12.05.2024
„Bittere Sonne“, bittere banlieues, bittere Leben
Allegorisches Bild eines Hochhauses einer cité. Foto: Antoine K./flickr
Allegorisches Bild eines Hochhauses einer cité. Foto: Antoine K./flickr

Trauer, Vergewaltigung, häusliche Gewalt, Zwangsheirat, Weglaufen, Drogensucht, AIDS. Keines dieser Worte kommt im Roman „Bittere Sonne vor, und doch werden alle thematisiert. Anfang 2024 erschien der Roman nun auf Deutsch.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher, Filme und andere Medien vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

In „Bittere Sonne“ erzählt Lilia Hassaine die Geschichte einer algerischen Familie, die in einen Vorort von Paris, eine sogenannte banlieue, zieht. Sie beschreibt den Alltag dieser Familie, die Höhen aber vor allem auch die Tiefen ihres Lebens. Hassaines Stil ist roh, neutral, ohne Mitleid, ohne Vorwarnungen und an einigen Stellen ein wenig brutal. Die Kernaussage des Buches scheint zu sein, dass das Leben immer weitergeht, ohne Zeit zum Jammern oder zum Hinterfragen zu lassen, ohne Aufklärung.

Im französischen Original erschien das Buch der Journalistin und Kolumnistin für TV-Formate Hassaine bereits im August 2021 – und schaffte es im selben Jahr in die Vorauswahl des Prix Goncourt, dem bedeutendsten Literaturpreis Frankreichs. Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt – drei Abschnitte für drei Jahrzehnte.

Die 1960er-Jahre

Die Geschichte startet in den 60er-Jahren, zwei Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg Algeriens. Nadscha (original Naja) fährt mit ihren drei Kindern, Maryam, Sonia und Nour, nach Paris, um dort gemeinsam mit Saïd, ihr Ehemann und Vater ihrer Kinder, zu leben. Fünf Jahre sind bereits vergangen, seitdem sie ihn zum letzten Mal gesehen hatten. Zusammen zieht die Familie in eines der Hochhäuser in einer der banlieues ein. Neun Monate später gebärt Nadscha Zwillinge. Sie und ihr Mann behalten nur einen der Jungen, Amir. Der andere wird zum Sohn ihrer Schwägerin Ève gebracht, einer Französin, die mit Saïds Bruder Kader verheiratet ist. Sie nennen das Kind Daniel. Die Zwillinge werden nie erfahren, dass sie Geschwister sind – das Geheimnis verfolgt die ganze Familie über Generationen hinweg.

Früher glichen die banlieues noch eher Slums, dort wohnten die Gastarbeiter:innen und Zuwanderer:innen. Doch in den 1960-er Jahren wandelt sich das Stadtbild: Die hohen Gebäude der banlieues, wie Pilze aus dem Boden geschossen, sind etwas Neues, fast etwas Luxuriöses. Sie sehen einladend und voller Leben aus. Brunnen spucken Wasser und grüne Bäume Sauerstoff aus, Blumenbeete färben die Böden bunt. Die banlieues werden zu einem Ort des Zusammenlebens, einem Ort, an dem alle Kulturen und Milieus sich vermischen. 

Die Familien, in denen Daniel und Amir aufwachsen, treffen sich oft. Die Zwillinge verstehen sich gut, spielen zusammen und ihre Persönlichkeiten ergänzen sich – doch das Geheimnis bleibt. Nadschas älteste Tochter, Maryam, verschwindet aus dem Alltag der Familie. Und das Leben in ihrer banlieue geht einfach ohne sie weiter. 

Die 1970er-Jahre

Das Leben der Zuwanderer:innen-Familie nimmt seinen Lauf. Die Kinder werden älter und gehen auf das Gymnasium vor Ort. Sonia, die zweite Tochter sucht Arbeit, bleibt aber wie Millionen anderer Zuwanderer:innen-Kinder arbeitslos. Nour beginnt zu rebellieren und fängt an zu rauchen. Die Zwillinge Amir und Daniel verstehen sich nach wie vor gut, Amir macht Daniels Hausaufgaben und Daniel beschützt Amir vor seinen Schulkameraden. Das Geheimnis bleibt bestehen, die Strukturen beider Familien vermischen sich, trennen sich und kommen wieder zusammen.

Die Ölpreiskrise 1973 im Zuge des israelisch-palästinensischen Konflikts schwächt Frankreichs Wirtschaft stark und trifft besonders die, die bereits am wenigsten besitzen. Die von der Energiekrise ausgelöste Inflationswelle verändert die banlieues: Der neue französische Präsident, Valéry Giscard d’Estaing, priorisiert Einfamilienhäuser, die Sozialwohnungen in den banlieues interessieren schnell niemanden mehr – mit verheerenden Konsequenzen für die dort lebenden Zuwanderer:innen. Der Staat zahlt nicht mehr, das Freizeitzentrum für Kinder muss schließen und niemand kümmert sich um die Wartung der Gebäude. Auch die Bäume des kleinen Waldes verschwinden, an deren Stelle wird ein weiteres Hochhaus gebaut. Die sonst so bunten, lebensfrohen banlieues werden langsam grau. 

Ève geht und kommt verändert zurück. Nour, die jüngste Tochter, wird 18. Auch sie verlässt ihr Zuhause, kehrt jedoch nie wieder in ihre banlieue zurück. Und das Leben dort geht einfach weiter.

Die 1980er-Jahre

15 Jahre nach ihrer Ankunft in Frankreich hat sich das Familienleben deutlich verändert. Die Jungs sind mittlerweile alle älter und rebellischer geworden. Sie rauchen, konsumieren Drogen und gehen mit Freunden aus ihrem Hochhauskomplex in Paris feiern. Saïd ist nicht mehr da. Amir studiert in Paris Medizin und muss nun als verbliebenes Familienoberhaupt für seine Mutter Nadscha sorgen. Das Geheimnis besteht weiterhin.

Die Sozialwohnungen sind mittlerweile nicht mehr das, was sie noch in den 60-er Jahren waren. Alles ist heruntergekommen, die Fahrstühle funktionieren schon lange nicht mehr. Die Wände sind voller Graffiti, die Jungen sperren sich in ihren Zimmern ein, keiner ist mehr draußen. Banlieues, HLM (Sozialwohnungen), cités (Wohnsiedlung) – all diese Synonyme für den Ort, an dem sich Zuwanderer:innen wie Nadschas Familie seit vielen Jahrzehnten ein neues Leben aufbauen, sind jetzt negativ konnotiert. Und diese Veränderung bleibt nicht ohne Folgen.

Eine Krankheit bricht aus, niemand spricht darüber, niemand will es wahrhaben. Die Jugendlichen sind die ersten Opfer. Daniel verlässt die banlieues daraufhin für ein paar Jahre, Amir geht für immer. Und das Leben dort geht trotzdem weiter.

Alle gehen, Nadscha bleibt

Lilia Hassaine zieht gekonnt Parallelen zwischen der Geschichte der banlieues und dem Leben von Nadschas Familie. In den 60er-Jahren scheint Nadschas Alltag in den neuen und schönen Sozialwohnungen am Rande von Paris einigermaßen von Schicksalsschlägen verschont zu bleiben. Allerdings verfallen die Hochhäuser mit der Zeit: Zunehmend herrschen dort Elend, Verlassenheit und Gefahr. All dies betrachten die Leser:innen mit einem gewissen Abstand. Den Roman zu lesen, fühlt sich so an, wie einen Film zu schauen – ein Film ohne Ton, der nur Bilder von Alltagsszenen zeigt, ohne diese zu kommentieren oder gar einzuordnen. Die Leser:innen haben keine Zeit, wirklich zu verstehen oder zu verarbeiten, was sich dort abspielt. Die Schicksalsschläge folgen nämlich in kurzen Zeitabschnitten auf einander und die Autorin benennt diese Geschehnisse nicht explizit.

Die Figur Nadscha hingegen steckt mittendrin und weiß genau, was passiert. Sie versteht, mit welchem Unglück sie konfrontiert ist. Wer als Leser:in ihrer Geschichte folgt, bekommt zunächst den Eindruck, sie wäre die Erste, die geht, die Erste, die es nicht mehr aushält, die Erste, die aufgibt. Aber nein, sie ist die Einzige, die bleibt, die Letzte, die bleibt, denn das Leben muss für sie irgendwie weitergehen. 

Ein Portrait der Gegenwart

Die Autorin zeichnet die Realität der banlieues zwischen den 60er bis 80er-Jahren nach. Heutzutage sieht diese Realität noch schlimmer aus. Ein aktuelleres Portrait der banlieues wird in dem Film „Die Wütenden“ (fr. Les Misérables) von Ladj Ly gezeigt, der 2019 herauskam. Der Staat hat die Menschen, die dort wohnen schon lange aufgegeben und sie sich selbst überlassen. Drogen kursieren, Schüsse knallen, Polizeisirenen heulen, Kinder weinen, Menschen sterben.

Die Idee eines friedlichen Zusammenlebens aller Kulturen und Milieus der 60er-Jahre blieb eine Utopie. Die, die raus können, verlassen diesen miserablen Ort, vergessen ihn und suchen sich ein Einfamilienhaus in einer der schickeren banlieues nebenan. Die, die nicht raus können, bleiben. Und es sind immer die Gleichen, die bleiben, immer die Gleichen, die der französische Staat vergisst: Nordafrikanische Gastarbeiter:innen, geflüchtete Familien aus Subsahara-Afrika und all ihre heutigen Nachfahren.

Anders als in Deutschland gibt es in Frankreich keine Integrationspolitik: Alle, die dort geboren sind, sind Kinder der Republik, alle sind gleich – also darf niemand anders sein. Von Multikulturalismus ist keine Rede, vielmehr schlägt eine französische Auffassung des Universalismus. Und so wie Nadschas Leben Jahrzehnte lang in den banlieues unter diesen Umständen weiterging, so geht das Leben tausender Familien in den banlieues auch heute noch tagtäglich weiter.

Lilia Hassaine: Bittere Sonne, Lenos, Basel 2024. 182 Seiten, 25 Euro.

 

 

Claire studierte in Berlin, Paris, Montréal und Tel Aviv Sozialwissenschaften mit einem Schwerpunkt in Rechtswissenschaften. Sie recherchierte und arbeitete viel zu Grundrechten in Demokratien und dem israelisch-palästinensischen Konflikt. 
Redigiert von Jasmin Scholl, Nora Krause