01.02.2018
Westsahara – Der vergessene Konflikt
Treffen der Polisario zum 30. Jahrestag der Befreiung westsaharischer Territorien. Foto: Jaysen Naidoo/Flickr (https://flic.kr/p/aQF6R), Lizenz: cc-by-sa 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)
Treffen der Polisario zum 30. Jahrestag der Befreiung westsaharischer Territorien. Foto: Jaysen Naidoo/Flickr (https://flic.kr/p/aQF6R), Lizenz: cc-by-sa 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)

Die Westsahara gilt oft als „letzte Kolonie Afrikas“. Ihr Kolonialherr Marokko hält verbittert an dem Wüstenland fest und zeigt wenig Interesse an einem Dialog. Der unterschwellig andauernde Konflikt hat weltweite wirtschaftliche und sicherheitspolitische Verflechtungen, die sich um einen Rohstoff drehen: Phosphat. Ein Kurzüberblick

Als im Mai 2017 südafrikanische Behörden die NM Cherry Blossom auf ihrem Weg nach Neuseeland beschlagnahmten, wurde die Welt hellhörig. Denn an Bord befanden sich 55.000 Tonnen Phosphat aus den Westsaharagebieten. Und der jahrzehntealte Konflikt um das umstrittene Territorium, der direkte Auswirkungen auf die weltweite Nahrungsmittelversorgung hat, landete wieder ganz oben auf der Tagesordnung.

Dabei leben schätzungsweise gerade einmal 500.000 Menschen auf dem Gebiet der Westsahara. Dennoch wird der langanhaltende Konflikt die Zukunft der Welt nachhaltig beeinflussen. Es geht um das seit mehr als 40 Jahren der Bevölkerung zugesprochene, aber niemals eingehaltene Recht auf Selbstbestimmung, um die Migrations- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, um die Vorherrschaft in der afrikanischen Union, und um den vielleicht wichtigsten Rohstoff der Zukunft.

Der West-Sahara Konflikt – ein historischer Überblick

Der heutige Konflikt in der Westsahara geht auf eine Teilung des Landes zwischen europäischen Kolonialmächten im Jahre 1912 zurück. Während das heutige Marokko Frankreich zugesprochen wurde, wurde das heutige Gebiet Westsahara zu Spaniens Einflussgebiet. Obwohl die koloniale Einmischung sicherlich zur aktuellen politischen Lage beigetragen hat, ist sie nicht die einzige Ursache des unterschwelligen Konfliktes.

Westsahara ist reich an Phosphat, Eisen und Fisch. Darüber hinaus bilden Sahrawis und nomadische Berber die ursprüngliche Bevölkerung Westsaharas, welche zwar den Islam angenommen haben, jedoch niemals arabisiert wurden.

Kurz nach seiner Unabhängigkeit 1957 begann das Königreich Marokko, das Gebiet der Westsahara als einen historischen Teil Marokkos für sich zu beanspruchen. Schwere Gefechte zwischen der spanischen Kolonialarmee und marokkanischen Einheiten mündeten jedoch in einer Niederlage Marokkos. Daraufhin stellten Sahrawis die spanische Herrschaft intellektuell und friedvoll in Frage. 1970 kam es erneut zu einem erfolglosen Aufstand, als dessen Folge 1973 Sahrawi-Aktivisten die „Polisario Front“ (spanisch für Frente Popular de Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro; die beiden historischen Regionen, die zusammen Westsahara formen) gründeten. Aufstände der Polisario drängten spanische Truppen rasch zurück, während gleichzeitig Francos Herrschaft in Spanien an Halt verlor. 1975 zog sich Spanien aus der Westsahara zurück und übertrug Marokko und Mauretanien die administrative Kontrolle über das Gebiet, jedoch niemals die Souveränität.    

Der  internationale Gerichtshof (ICJ) wurde 1975 zur Hilfe gezogen und urteilte, dass die Sahrawis das Recht auf Selbstbestimmung haben. Marokkos König Hassan I widersetzte sich den Forderungen des ICJ jedoch und organisierte im selben Jahr den „grünen Marsch“, bei dem sich an die 300.000 Marokkaner als Siedler nach Westsahara begaben. Eine Annektierungspolitik vergleichbar mit der Chinas in Tibet. Es folgte ein erbitterter Guerillakrieg zwischen der marokkanischen Armee und der Polisario, währenddessen Algerien zum Schutzpatron der Sahrawis wurde und begann, die Polisario mit Waffen und militärischen Beratern zu unterstützen. 1976 riefen Sahrawis die Saharan Arab Democratic Republic (SADR) aus, und konnten mit algerischer Unterstützung und im Kampf gegen die unerfahrene marokkanische Armee zahlreiche Siege erzielen.

Frankreich und die USA intervenieren

1982 waren kaum noch marokkanische Truppen im Gebiet der Westsahara, woraufhin Frankreich und die USA auf Seiten Marokkos intervenierten. Beide Länder sahen in Marokko einen wichtigen wirtschaftlichen und politischen Partner. Sie stellten Marokko Ausrüstung und Berater für Aufstandsbekämpfung und Anti-Guerillakriegsführung zur Verfügung und halfen somit, das Kriegsblatt zu wenden.

Hunderttausende Sahrawis wurden gezwungen, ins benachbarte Algerien zu fliehen, in welchem ein Großteil der Sahrawibevölkerung bis heute lebt. Um seinen Anspruch zu verfestigen, errichtete Marokko eine Mauer durch westsaharisches Territorium, welche nahezu alle bedeutsamen Rohstoffvorkommen und Siedlungen de facto Marokko zuspricht.

Dennoch erreichte die Polisario einen kleinen politischen Sieg auf internationaler Ebene: 1984 wurde die SADR in die Organisation für afrikanische Einheit aufgenommen, woraufhin Marokko aus der Union austrat. Im Jahre 1991 kam es zu einem von den Vereinten Nationen (UN) verhandelten Waffenstillstand und die UN-Friedensmission MINURSO (Mission des Nations Unies pour l'Organisation d'un Référendum au Sahara Occidental) wurde durch Resolution 690 ins Leben gerufen. MINURSO erhielt allerdings, als einzige UN-Mission weltweit, kein Mandat zur Überwachung von Menschenrechten.

Als nächster Schritt wurde den Sahrawis ein Referendum versprochen, welches allerdings niemals stattfand, da Marokko darauf bestand, dass die Siedler des grünen Marsches in dem Referendum ebenfalls abstimmen dürfen. Die Polisario lehnte dies vehement ab. Marokko bot daraufhin an, der Westsahara regionale Autonomie zu gestatten, was die Polisario ebenfalls ablehnte.

Bis heute ist der rechtliche Status der Westsahara unzureichend geklärt. 2013 wurden Forderungen in den USA laut, MINURSO ein Menschenrechtsmandat zu geben, was wiederum Marokko ablehnte. Im gleichen Jahr beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution “[...] to reach a solution which allows the Sahrawi people to exercise their right to self-determination.Im Jahr 2016 erreichten die Beziehungen zwischen Marokko und den Vereinten Nationen ihren Tiefpunkt, als das Büro des Generalsekretärs die Annexion der Westsahara als „Besatzung“ bezeichnete, woraufhin die marokkanische Regierung eine Reihe von MINURSO Mitarbeitern zu personae non gratae erklärte.

Zunehmende internationale Aufmerksamkeit

Ein Jahr später, im Juni 2017, ernannte UN-Generalsekretär Antonio Guterres den ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler zum Sonderbeauftragten für die Westsahara. Diesem obliegt nun, den Dialog zwischen Marokko und der Polisario neu zu starten, während sich der Konflikt immer weiter internationalisiert. Gründe hierfür sind sowohl zunehmende Grabenkämpfe um die Vormachtstellung auf dem afrikanischen Kontinent zwischen Marokko, Algerien, Nigeria und Südafrika, der Wunsch europäischer Länder nach guter Zusammenarbeit mit Marokko, als auch die zunehmende Bedeutung von Phosphat.

Im Dezember 2016 urteilte der Europäische Gerichtshof (ECJ), dass ein Freihandelsabkommen zwischen Marokko und der EU nicht für Exporte aus der Westsahara gilt. Trotz dieses Urteils beinhaltet eine Warenliste der EU für 2017 weiterhin Produkte aus der Westsahara – der Handel geht weiter. Das Urteil hat, wenn überhaupt, die Spaltung innerhalb der EU über die Westsahara-Frage an die Oberfläche gebracht. Die Uneinigkeit der EU spiegelt sich in deren offizieller Position wieder: Während alle EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme Frankreichs, der Niederlande, Rumäniens und Bulgariens weder die Polisario, noch die SADR, noch die Ansprüche Marokkos anerkennen, unterstützt die Gruppe um Frankreich Marokkos territoriale Ansprüche und den Vorschlag für regionale Autonomie.

Europa ist sich nicht einig

Eine Gruppe aus nordischen Staaten sowie eine wachsende Fraktion europäischer Parlamentarier setzen sich stark für ein Verbot dieser Exporte sowie für eine härtere Gangart gegenüber Marokko ein. Frankreich und Spanien auf der anderen Seite versuchen, eher gute Beziehungen mit Marokko zu pflegen. Immerhin hat sich Marokko als zuverlässiger Partner im Kampf gegen den Terrorismus sowie als effizientes Bollwerk gegen irreguläre Migration erwiesen.

Deutschland, zu guter Letzt, betreibt eine Laissez-Faire-Strategie gegenüber Marokko und der Westsahara. Obwohl die Bundesregierung sich verstärkt dafür einsetzt, dass das aufgeschobene Referendum von 1992 stattfinden soll, ist die Unterstützung hauptsächlich verbaler Natur. Dies ist nicht überraschend, gehört der Chemieindustriegigant BASF doch zu einem Abnehmer billigen westsaharischen Phosphats. Darüber hinaus tut sich Deutschland schwer, die Menschenrechtsverletzungen Marokkos anzuprangern, soll Marokko doch zum sicheren Herkunftsland erklärt werden. Offiziell heißt es:

„Staatliche Repressionsmaßnahmen gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sind nicht festzustellen."

Die gute marokkanische Hilfe beim Stoppen irregulärer Migration kommt Berlin ebenfalls politisch gelegen. Deutschland steht damit voll und ganz hinter der offiziellen EU-Position, auf niemandes Seite zu stehen und weiterhin vom Status Quo zu profitieren.

Es geht auch um die Vormacht in der Afrikanischen Union

Im Januar 2017 wurde Marokko in die afrikanische Union wiederaufgenommen. Gleichzeitig erhielt die SADR eine offizielle Einladung zum AU-EU Gipfeltreffen in Abidjan am 29. und 30. November 2017, womit sich dessen Status als Staat verfestigt hat. In den Vorbereitungen zum Gipfeltreffen wurden die Gräben in der AU deutlich: Sowohl Marokko als auch Südafrika beanspruchen für sich, eine Führungsrolle in der afrikanischen Union zu übernehmen. Südafrika hat hierbei lange historische Beziehungen mit der Polisario, welche in den 1980ern enge Kontakte zum African National Congress (ANC), der südafrikanischen Anti-Apartheidsbewegung um Nelson Mandela, unterhielt. 2004 etablierte Südafrika sogar offizielle diplomatische Beziehungen mit der SADR.

Dann, im Mai 2017, beschlagnahmten südafrikanische Behörden die NM Cherry Blossom auf ihrem Weg nach Neuseeland. An Bord befanden sich 55.000 Tonnen Phosphat aus den Westsaharagebieten. Südafrikanische Gerichte entschieden, die Klage der westsaharischen Aktivisten zuzulassen, was diese als einen enormen Schritt in Richtung Anerkennung ihres Existenzrechtes als unabhängigen Staat werteten. Die südafrikanischen Richter beriefen sich in ihrer Klage auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (ECJ).

Der Fall erlangte internationale Aufmerksamkeit, da das bevorstehende Urteil der südafrikanischen Gerichte einen Präzedenzfall in der Afrikanischen Union erzeugen könnte – es steht zur Debatte, ob marokkanische Exporte aus der Westsahara legal sind. Das Urteil könnte darüber hinaus zu einem Präzedenzfall in weiteren Commonwealth Staaten werden, welche das englische Rechtssystem nutzen.

Phosphat – das weiße Gold

Marokko und die Westsahara sind reich an Phosphat. Gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts revolutionierte die Verwendung von Düngemittel die Landwirtschaft und ermöglichte eine rapide Bevölkerungszunahme. Phosphor und Stickstoff sind dabei die wichtigsten chemischen Bestandteile moderner Düngemittel. Während Stickstoff allerdings mittels des Haber-Verfahrens direkt aus der Atmosphäre gewonnen werden kann und somit de facto endlos vorhanden ist, kann Phosphor nur in Form von Phosphat gemint werden. Weder ist es chemisch herstellbar, noch existieren zum heutigen Zeitpunkt effiziente Recycling-Technologien in der Landwirtschaft.

Schätzungen zufolge, könnten weltweit ohne Düngemittel nur die Hälfte der heutigen Menge an Nahrungsmitteln produziert werden. Gleichzeitig wird sich die Nachfrage nach Phosphat für Düngemittel aufgrund steigenden Fleischkonsums in Schwellenländern, steigender Nachfrage für Biokraftstoffe und eines sprunghaften Anstiegs der Bevölkerungszahl in Afrika bis 2050 verdoppeln.

Marokko hat ein Quasi-Monopol

Phosphatvorräte sind sowohl begrenzt als auch weltweit sehr ungleich verteilt. Nach einer Studie des United States Geological Survey (USGS) von 2016 befinden sich ungefähr 72 Prozent der globalen Phosphatreserven in Marokko und dem umstrittenen, von Marokko beanspruchten, Territorium Westsahara. Im Gebiet der Volksrepublik China liegen mit 6 Prozent die zweitgrößten Reserven weltweit. Damit besitzt Marokko eine Quasi-Monopolstellung. Zum Vergleich: Saudi-Arabien kontrolliert 22 Prozent der globalen Ölreserven, gefolgt vom Irak mit etwa 13 Prozent. Marokkos potenzielle Machtstellung ist beispiellos und könnte enorme Konsequenzen für die Nahrungsmittelversorgung von Entwicklungsländern haben.

USGS wertete außerdem aus, dass alle bekannten Phosphatreserven innerhalb des nächsten Jahrhunderts aufgebraucht werden. Im Zuge der Finanzkrise 2008 stieg der Preis für Düngemittel zeitweise um bis zu 500 Prozent. Während kommerzielle Agrarbetriebe in Industriestaaten mit dem Preisanstieg mithalten können, kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen in Vietnam, Indien, Kenia, Nepal, Nigeria, Ägypten, Pakistan und sogar Taiwan.

Marokkos Monopol auf den wertvollen Rohstoff ist jedoch umstritten, da ein Großteil marokkanischen Phosphats im Territorium der Westsahara lagert.

Das Schicksal der Bevölkerung Westsaharas wird zunehmend internationalisiert. Sicher ist, dass sowohl Überlegungen zum Phosphathandel, als auch regionale Kämpfe um Vormachtstellung, sowie die europäische Sicherheits- und Migrationspolitik das Leben der nomadischen Sahrawis grundlegend beeinflussen werden.