Umm Kulthum war mehr als nur eine Sängerin – sie war die Stimme der arabischsprachigen Welt. Mit unvergleichlicher emotionaler Tiefe prägte sie die moderne arabische Musik, stärkte das nationale Bewusstsein und hinterließ ein kulturelles Erbe.
Wenn man an einem ruhigen Abend durch eine Altstadt in Westasien oder Nordafrika spaziert, hört man mit Sicherheit – weder zu laut, noch zu leise – aus Häusern oder Cafés die Klänge einer alten Aufnahme einer singenden Frau. Ihre Stimme ist unglaublich kraftvoll, klar und erhaben. Und wenn man einen Moment innehält und genauer hinhört, breitet sich der Nachklang vom Brustkorb bis zum Scheitel im Körper aus. Wenn man zudem Arabisch versteht, zaubern die Liedtexte unweigerlich ein Lächeln ins Gesicht und erinnern an das Gefühl, wenn man in den Himmel schaut und denkt: „Ich bin verliebt!“.
Diese Empfindungen sind für Millionen Araber:innen – vom Atlantik bis zum Persischen Golf - ein alltägliches Erlebnis. Obwohl es schwierig ist, Umm Kulthums Status in der arabischen Kultur genau zu definieren, lassen sich zumindest eine kurze Annäherung an ihre Biografie sowie einen Abriss der damaligen Zeit versuchen.
Ein bescheidener Anfang
Die 1904 in der ägyptischen Provinz Mansura geborene Umm Kulthum verfügte von klein auf über ein außergewöhnliches Gesangstalent und wurde darin zu Hause ausgebildet – eine Ausbildung, die sie zur besten Sängerin der arabischsprachigen Welt aller Zeiten machen sollte. Ihr Vater, ein Imam, praktizierte inschad – die Kunst, den Koran und religiöse Gedichte bei besonderen Anlässen, wie islamischen Festen oder privaten Zeremonien, beispielsweise Geburten, Hochzeiten und Beerdigungen zu rezitieren. Als er die außergewöhnliche Stimme seiner Tochter bemerkte, begann er damit, ihr sein Handwerk beizubringen. Es dauerte nicht lange bis sie neben ihm und ihrem Bruder stand und in der Öffentlichkeit inschad vortrug.
Um inschad zu beherrschen, muss man die Koranrezitation verstehen – eine komplizierte Sprachkunst, die die präzise Aussprache des Arabischen bestimmt. Da es fast so viele Rezitationsregeln wie Buchstaben im Alphabet gibt, ist die Beherrschung dieser Disziplin eine Seltenheit – selbst unter fließend arabischsprachigen Menschen. Umm Kulthum war eine der wenigen Menschen, die Koranrezitation nicht nur beherrschte, sondern sich gar darin auszeichnete.
Kairo: Aufstieg zum Ruhm
Ein Musikkomponist namens Abu el-Ila Muhammad erkannte ihr Talent sofort, als er sie zum ersten Mal bei einer öffentlichen Veranstaltung singen hörte. Im Jahr 1921, mit gerade einmal 17 Jahren, zog sie nach Kairo, wo sich die Musikszene bereits schnell entwickelte: Nachdem Muhammad Ali Pascha 1805 die Herrschaft über Ägypten von den Franzosen übernommen hatte, bauten seine Nachkommen Königshöfe im europäischen Stil, ein Opernhaus und entwickelten ein Musikstudium. Als Umm Kulthum nach Kairo kam, hatten diese Einrichtungen bereits Generationen von Sänger:innen und Komponist:innen hervorgebracht, und in vielen kleineren Theatern und Musiklokalen hatte sich eine Kultur entwickelt, die aufstrebenden Sänger:innen und Musiker:innen eine Bühne bot. Es wird angenommen, dass Umm Kulthums erstes Konzert in Kairo 1923 an einem solchen Ort stattfand.
Unter ihren Liedern aus den 1920er-Jahren ragen einige heraus, wie beispielsweise Ifrah Ya Albi (dt.: Freue dich, mein Herz), das einen Hauch von andalusischer Sufi-Melodie hat. Ihre Popularität stiegt schnell an, 1935 trat sie schließlich im Opernhaus auf. Von da an wurde sie zum regelmäßigen Gast der ägyptischen Königsfamilie und der Elite von Kairo. Zu ihren Konzerten strömten Bürger:innen aus ganz Ägypten, nachdem ihre Lieder durch das Radio und die ein Jahrzehnt zuvor eingeführten Schallplatten populär geworden waren.
Ende der 1930er-Jahre war Umm Kulthum unangefochten die bedeutendste Sängerin Ägyptens. Dichter und Musikkomponisten aus Ägypten und der gesamten arabischsprachigen Welt wetteiferten darum, Lieder für sie schreiben zu dürfen. Komponisten schrieben auch Musik zu alten Gedichten, die sie singen sollte; das bekannteste dieser Werke war Ruba'iyat al-Khayyam (dt.: Quartette von Khaiyam). Hierfür arbeitete der Komponist Riyad al-Sunbati mit dem zeitgenössischen Dichter Ahmad Rami zusammen. Sie komponierten ein Lied aus Gedichten des Sufi-Dichters Omar al-Khaiyam aus dem 11. bis 12. Jahrhundert, der Rumi nahe stand. Dieser Wettstreit zwischen Dichter und Komponist führte dazu, dass jedes Lied eine große musikalische Leistung darstellte, die mit den Werken europäischer klassischer Komponisten vergleichbar war. Zu Beginn der 1950er-Jahre, befand sich Umm Kulthum bereits auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, aber es sollte noch mehr folgen.
Politik: Ihre Rolle für der Bildung einer nationalen Identität
Im Jahr 1952, als die Monarchie in Ägypten durch die Revolution der Freien Offiziere gestürzt wurde, wurde Gamal Abdel Nasser Präsident. Als er bemerkte, dass das staatliche Radio keine Lieder von Umm Kulthum mehr sendete, rief er die Radiobehörde an, die es für unangemessen hielt, die Lieder der beliebten Sängerin zu senden. Nassers Antwort: „Gut, dann schicke ich Ihnen heute eine Truppe, und Sie können die Pyramiden abreißen!“, bedeutete, dass ein Sendeverbot für Umm Kulthum ebenso absurd wäre wie der Abriss der Pyramiden. Umm Kulthum wurde später der Titel „Ägyptens vierte Pyramide“ verliehen.
Sie wurde nun von dem neuen Regime gefeiert. Daraufhin lud Nasser sie und Muhammad Abdulwahab, eine weitere Größe des ägyptischen Gesangs und der Musik, ein und bat sie, ein gemeinsames Lieg aufzunehmen. Das Ergebnis ihrer Zusammenarbeit war das Lied Enta Omri, (dt.: Du bist mein Leben). Das Lied ist nur die Einleitung des Originalsongs, eines 58 Minuten langen Werks von absoluter Brillanz. Solch lange Lieder waren das Markenzeichen von Umm Kulthum.
Sie ließ für einen Moment sogar Nasser und Großbritannien ihre Feindseligkeit vergessen. Im Jahr 1954 musste sie aus dringenden gesundheitlichen Gründen in den Libanon reisen. Aufgrund eines ungewöhnlich starken Schneesturms konnten keine kommerziellen Flugzeuge auf dem Flughafen von Beirut landen. Schnell und unbürokratisch wurde ein britisches Militärflugzeug organisiert, das von Jordanien nach Ägypten flog, um Umm Kulthum zu ihrem Arzttermin nach Beirut zu bringen.
Internationale Bedeutung
1966 reiste der Besitzer des Pariser Olympia-Theaters, Bruno Coquatrix, nach Ägypten und schloss mit Umm Kulthum einen Vertrag über zwei Konzerte im Oktober 1967 ab. Als diese Nachricht die arabischsprachige Community in Europa erreichte, riefen die Leute pausenlos an, um Karten zu buchen. Das französische Publikum, das sich von der Begeisterung anstecken ließ, kaufte ebenfalls 20 Prozent der Karten. Die Kartenpreise auf dem Schwarzmarkt erreichten 300 Francs (entsprechen heute 449 Euro), und Coquatrix musste anfangen, Stehplatzkarten für etwa 60 Francs (entsprechen heute 80 Euro) zu verkaufen, da das Theater nur 2.200 Plätze hatte. Hiermit begann ihre internationale Karriere.
Im Juli, einige Monate vor den geplanten Konzerten, startete Israel einen Überraschungsangriff auf Ägypten und zerstörte die ägyptische Luftwaffe auf dem Rollfeld. Nur Tage später kontrollierte Israel bereits die gesamte Sinai-Halbinsel – genannt der Sechs-Tage-Krieg. Während Ägypten den Schock der totalen Niederlage erlebte, kündigte Umm Kulthum ihre One Million Tour an. Sie sang in 24 ägyptischen Städten, der Erlös sollte für den Wiederaufbau der ägyptischen Armee verwendet werden. Sie leitete auch eine Goldspendenaktion, bei der über 100 Kilogramm Gold für den Staat gesammelt wurden, und gründete außerdem die Nationale Vereinigung ägyptischer Frauen zur Unterstützung der betroffenen Familien. All dies führte dazu, dass die Pariser Konzerte um einen Monat verschoben wurden, was in der arabischsprachigen Community in Frankreich für Aufregung sorgte, und ein noch größeres Medienecho hervorrief.
Als sie schließlich am Pariser Flughafen Le Bourget landete, erwarteten die Journalist:innen sie bereits. Sie erzählte Bruno Coquatrix, dass sie zunächst drei Lieder singen würde, am Ende waren es jedoch fünf. Die Menschen waren beeindruckt. Le Monde bezeichnete sie als „den Stern des Orients“. Für das zweite Konzert wurden ebenfalls Stehplatzkarten in den Gängen vor dem Theater verkauft. Im Publikum versammelten sich an diesem Abend arabischsprachige Gastarbeiter:innen genauso wie bekannte Filmstars, Botschafter:innen und sogar der König Hussein von Jordanien.
Ein Teil des Zaubers ihres Gesangs sind die sich wiederholenden Teile der Lieder. Einmal, und dann noch einmal, und noch einmal, wobei die Strophe jedes Mal nur leicht verändert wird. Die Zuhörer:innen verfielen beim Zuhören in einen trans-ähnlichen Zustand, der tarab genannt wird, und warteten darauf, von diesen Veränderungen überrascht zu werden. Tarab beschreibt den Zustand der ekstatischen Freude beim Hören von Musik. Auch das französische Publikum genoss die Musik, ohne den Text zu verstehen.
Kulturelle Resonanz und ewiges Erbe: Umm Kulthum als Stimme der arabischen Identität
Im September 1970 starb Nasser. Umm Kulthum verfiel in Depressionen, sang aber bis zu ihrem eigenen Tod im Jahr 1975 weiter. Bei ihrer Beerdigung trugen vier Millionen Ägypter:innen ihren Sarg und zogen mit ihm stundenlang durch Kairo, bevor sie ihn zum Familiengrab im Mausoleum des Imam al-Shafi'i brachten.
Umm Kulthum war nicht nur eine Sängerin, sie war ein kulturelles Phänomen. Fünf Jahrzehnte später gibt es keine arabischsprachige Sängerin, die auch nur annähernd an ihren Status heranreicht. Ihre Stimme wurde zu einer verbindenden Kraft in der gesamten arabischsprachigen Welt. Ihre Lieder rührten die kollektive Psyche, indem Umm Kulthum Themen wie Liebe, Sehnsucht, Patriotismus und Widerstandskraft zum Ausdruck brachte, die beim Publikum von Casablanca bis Bagdad Anklang fanden. Ihr künstlerisches Schaffen ging somit über die Musik hinaus und symbolisierte eine arabische Identität, die tief in der gemeinsamen Sprache, Geschichte und im emotionalen Ausdruck verwurzelt ist.
Ihre Fähigkeit, Poesie durch Musik zu veredeln, trug entscheidend zu ihrem Kultstatus bei. In Zusammenarbeit mit Dichtern wie Ahmad Rami und Komponisten wie Riyad al-Sunbati verband sie die klassische arabische Literatur mit moderner Sensibilität. Ihre Interpretation alter Werke wie Ruba'iyat al-Khayyam verwandelte alte poetische Texte in populäre kulturelle Artefakte. Diese Fähigkeit, die intellektuelle und emotionale Dimension der arabischen Kultur zu vereinen, machte sie zu einer einzigartigen Persönlichkeit, die gleichzeitig eine Form der kulturellen Bewahrung und der Erneuerung verkörperte.
Umm Kulthums Bekanntheit fiel mit bedeutenden politischen Umwälzungen in Ägypten zusammen: Mit der Revolution von 1952 und dem Aufstieg des Panarabismus unter Gamal Abdel Nasser. Ihre Unterstützung für Nasser und die ägyptische Sache – verbunden mit Begriffen wie Nationalstolz und Widerstand – machte sie zu einer kulturellen Botschafterin und einem Symbol der Widerstandsfähigkeit in einer turbulenten Zeit. Ihre Auftritte schufen Momente des tarab, die Sprachbarrieren und soziale Gräben überwanden. Auch Jahrzehnte nach ihrem Tod sind ihre Lieder ein Zeugnis des gemeinsamen kulturellen Erbes und eine Erinnerung an Zeiten, in der die Kunst sowohl als Zufluchtsort als auch als Aufforderung zur Einheit diente.