19.11.2024
Die BRD im Schatten des Algerienkriegs
Die Begriffe Algerien, Algerier:innen oder Nordafrikaner:innen tauchten in den Schlagzeilen regionaler und überregionaler westdeutscher Presse meistens in Verbindung mit Gewaltdelikten auf. Foto: Pixabay
Die Begriffe Algerien, Algerier:innen oder Nordafrikaner:innen tauchten in den Schlagzeilen regionaler und überregionaler westdeutscher Presse meistens in Verbindung mit Gewaltdelikten auf. Foto: Pixabay

Am 1. November 1954 läuteten Attentate in Algerien den Unabhängigkeitskrieg ein. Oben auf der Tagesordnung im Bundestag: Das Ende des Besatzungsstatus und die Einladung der BRD in die NATO. Wer in Bonn interessierte sich da für Algerien?

Dieser Artikel ist Teil unseres Algerien-Dossiers anlässlich des 70. Jahrestag seit Beginn des Unabhängigkeitskrieges in Algerien. Alle Artikel des Dossiers sind hier zu lesen.

Algerien; zu Beginn des Unabhängigkeitskriegs vor Ort brachten die meisten in Westdeutschland, jene offiziell als französisches Staatsgebiet geltende Kolonie ,vor allem mit massiver Hitze, Palmen und Wüste in Verbindung. Manche mögen auch an den üppigen Weinanbau und die Strandpromenade von Algier gedacht haben, vielleicht sogar an die Möglichkeit sich deutschsprachigen Siedler:innen dort anzuschließen. Für einige war Algerien auch der Standort ehemaliger SS-Soldaten, die sich bei der französischen Fremdenlegion unter neuer Identität verpflichtet hatten. Doch nicht alle in der BRD Konrad Adenauers assoziierten Algerien und Nordafrika nur als weit entfernten Raum. Viele hatten auch sehr bestimmte Vorstellungen von den Menschen, die dort lebten.

Monster? Stereotype über (Nord-) Afrikaner in der Weimarer Republik

Infolge der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg stationierte die französische Armee nach 1918 in Deutschland, vor allem im Rheinland, mehrere bewaffnete Einheiten, darunter auch Kolonialsoldaten. Dies führte an mehreren Orten zu Widerstand, der sich bald zu einer nationalen Hetzkampagne steigerte, gegen die sogenannte Schwarze Schmach. Einen wichtigen Anstoß dazu gab im April 1920 die Auseinandersetzung zwischen marokkanischen Soldaten der französischen Armee und einer Menschenmenge in Frankfurt am Main. Nach diesem Vorfall skandalisierten Regierung, Großkonzerne, wie etwa Krupp ,aber auch Vereine und Privatpersonen in unzähligen Publikationen die Präsenz der französischen Kolonialsoldaten. Just, infolge des Endes deutscher Kolonialherrschaft wurden auf diese Weise, nur wenige Monate nach dem Inkrafttreten des in vielen Kreisen als nationale Schmach aufgefassten „Schandfriedens“ von Versailles, im großen Stil kolonialistische Stereotype verbreitet. Entmenschlichende Text- und Bilddokumente markierten dabei dunkelhäutige Männer als gewaltaffine, hinterlistige und sexuell enthemmte Kreaturen, deren Präsenz insbesondere für deutsche Frauen und Kinder als existenzielle Bedrohung aufzufassen sei. Dieses rassistische Narrativ umfasste auch Männer nordafrikanischer Herkunft, die einen bedeutenden Anteil der damals mindestens 14.000 in Deutschland stationierten Kolonialsoldaten stellten.

„Flüchtlinge“? Repression gegen Algerier:innen in Frankreich

Im Zuge des algerischen Unabhängigkeitskriegs wurde die Wahrnehmung von Nordafrikaner:innen und besonders Algerier:innen in Westdeutschland aktualisiert. Dies geschah vor allem infolge algerischer Zuwanderung nach Deutschland und im Zeichen des im Nachbarland wütenden Kolonialkriegs.

In Frankreich lebten zu Beginn des Algerienkriegs etwa 300.000 Algerier:innen, die aufgrund der kolonialen Doktrin „l’Algérie, c’est la France“ (dt.: Algerien ist Frankreich) offiziell als vollwertige französische Staatsbürger:innen galten. Ungeachtet dessen erfuhren viele in Frankreich lange vor 1954 massive Diskriminierungen seitens der Gerichte, durch Polizei und Gendarmerie, auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt und nicht zuletzt durch viele Medien. Dies erreichte mit dem Ausbruch des Unabhängigkeitskriegs ein völlig neues Ausmaß

Während die französische Armee in Algerien wahre Massaker an der Zivilbevölkerung verübte, Folter als gängigen Teil von Verhören etablierte und in einer späteren Phase auch riesige Internierungslager betrieb, wurden Algerier:innen auch in Frankreich unter den Generalverdacht gestellt, in den Diensten der antikolonialen Organisationen Front de libération nationale (FLN; dt. Nationale Befreiungsfront) und Mouvement national algérien (MNA; dt. Algerische Nationalbewegung) zu stehen. Auch außerhalb der Kolonie wurden somit tausende ohne richterliches Urteil verhaftet und in Lager interniert. Mehrfach kam es zu ungestraften Fällen von Folter und Mord durch die französischen Ordnungskräfte. Nicht erst ab dem Massaker der Pariser Polizei an algerischen Demonstranten vom 17. Oktober 1961, sondern spätestens ab 1958 war Frankreich zu einem Polizeistaat mutiert. Es ist kein Zufall, dass genau ab diesem Jahr die Anzahl algerischer Migrant:innen in der BRD stark zunahm und der westdeutsche Staat zum wichtigsten außerafrikanischen Zufluchtsgebiet für Algerier:innen wurde. Insgesamt hielten sich während des Algerienkriegs vermutlich etwa 4.000 Algerier:innen in der BRD auf.

Störenfriede? Algerier:innen aus Sicht der BRD

Vor allem aus drei Gründen tat sich die Regierung Konrad Adenauers im Umgang mit algerischen Geflüchteten schwer. Erstens galten die Aktivitäten algerischer Nationalist:innen als Risiko für die innere Sicherheit, da sie etwa in Hamburg oder Frankfurt am Main z. T. im großen Stil Waffen für den antikolonialen Widerstand kauften, aber auch Attentate gegen vermeintliche algerische „Verräter:innen“ durchführten, die den Unabhängigkeitskrieg nicht finanziell unterstützen wollten. Zweitens wollte Bonn durch eine zu harsche Linie gegenüber Algerier:innen, die auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung engagierten arabischen Staaten nicht verprellen und verfolgte damit sowohl außenwirtschaftliche Ziele als auch die Absicht, die DDR in der diplomatischen Isolation zu halten. Drittens sollte vermieden werden, den im Kalten Krieg so wichtigen Verbündeten aus Paris vor den Kopf zu stoßen

Diese verworrene Lage äußerte sich etwa darin, dass die offensichtliche Unterstützung der tunesischen und der marokkanischen Botschaft für algerische Aktivist:innen in der BRD weitgehend geduldet wurde. Zugleich blieb es weitgehend folgenlos, wenn französische Geheimdienstler innerhalb der BRD kaum verdeckt Anschläge auf Algerier:innen oder deutsche Waffenhändler verübten.

Schutzbedürftige? Blaue Karten statt Asyl

Je weiter der Kolonialkrieg um die Zukunft Algeriens seine Kreise zog, desto häufiger tauchten die Begriffe Algerien, Algerier:innen oder Nordafrikaner:innen in den Schlagzeilen der regionalen und überregionalen westdeutschen Presse auf, fast immer in Verbindung mit Gewaltdelikten. Abseits der solidarischen Aktivitäten etwa einiger SPD-Politiker:innen kehrten so die kolonialistisch geprägten Klischees über Nordafrikaner:innen in neuer Gestalt auf westdeutsches Terrain zurück. 

Das besondere Labeln von Nordafrikaner:innen beschränkte sich in dieser Phase aber nicht auf öffentliche Publikationen. Im Oktober 1958 führte das Bundesinnenministerium für Algerier sogar einen rechtlichen Sonderstatus ein. Es galt weiterhin die Vorgabe, sie beim Versuch des Grenzübertritts nach Möglichkeit abzuweisen. Wenn die Betroffenen jedoch einen Anspruch auf Asyl anmeldeten, sollte die Polizei ihnen fortan einen als blaue Karte bezeichneten Ersatzausweis aushändigen, verbunden mit einer dreimonatigen Aufenthaltserlaubnis. Personen, die sich nicht an die Vorgaben hielten, sollten abgeschoben werden, jedoch in einen anderen Staat als Frankreich.

Die blauen Karten dienten einer umfassenden Überwachung der Algerier:innen. Zugleich konnte Bonn so die außenpolitisch brisante Frage nach dem Anspruch algerischer Migrant:innen auf politisches Asyl umschiffen. Frankreich sollte nicht wie etwa die Staaten des Ostblocks als Hort politischer Verfolgung gebrandmarkt werden. Aufgrund der Schwierigkeiten vieler Algerier:innen in Frankreich gültige Ausweispapiere zu bekommen, sollten die blauen Karten letztendlich auch an solche Personen ausgegeben werden, die den Behörden glaubhaft versicherten, sie seien Algerier:innen.

Und heute? Die langen Schatten des Kolonialismus

Aktuell leben in der BRD etwas mehr als 25.000 algerische Staatsangehörige. Einen Sonderstatus wie zwischen 1958 und 1962 gibt es für sie nicht mehr. Dennoch konnten 2017 manche von Ihnen mindestens irritiert sein, als die rassistische Kategorie der Kölner Polizei „Nafri“ eine spezifische Perzeption von Algerier:innen durch deutsche Behörden offenbarte. Aus algerischer Sicht konnte es auch befremdlich wirken, dass 2019 eine Mehrheit im Bundestag Algerien trotz der massiven Menschenrechtsverletzungen vor Ort zum sicheren Herkunftsstaat erklärt haben. Schließlich war es 2020 verblüffend, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Algier zum „bilateralen Partner“ aufwertete, während dort auf den Straßen die Protestbewegung Hirak seit Monaten das autoritäre Regime zum Rücktritt bewegen wollte. Offenbar sind einige Wahrnehmungsmuster der Vergangenheit immer noch nicht vollständig aussortiert.

Wie schon in den Zeiten des Algerienkriegs ist es heutzutage erschreckend zu beobachten, mit welchem Publikumserfolg wieder Fluchtursachen ausgeblendet und Migrationsgeschichten verdreht werden, um unter wachsendem Applaus die Mär nationaler Ursprungsgemeinschaften neu zu erfinden. Diese politischen Theatervorstellungen sollen letztendlich dazu dienen, die Einschränkung der Grundrechte bestimmter Gruppen zu legitimieren, die als bedrohlich wahrgenommen werden. In Frankreich spielt diese Karte der rechtsextreme Rassemblement National, seit diesem Jahr stärkste Partei im Parlament, und in Deutschland die AfD. Deren rassistische und insbesondere antimuslimische Ressentiments erinnern an die dunklen Zeiten des Algerienkriegs und des Kolonialismus.  

 

 

 

Lucas Hardt ist Historiker und Autor mehrerer wissenschaftlicher Aufsätze über den algerischen Unabhängigkeitskrieg. Nach dem Abschluss seiner Dissertation war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre Marc Bloch und an der FernUniversität Hagen. Heute arbeitet Lucas als Lehrer in Leipzig.
Redigiert von Claire DT, Henriette Raddatz