bürokratie, Vetternwirtschaft und Korruption gegängelt, auch die Auswahl und Bearbeitung des Materials war zukünftig staatlicher Kontrolle und Zensur ausgesetzt. Das Ergebnis war absehbar.
Die nächsten Jahrzehnte wurde die lokale Filmproduktion von einem zentralen Thema dominiert: dem Unabhängigkeitskrieg. Obwohl mit Filmen wie „L’Opium et le Bâton“ (Opium und Knüppel), „Patrouille à l’Est“ (Ostpatrouille) und „Le Vent des Aurès“ (Der Wind kommt von Aures) vielfach gelobte Filme entstanden, folgten sie alle demselben Aufbau: ein heroisches Volk, das der Besetzungsmacht Parole bietet. Es vergingen zehn Jahre, bis diese Tradition das erste Mal durchbrochen wurde.
Für ein neues Kino
Zu Beginn der 70er-Jahre wehte ein frischer Wind in der algerischen Filmlandschaft. „Le Charbonnier“ (Der Kohlenhändler) erschien 1973 und läutete ein neues Kapitel ein, das als cinema djidid (dt.: neues Kino) bekannt werden sollte. Es war ein bescheidenes neues Kino, dessen interessante Filmproduktionen sich über die 70er-Jahre erstreckten.
Als bedeutendster Film gilt der 1975 uraufgeführte „Omar Gatlato“ des Regisseurs Merzak Allouache. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mannes in der Hauptstadt Algier. Der Film wurde zum Kassenschlager: Die Jugend Algeriens konnte sich mit dem Protagonisten Omar und seinen Problemen sehr gut identifizieren. Wie sie, war auch Omar arm, lebte mit seiner gesamten Familie in einem kleinen Apartment und war gelangweilt von seinem Beruf und seiner streng nach Geschlecht getrennten Umwelt, die es ihm unmöglich machte, eine romantische Beziehung anzufangen. Der Film wurde als Befreiungsschlag vom politisch indoktrinierten Kino empfunden, das sich unermüdlich an den Helden des algerischen Widerstandes abarbeitete. Endlich wurde ein Held ins Zentrum gestellt, der die aktuellen Probleme des Lebens symbolisierte.
Filmischer Niedergang
Als der Bürgerkrieg 1991 in Algerien ausbrach, verdüsterten sich die Aussichten des algerischen Kinos. Während des in Algerien sogenannten „Schwarzen Jahrzehnts“, flohen viele Filmschaffende aus dem Land und die Kinos in den von Islamist:innen kontrollierten Gemeinden schlossen reihenweise.
In dieser Zeit gab es wenig filmische Aufarbeitung. Merzak Allouache, der Regisseur von „Omar Gatlato“, war der Einzige, der mit „Bab el-Oued City“ (Abschied von Algier) die Anfänge der Radikalisierung und der Gewalt fiktional dokumentierte, wobei er den Film teilweise unter Lebensgefahr in Algier drehte. Ihm folgte Hafsa Zinaï-Koudil mit „Le Démon au Féminin“ (dt.: Der Dämon im Weiblichen), die eine ähnliche Geschichte aus einer weiblichen Perspektive erzählte. Erst Mitte der 2000er-Jahre kam die Filmindustrie wieder einigermaßen in Gang. Doch das algerische Kino hat sich bis heute nicht von diesem Schock erholt.
Algerien in der Diaspora
Der Glanz alter Tage ist lange verflogen. Zwar produziert eine neue Generation algerischer Filmschaffender wie Hassan Ferhani, Karim Moussaoui oder Amin Sidi-Boumédiène Filme und es gibt Regisseure wie Rabah Ameur-Zaïmeche, die auf internationalen Festivals vertreten sind. Viele müssen jedoch im Ausland nach Finanzierung suchen, entweder in Frankreich oder den Golfstaaten.
Im Kino der algerischen Diaspora ist eine andere Seite Algeriens zu sehen. Es beschäftigt sich mit Frustration, Eingeschränktheit und Flucht. Es zeigt schwache, passive Heldenfiguren und ein kaputtes, dysfunktionales Algerien. Allerdings schaffen es viele dieser Filme kaum ins Inland. Die Filmfinanzierung in Algerien befindet sich nach wie vor in der Hand der Regierung, die sich auf ihr liebstes Genre konzentriert: historische Filme über Widerstand und Befreiung.
Ein Kino für die Toten
Inzwischen werden auch Perspektiven stärker hervorgehoben, die früher noch undenkbar gewesen wären, wie die von Frauen und Imazigh. Doch die Restriktionen wachsen. Im März diesen Jahres wurde ein Gesetz beschlossen, das heftige Strafen für Filmemacher:innen vorsieht, die „nationale Werte, [...] die islamische Religion, […] die Prinzipien der Revolution vom 1. November 1954“ verletzen oder „Hassrede“ verbreiten. Das „absolute Recht“ des Staates über die Art der filmischen Reproduktion und somit der Lesart des nationalen Befreiungskampfes wurde in diesem Zuge erneut bestätigt.
Heute bemüht sich die Regierung mehr als je zuvor, das Kino für ihre eigene Legitimation zu nutzen. Die Geschichte von Sieg und Widerstand soll den Herrschaftsanspruch des FLN stärken, der durch die düstere Zeit des Bürgerkriegs und die stagnierende gesellschaftliche Entwicklung in Verruf geraten ist. In einem Land, in dem knapp die Hälfte der Einwohner das dreißigste Lebensjahr noch nicht überschritten hat, schürt die hohe Jugendarbeitslosigkeit allgemeine Perspektivlosigkeit. Die zunehmende Militarisierung des Landes, die darauf aus ist, jeglichen zivilen Widerstand konsequent zu unterdrücken, verschärft das Gefühl der Ohnmacht zusätzlich. Die Glorifizierung der Vergangenheit fruchtet nur noch wenig bei einer Bevölkerung, die zum großen Teil nie Krieg erlebt hat und für die der Befreiungskampf eine verblassende Erinnerung darstellt. Es sind Filme für die Toten, die Lebenden haben andere Sorgen.