19.05.2015
Von Tel Aviv bis Baltimore – Proteste der äthiopischen Juden in Israel
Äthiopische Israelis blockieren aus Protest die Stadtautobahn in Tel Aviv. Foto: Lilach Daniel/Flickr (CC BY 2.0).
Äthiopische Israelis blockieren aus Protest die Stadtautobahn in Tel Aviv. Foto: Lilach Daniel/Flickr (CC BY 2.0).

Anfang Mai demonstrierten äthiopische Juden auf den Straßen Tel Avivs für ihre Gleichstellung in Israel, ein Ende des Rassismus und der Polizeigewalt. Die israelische Gesellschaft reagierte mit Unverständnis, die Sicherheitskräfte mit Vehemenz. Von Rebecca de Vries

Einige Tagen waren die Straßen der israelischen Küstenstadt Tel Aviv voller äthiopischer Demonstranten. Junge Männer und Frauen mit entschlossenen Gesichtern trugen Plakate mit wütenden Botschaften durch die Stadt. Ihre Forderungen: Gleichstellung in der israelischen Gesellschaft, ein Ende des Rassismus und der Polizeigewalt.

 Lilach Daniel/Flickr (CC BY 2.0) Massive Polizeipräsenz beim Protest der äthiopischen Israelis in Tel Aviv. Foto: Lilach Daniel/Flickr (CC BY 2.0)

Warum die äthiopischen Juden wütend sind, verstehen viele Israelis nicht. Der erste Protest dieser Art war bereits am 30. April in Jerusalem gewaltsam beendet worden. Auch in Tel Aviv war die friedliche Blockade der Stadtautobahn nur von kurzer Dauer. Danach zogen die Demonstranten weiter zum Rabinplatz, benannt nach dem Träger des Friedensnobelpreises. Auf diesem Platz, auf dem die meisten großen Demonstrationen in Israel enden, wo wenige Wochen zuvor israelische Palästinenser gegen ihre Diskriminierung protestierten, wurde nun Tränengas gegen Bürger Israels eingesetzt.

 Lilach Daniel/Flickr (CC BY 2.0). Äthiopische Israelis blockieren aus Protest die Stadtautobahn in Tel Aviv. Foto: Lilach Daniel/Flickr (CC BY 2.0).

Für die Presse sind die Proteste Ausdruck sinnloser Gewalt

Die Bilder, die in diesen Stunden entstanden, sind beängstigend. Polizisten schlagen und treten auf Demonstranten ein, preschen mit Pferden in die Menge, schießen Gummigeschosse und dutzende von Tränengaskanistern, bis der Platz so nebelig ist, dass die Menschen ihn unter Erstickungsgefahr verlassen müssen. Da all das mitten im Herzen der Stadt passierte, gab es hunderte ernsthaft Verletzte. Schockierte Beobachter standen weinend und schreiend am Rande des Geschehens.

Viele erinnerten diese Bilder an die Fernsehberichte aus Baltimore. Doch die israelische Presse, die sich hauptsächlich auf verletzte Polizisten und flaschenwerfende Demonstranten konzentrierte, stellte die Proteste in Tel Aviv als spontane Ausbrüche sinnloser Gewalt der äthiopischen Israelis dar. Nur linksliberale Zeitungen wie Haaretz machten sich die Mühe, dabei die Demonstranten selbst mit der Antwort auf die Frage “why we are angry” zu Wort kommen zu lassen. Der Tenor in der israelischen Öffentlichkeit war jedoch, dass sich die Äthiopier endlich wie normale Menschen verhalten sollten.

 Lilach Daniel, CC BY 2.0. Äthiopische Israelis protestieren in Tel Aviv gegen Polizeigewalt. Foto: Lilach Daniel, CC BY 2.0.

Protest für Gleichstellung

Von 1884 bis 1991 wurden tausende äthiopischer Juden in den Operationen Moses und Salomon aus der Landeshauptstadt Addis Abeba und aus dem Sudan nach Israel geflogen. Damals waren sie durch Kriegswirren und Hungersnöte in Gefahr und Israel entschloss sich dazu, die jüdischen Flüchtlinge zu kontaktieren und ihre Ausreise zu organisieren. Schließlich wurden sie in abenteuerlichen Nacht-und-Nebel Aktionen, ohne die Zustimmung der entsprechenden Regierungen, nach Israel ausgeflogen. Mit der Zahl der Menschen, die in den einzelnen Flugzeugen saßen, und den Kindern, die während der Operationen Salomon und Moses zur Welt gebracht wurden, wurden Rekorde gebrochen.

Diese Geschichte berichten viele Israelis immer wieder mit stolzen Gesichtern. Sie empfinden die Solidarität unter Juden als herzerwärmend, die der Staat Israel damit zur Schau trägt. Trotzdem fand die Bekundung der Solidarität Israels für viele der Neueinwanderer mit deren Ankunft oft ihr Ende. In einem Land, dass sich als europäisch geprägt empfindet, konnten viele mit der ostafrikanischen Kultur wenig anfangen. Zu den Geschichten der Rettung der Äthiopier kommen oft auch noch Anekdoten davon, wie die Neuankömmlinge Angst vor dem Wasser, das „aus der Wand kommt“, gehabt hätten. Herablassend berichten manche Israelis davon, wie Äthiopier sich bis heute angeblich nicht integrieren konnten und daher vom Staat und dem Militär besondere Hilfsmaßnahmen zugesprochen bekämen. Die strukturelle Diskriminierung und Ghettoisierung, die diese Gruppe über sich hat ergehen lassen müssen, wird dabei wenig diskutiert.

Die Geduld der äthiopischen Juden geht zu Ende

In Israel wird das als normal empfunden. Jede neue Einwanderungswelle, egal woher sie kam, hat sich den Strukturen des Landes unterordnen und seinen Platz in der Gesellschaft verdienen müssen. Auch darauf sind viele Israelis stolz: auf die harte Arbeit, der es bedarf, um in der Gesellschaft angenommen zu werden, wie zum Beispiel das Erlernen der Sprache, den Militärdienst und das Begehen nationaler Rituale. Dabei spielen Aspekte wie kulturelle Vereinbarkeit und der Bildungsstand eine große Rolle. Denn der Mythos, dass sich alle Neueinwanderer ihren Platz in der Gesellschaft verdienen müssen, spiegelt nur zum Teil die Realität. Wer heute aus den USA einwandert, kann problemlos auf Englisch arbeiten, eine Reihe von hilfreichen Netzwerken nutzen und muss sich kaum mit Stereotypen auseinandersetzen oder die Legitimität der eigenen jüdischen Idetität rechtfertigen.

Für viele der tief religiösen äthiopischen Juden ist diese Ausgrenzung sehr beleidigend. Sie haben sich ihre Kultur über Jahrhunderte erhalten und zeigen sich dem israelischen Staat gegenüber uneingeschränkt loyal. Sie gehen zum Militär, sie arbeiten, sie leben in den Gegenden des Landes, in denen sie angesiedelt wurden. Sie warten, wie alle Neueinwanderer dem Narrativ nach warten mussten. In den vergangenen Jahren hat man in Israel jedoch langsam gemerkt, dass viele der jüdischen Äthiopier nicht mehr warten wollen. Dass die Mehrheitsgesellschaft ihnen nicht die Akzeptanz entgegenbringt, die für ihre Geduld versprochen wurde.

Verwechslungen mit Flüchtlingen

Der direkte Auslöser für die Demonstrationen war ein polizeilicher Übergriff. Immer wieder wurden in den vergangenen Jahren äthiopische Juden mit Flüchtlingen aus Eritrea verwechselt. Die kleine Gruppe von etwa 50.000 afrikanischen Flüchtlingen, die zum größten Teil aus Eritrea und dem Sudan kommen, kämpft um ihre Rechte. Denn die meist christlichen und muslimischen Flüchtlinge aus (Ost-)Afrika haben in Israel einen schweren Stand. Israel hat bisher nur eine Handvoll Flüchtlinge anerkannt und viele der Asylsuchenden, die Folter und Völkermorde überlebt haben, in das offenene de-facto Gefängnis Holot in der Wüste Negev eingewiesen. Auch diese Gruppe hat für ihre Rechte auf dem Rabinplatz in Tel Aviv demonstriert und ist gescheitert. In der israelischen Öffentlichkeit werden die Flüchtlinge meist als Wirtschaftsmigranten und Vergewaltiger dargestellt. Polizeigewalt gegen Flüchtlinge aus Eritrea und dem Sudan, und Übergriffe der Bevölkerung Süd-Tel Avivs gegen diese Gruppe, sind nicht ungewöhnlich.

Durch diese Verwechslungen mit den eritreischen Flüchtlingen sind die äthiopischen Juden oft Gewalt seitens der Polizei ausgesetzt. Im Gegensatz zu eritreischen Flüchtlingen in Israel, die aufgrund vieler Gewalterfahrungen von dieser Behandlung häufig nicht mehr überrascht sind, sind die äthiopischen Juden entsetzt. Diese Behandlung entspricht nicht ihrer Erwartung des langsamen Aufgenommenwerdens in der israelischen Gesellschaft. Sie sind überrascht, dass sie nicht als Juden erkannt, sondern mit einer Gruppe, die keine Rechte hat, gleichgesetzt werden. Dass man sich nicht die Mühe macht, sie mit mehr Respekt zu behandeln.

„Wenn es euch hier nicht gefällt, geht zurück nach Afrika!”

So wie Jitzhak, ein bekannter äthiopisch-israelischer Restaurantbesitzer aus Tel Aviv. Er war mit seiner Familie auf einem Ausflug im Norden, als die Polizei sein Auto anhielt. Auch israelische Pässe und das fließende Hebräisch der Brüder konnte die Polizei nicht überzeugen: Man hielt sie für eritreische Flüchtlinge. Jitzhak und seine Brüder, die in Israel geboren wurden und beim Militär gedient hatten, sagten den Polizisten nach Stunden der Demütigungen, dass sie als Israelis Rechte hätten und nicht grundlos so behandelt werden dürften. „Wenn es euch hier nicht gefällt, geht zurück nach Afrika!”, lautete die Antwort. Aus Scham und Enttäuschung verließ Jitzhak danach tagelang nicht seine Wohnung.

So geht es vielen äthiopischen Israelis. Das Video, das die Proteste ausgelöst hat, zeigt israelische Polizisten, die einen äthiopisch-israelischen Soldaten verprügeln. In der Diskussion, die sich medial und gesellschaftlich darum entsponnen hat, geht es darum, ob man den jungen Mann als israelischen Bürger hätte erkennen müssen. Sollte es aber nicht vielmehr darum gehen, warum ein schwarzer Mann in Israel überhaupt von der Polizei verprügelt wird.

Ist die Blase Tel Aviv geplatzt?

Das sagt viel über die israelische Gesellschaft aus, in der Rassismus immer wieder aufkommt. Nur deshalb konnte dieses Video eine solche Bandbreite an Menschen motivieren, auf die Straße zu gehen, schwarz und weiß, betroffen und in Solidarität mit den Betroffenen. Natürlich wurden die Entwicklungen in den USA in den letzten Wochen von der äthiopisch-israelischen Minderheit aufmerksam verfolgt. Und natürlichen ähneln sich die gesellschaftlichen Strukturen und der Rassismus. Aber im israelischen Kontext hat sich eine ganz eigene Thematik entwickelt.

Nach den Protesten argumentierten Beobachter, dass die Blase, als die Tel Aviv oft bezeichnet wurde, weil die Stadt die Probleme des Rests des Landes angeblich nicht teile, geplatzt sei. Diese Proteste könnten der Anfang eines Aufschreis sind, den Israel nun nicht länger ignorieren kann.

 

Rebecca de Vries studierte Migrationsstudien und Nahostwissenschaft. Sie arbeitet heute als Übersetzerin, unter anderem für die Flüchtlingsinitiative ARDC, und lebt in Süd-Tel Aviv und Berlin.

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