30.11.2025
Feminismus in WANA: Ein Versuch Vorurteile abzubauen
Graffiti im Stadtzentrum von Tunis anlässlich der Social Media Kampagne #enazeda, die auf Tunesien bezogene #metoo Kampagne. Foto: Vanessa Barisch.
Graffiti im Stadtzentrum von Tunis anlässlich der Social Media Kampagne #enazeda, die auf Tunesien bezogene #metoo Kampagne. Foto: Vanessa Barisch.

Von tunesischem Staatsfeminismus über saudische Youtuber:innen bis zu queeren Musiker:innen in Ägypten – Claudia Mende versammelt wertvolle Perspektiven feministischer Bewegungen. Vorurteilen begegnet sie mit teils verkürzter Argumentation.

[Contentwarnung: Im Text werden Fälle von Suizid erwähnt.]

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher, Filme und andere Medien vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

„Die Lebenswelten arabischer Frauen könnten nicht unterschiedlicher sein. Doch sie haben alle eines gemeinsam: Sie wollen ein Leben in Würde führen, ohne Diskriminierungen und Einschränkungen durch Gesetze und Gesellschaft. Ihnen ist dieses Buch gewidmet“, schreibt Claudia Mende im Vorwort ihres knapp 160 Seiten langen Sachbuchs „Wir sind anders als ihr denkt – Der arabische Feminismus“, das im Frühjahr 2025 erschienen ist. Sie nimmt ihre Leser:innen mit auf eine historische Reise durch verschiedene Länder der WANA-Region. Dabei lässt sie historische Ereignisse des 20. und 21. Jahrhunderts Revue passieren. Ihr klares Ziel ist es, die im deutschsprachigen Raum existierenden Vorurteile gegenüber FLINTA* aus den Gesellschaften arabischsprachiger Länder aufzulösen.

Wie Politik und Gesellschaft sich in Feminismus einmischen 

Dabei macht sie sichtbar, wie sich politische Regime und gesellschaftliche Trends auf den Erfolg von feministischen Kampagnen auswirken: Hierzu zählen einerseits frauenfeindliche Gesetzgebungen aus Zeiten der Kolonialherrschaft, wie die Abtreibungsverbote in Ägypten und Marokko. Oder das Unterdrücken von feministischen Stimmen, die nicht auf Staatslinie sind, wie im Fall der ägyptischen Feministin und Journalistin Doria Shafik. Sie hatte mehrfach durch Hungerstreiks und öffentliche Statements politischen Druck auf den damaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser ausgeübt. 1975 stürzte sie sich aus dem Fenster ihrer Wohnung in Kairo, weil sie wegen ihres politischen Aktivismus seit 18 Jahren unter Hausarrest gestanden hatte und vereinsamt war. 

Auf der anderen Seite hebt Mende den positiven Effekt von Staatsfeminismen wie unter dem ersten tunesischen Präsidenten Habib Bourguiba hervor. Er verwirklichte direkt nach Tunesiens Unabhängigkeit grundlegende Reformen. Unter anderem schaffte er die Polygamie und den rechtlichen Vormund für Frauen ab, der in anderen Ländern der Region bis heute gesetzlich verankert ist, und legalisierte Abtreibungen bis zum dritten Schwangerschaftsmonat. Dennoch ist Bourguiba in feministischen Kreisen umstritten. Kritik richtet sich gegen sein autoritäres Aufoktroyieren, ohne an einer gesellschaftlichen Umsetzung zu arbeiten. So schrieb beispielsweise die französisch-tunesische Historikerin Sophie Bessis eine Kritik am tunesischen Staatsfeminismus nach der Unabhängigkeit. 

Einzelschicksale, die unter die Haut gehen 

Mit ihrer politischen und soziologischen Analyse zielt Mende darauf ab, dass oft dämonisierende und stereotypbehaftete Bild des Islams aufzubrechen. Sie setzt sich zudem mit islamischen Feminismen auseinander und erklärt deren Ursprünge in den 90er-Jahren. Der Kernunterschied zu säkularen feministischen Strömungen liege gemäß dem Koran in der Komplementarität. Der islamische Feminismus gehe laut Mende nicht von der Gleichberechtigung von Mann und Frau aus – eine Position, die nicht von allen islamischen Theolog:innen so geteilt wird

Neben dieser gesellschaftlichen Differenzlinie hebt Mende auch die Klassenfrage hervor: Während bis zu den Revolutionen in der WANA-Region ab 2010 Feminismus in weiten Teilen eine Elitenbewegung war, habe die feministische Bewegung im Laufe der Revolutionen gerade im nordafrikanischen Raum auch Anklang in anderen sozialen Schichten gefunden. Dabei bezieht sich Claudia Mende auf die marokkanische Soziologin Fatima Sadiqi, die zu feministischen Bewegungen forscht und feststellt, dass seit den Revolutionen neben den städtischen Oberschichtsrealitäten nun auch Kämpfe von Landarbeiter:innen, Haushälter:innen oder Migrant:innen eine Rolle spielen.

Außerdem geht Mende im Kontext der Umbrüche der 2010er-Jahre auch auf die Anerkennungskämpfe der LGBTQIA+-Community ein. Sie stellt die andauernde Verfolgung queerer Aktivist:innen heraus und geht auf das Beispiel der Band Mashrou‘ Leila, die queere Lebensrealitäten thematisierte, und der Aktivistin Sarah Hegazi ein. Hegazi schwenkte bei einem Konzert der Band 2017 in Kairo die LGBTQIA+-Flagge. Aus diesem Grund nahm die ägyptische Polizei sie fest – im Gefängnis wurde sie grausam gefoltert. Im Exil in Kanada ertrug sie die psychischen Folgen der Haft nicht mehr und nahm sich 2020 das Leben, was entscheidend zur Auflösung der Musikgruppe beitrug. Obwohl Mende sich zwar mit den Kämpfen der LGBTIQ+-Community auseinandersetzt, exkludiert sie queere Menschen durch ihre Sprache. Dass sie durchgehend von „Frauen“ spricht, vermittelt den Eindruck, die feministischen Bewegungen würden ihre Kämpfe innerhalb binärer Geschlechtsidentitäten führen. 

Unter die Haut gehen auch weitere Einzelschicksale von FLINTAs quer durch die Region, die mit unterschiedlichen Strategien ihre Rechte und Ziele verfolgen: Da ist die jordanische Sozialarbeiterin Raghda Al-Azzeh, die im ersten und einzigen Frauenhaus des Landes arbeitet. Dabei hängt sie vom Wohlwollen der Regierung ab, die sich mit der Sozialministerin Hala Bsaiso-Latouf aktuell gegen den Willen von Islamist:innen und einflussreichen Stammesführenden hinter das Frauenhaus stellt. Abseits der politischen Bühne erlebt das Haus Anfeindungen konservativ-religiöser Bevölkerungsteile und muss deshalb seine Adresse geheim halten. Für Al-Azzeh handelt es sich bei dem Frauenhaus um ein dringend benötigtes Sozialprojekt. Einige der Frauen kämen nicht nur verängstigt, sondern gar verwahrlost zu ihr, da sie nach der Flucht vor häuslicher Gewalt auf der Straße gelebt hätten.

„Frauenrechte lassen sich nicht herbeibomben.“

Wiederholt führt Mende das Argument an, dass es manchmal nicht des klassischen Aktivismus bedarf, damit sich für Frauen und ihre Lebenssituation etwas verbessert: Beispielsweise vermitteln YouTube-Kanäle wie der Reality-Kanal der saudischen Familie Essamnour andere Rollenbilder als von wahhabitischen Islamgelehrten vorgesehen. Die Videos zeigen einen liebevollen Familienvater, der seine Kinder wickelt und im Haushalt hilft. „Sicherlich sind diese Videos nicht sonderlich reflektiert, aber sie erreichen ein Massenpublikum“, schreibt Mende und argumentiert, dass Zuschauer:innen so mit Männlichkeitsbildern abseits des traditionellen Verständnisses konfrontiert werden, was Grundstein für ein gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf Care-Arbeit sein kann. 

Mendes Blick bezieht auch das Wirken Europas und der USA in WANA ein. Sie kritisiert Militärinterventionen wie in Afghanistan sowie im Irak und stellt sich gegen das Narrativ, auf diese Weise Frauenrechte zu stärken. „Frauenrechte lassen sich nicht herbeibomben. Sie müssen von innen wachsen und dieser Prozess kann von außen lediglich unterstützt werden“, kommentiert Mende und weist darauf hin, dass in Ländern wie dem Irak oder Afghanistan nach den Militäreinsätzen mehr denn je ein Rückschritt der Freiräume von Frauen zu beklagen ist. Sie kritisiert auch die fehlende internationale feministische Solidarität mit den Palästinenser:innen, besonders im aktuellen Gaza-Krieg, in dem unzählige Frauen ermordet wurden, und stellt sich gegen die Darstellung, diese als „Kollateralschäden“ hinzunehmen.

Feminismus ohne Schubladen?

Mende richtet sich explizit an eine Leserschaft, die kein großes Vorwissen mitbringt. Für diese Zielgruppe kann Mendes Perspektive einen umfangreichen Überblick über feministische Themen, Kämpfe und Errungenschaften in der WANA-Region vermitteln. 

Jedoch ist ein zentrales Argument von Mendes Buch, die Gemeinsamkeit zwischen „arabischen“ und „westlichen“ Feminist:innen aufzuzeigen. Hier eine vermeintliche Trennlinie zu ziehen, birgt die Gefahr, koloniale Zweiteilungen eher zu reproduzieren als abzubauen. Sie untergräbt einerseits die Vielfalt der feministischen Bewegungen innerhalb der Weltregionen. Andererseits stützt das Argument vermeintliche Dichotomien zwischen WANA und dem Westen, die aus einem kolonialen Narrativ einer westlichen Überlegenheit herrühren.

Wenn Mende in ihrem Buch von einer fehlenden Solidarität mit feministischen Bewegungen in WANA spricht, die sich beispielsweise im Rahmen des Genozids in Gaza offenbart, sollte sie den strukturellen Rassismus von weißem Feminismus benennen und kritisieren. Bereits der Untertitel des Buches "Der arabische Feminismus" verweist jedoch auf eine verkürzte Verallgemeinerung von über 20 verschiedenen Ländern auf eine Kultur sowie Sprache und erinnert an orientalistische Lesarten. Schließlich verkennt dieses Framing die ethnisch und sprachliche Vielfalt und verschleiert Anerkennungskämpfe, die beispielsweise die marokkanische Feministin Amina Zioual für das kulturelle Erbe der Amazigh führt.

*FLINTA steht für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, transgeschlechtliche und agender Personen

 

 

 

 

Vanessa Barisch ist Koordinatorin des Liaison Offices der Philipps-Universität Marburg in Tunesien. Sie studierte Europastudien und Internationale Migration in Passau, Rom, Lissabon und Osnabrück. Ihre wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkthemen sind vor allem Dekolonialisierung, Migration, Feminismus und Demokratie.
Redigiert von Hannah Jagemast, Nora Theisinger, Sören Lembke, Martje Abelmann